Die MotoGP durfte sich 2023 über einen packenden WM-Showdown zwischen Francesco Bagnaia und Jorge Martin freuen. Erst am letzten Rennsonntag des Jahres in Valencia fiel die Entscheidung im Titelrennen. Die finalen Wochen der abgelaufenen Saison wurden aber auch von einem faden Beigeschmack im Bereich der Reifen begleitet.

"Es war eine ruhige Saison, die turbulent geendet ist", analysiert Michelin-Motorradsportchef Piero Taramasso im Gespräch mit der 'Gazzetta dello Sport'. "Dazu haben wohl mehrere Faktoren beigetragen: Der Stress des Titelkampfes, der offene Fahrermarkt, die Reifendruckregelung und die Einführung der Sprints, die eine zusätzliche nervliche Belastung dargestellt hat. In Katar hat dann Jorges Performance, die nicht den Erwartungen entsprochen hat, für Kontroversen und Diskussionen gesorgt."

WM-Vorentscheidung durch Michelin! Martin hadert mit Schicksal (07:14 Min.)

Als Martin im Grand Prix von Katar völlig unterging, klagte er anschließend über einen fehlerhaften Hinterreifen und fühlte sich von Michelin um den Weltmeistertitel gebracht. Vorwürfe, die Taramasso nicht gelten lassen will: "Wir haben den Fertigungsprozess, den Transport und die gesamte Geschichte des Reifens analysiert, also ob er vor dem Einsatz schon einmal erhitzt wurde oder nicht. Für uns steht fest, dass es keine Qualitätsprobleme gab. Wenn ein Reifen nicht richtig funktioniert, dann ist das schon in der Aufwärmrunde der Fall und er macht den Fahrern bereits in der ersten Runde eine Sekunde langsamer. Bei Jorge waren die ersten sechs oder sieben Runden aber völlig in Ordnung. Es waren also Faktoren im Rennen, die zu höherem Verschleiß geführt haben und durch die er schließlich eine Sekunde langsamer war."

Zuvor äußerte bereits WM-Rivale Bagnaia Kritik an Michelin. Als er in Barcelona in Kurve zwei des Rennens per Highsider von seiner Ducati geschleudert und anschließend vom nachkommenden Brad Binder überrollt wurde, klagte auch er über ein seltsames Gefühl am Hinterrad. "Anhand der Daten, die wir mit Ducati ausgetauscht haben, konnten wir auch hier kein Problem feststellen", erklärt Taramasso.

Francesco Bagnaia hatte bei seinem Barcelona-Crash großes Glück, Foto: LAT Images
Francesco Bagnaia hatte bei seinem Barcelona-Crash großes Glück, Foto: LAT Images

Die extremen Schwankungen in der Performance, über die Fahrer immer wieder klagen, würden laut ihm nicht der Realität entsprechen: "Ich lade jeden ein - egal ob Fahrer, Techniker oder Journalist - nach Frankreich zu kommen und zu sehen, wie wir die Reifen herstellen. Wir unternehmen große Anstrengungen, um sicherzustellen, dass die Reifen richtig funktionieren. Wir wollen ja keine schlechte Publicity, sondern dass die Fahrer zufrieden sind. Die Qualität von Michelin ist besser als die der Konkurrenz. Es kann immer zu einer gewissen Streuung kommen, aber die liegt im Bereich von ein bis zwei Zehntelsekunden. Und das bei Reifen, die extrem belastet werden. So eine Abweichung bedeutet nicht, dass ein Reifen fehlerhaft ist."

Zu einer extremen Belastung wurde in der zweiten MotoGP-Saisonhälfte 2023 auch die neu eingeführte Reifendruckregel, die für eine Unterschreitung der von Michelin vorgegebenen Mindestdrücke Zeitstrafen vorsieht. Fahrer und Teams beklagten, dass es beinahe unmöglich sei, die Druckentwicklung im Laufe des Rennens vor dem Start korrekt einzuschätzen. "Das war aus Sicherheitsgründen notwendig", verteidigt Taramasso die Regelung. "Eine solche Regel gibt es in jeder Meisterschaft, nur in der MotoGP hat sie gefehlt. Und sie hat funktioniert. Es ist sicher nicht einfach, sie einzuhalten, aber jetzt wissen die Ingenieure, wie sie die Vorgaben einhalten können." Ob dem tatsächlich so ist, darf hinterfragt werden. 24 Vergehen wurden an den zwölf Rennwochenenden seit Einführung der Regel registriert.

2024 sollen Verwarnungen und Zeitstrafen für Disqualifikationen bei jeder Unterschreitung des Mindestdrucks weichen. Eine Änderung, die so mancher Fahrer in den vergangenen Wochen als Untergang der MotoGP sah. Ob im kommenden Jahr tatsächlich derart hart durchgegriffen wird, scheint deshalb aktuell noch offen zu sein: "Wir sprechen mit Dorna, FIM und IRTA. Wir machen die Regeln nicht. Wir hören auch immer auf die Fahrer, aber wir müssen uns auf unsere Daten stützen. Wir haben mit diesem Reifentyp bei 2,0 bar begonnen, jetzt sind wir auf manchen Strecken bei 1,82 bar. Das sind keine hohen Werte."

Michelin: Kritik ist unbegründet!

Michelin sieht sich also weder bei Leistungsschwankungen im Titelkampf noch bei der Reifendruckregelung in der Schuld. Taramasso fordert deshalb mehr Respekt gegenüber seinem Unternehmen: "Die Kritik ist oft unbegründet. Da ist die Rede von Verschwörungen und von schlechten Reifen, die bewusst eingesetzt werden. Das ist absurd. Die Schuld auf die Reifen zu schieben, ist die einfachste Ausrede. Ich finde es schade, dass niemand unsere 36 Rekorde (Rundenrekorde etc., Anm.) bemerkt hat. Oder dass wir in Indonesien, Katar und Valencia die exakt richtigen Spezifikationen für neuen Asphalt gebracht haben."