Selten fasste ein Grand Prix den Rennfahrer Marc Marquez so gut zusammen wie jener der MotoGP am Sonntag in Austin. Und dabei sind nur am Rande seine überragende Pace, ein Sturz als Folge zu großen Risikos und eine aussichtslose Weiterfahrt mit einem schwer beschädigten Motorrad gemeint. Was die Spreu vom Weizen oder in diesem Fall das restliche MotoGP-Feld von Marc Marquez trennt, zeigte sich beim Start in den Amerika-GP.

Marc Marquez wieder einen Schritt voraus

Die Startaufstellung vor einem Rennen ist immer ein extrem angespanntes Umfeld. Am Sonntag lag aber noch eine zusätzliche Portion Brisanz in der Luft. Zuerst regnete es, später blitzte sogar kurz die Sonne durch die Wolkendecke. Während die übrigen Piloten in ihre Konzentrationsphase abtauchten oder grübelten, wie sie bei diesen Mischbedingungen die ersten Rennrunden anlegen würden, dachte Marquez im Stile eines Schach-Großmeisters wieder einmal mehrere Züge weiter.

MotoGP-Farce erklärt: Was wollte Marquez? Was sagen die Regeln? (10:13 Min.)

Er heckte den Plan aus, die Startaufstellung und sein mit Regenreifen bestücktes Motorrad kurz vor der Aufwärmrunde fluchtartig zu verlassen und auf sein Trocken-Bike in der Boxengasse zu wechseln, würden es die Streckenbedingungen erlauben beziehungsweise nötig machen. Etwa zwei Minuten bevor er das Feld aus dem Grid führen hätte sollen, setzte Marquez seinen Plan in die Tat um.

MotoGP-Rennleitung lässt Marc Marquez' Plan aufgehen

Das hätte ihm zwar eine Durchfahrtsstrafe eingebracht, doch damit beschäftigte er sich gar nicht weiter. "Ich wusste, dass mir viele Fahrer folgen werden und die Rennleitung den Start dann abbrechen muss", gestand Marquez anschließend ganz offen. Seine Strategie war zwar fehlerbehaftet und hätte bei strikter Umsetzung des Reglements eigentlich nicht aufgehen dürfen, am Ende funktionierte sie durch das entstandene Chaos und den somit durchaus vertretbaren Abbruch durch die Rennleitung aber dennoch.

Und genau das ist der Punkt. Wie kein anderer Fahrer sucht Marquez nach Lücken im Reglement und der Organisation der MotoGP. Meistens ist er damit erfolgreich, sei es durch eine absolut perfekte Strategie oder wie am Sonntag mit einer Prise Glück. Für viele Beobachter hinterlässt das einen schalen Beigeschmack. Sie machten ihrem Unmut darüber auch nach dem Austin-Chaos wieder Luft: Für Marc Marquez gäbe es ständig eine Extrawurst von der Rennleitung oder den MotoGP-Stewards. Er könne sich fast alles erlauben und komme damit durch.

Richtig ist allerdings nur der zweite Teil dieser Vorwürfe. Marc Marquez kommt mit seinen Tricks durch, aber nicht weil sein Name Marc Marquez ist. Er kommt damit durch, weil er als einziger Fahrer die Finesse und auch Brutalität besitzt, um aus jeder Situation und mit allen Mitteln maximales Kapital für sich zu schlagen. Auch jeder andere Pilot hätte am Sonntag als Erster aus der Startaufstellung flüchten können.

Gemacht hat es aber Marquez - auch, weil er wusste, dass ihm ausreichend Fahrer folgen würden, um genug Chaos für einen Abbruch zu stiften. So großartig die MotoGP-Piloten in vielerlei Hinsicht sind, neigen sie wie kaum eine andere Gattung von Rennfahrern dazu, im Zweifel immer mit der Masse zu schwimmen. Auch am Sonntag sind die Herdentiere ihrem Alphamännchen Marc Marquez wieder brav gefolgt. Kritisiert man Marquez, muss man auch sie in die Pflicht nehmen. Ebenso die Rennleitung, die zwar zurecht abgebrochen hat, mit dem Verzicht auf jegliche Strafen dennoch nicht im Sinne des Reglements und des Sports gehandelt hat. Und schließlich müssen auch die Regelmacher der MotoGP hinterfragt werden, die es trotz ähnlicher Vorkommnisse 2014 am Sachsenring und 2018 in Argentinien bis heute nicht geschafft hat, ein tragfähiges Szenario für Starts bei sich ändernden Wetterbedingungen zu schaffen.

Marc Marquez und der Sinn des Profisports

Marc Marquez ist Rennfahrer. Sein Job ist es, für sich und sein Team die bestmöglichen Ergebnisse einzufahren. Nicht mehr und nicht weniger. Ob man sein Verhalten in gewissen Situationen richtig oder falsch findet, hängt davon ab, was man von Profisport erwartet. Wünscht man sich einen vornehmen Wettstreit unter ehrenwerten Herren oder Damen, dann wird man von Marc Marquez enttäuscht sein. Der große Schriftsteller George Orwell hielt aber schon vor 80 Jahren in seinem Essay 'The Sporting Spirit' fest, dass man solche moralischen Maßstäbe für professionelle Wettkämpfe nicht anlegen dürfte: "Ernsthafter Sport hat nichts mit Fair Play zu tun. Er ist verbunden mit Hass, Eifersucht, Prahlerei, Missachtung aller Regeln und sadistischer Freude an der Gewalt: mit anderen Worten, es ist Krieg ohne Schießen." Und im Krieg und der Liebe ist bekanntlich alles erlaubt. Das soll Napoleon gesagt haben. Andere glauben, es war Cicero. Folgendes Zitat stammt auf jeden Fall von Marc Marquez: "Ich sehe mich als normale Person, aber auf der Strecke bin ich eine Drecksau."