"Wir alle im Fahrerlager stimmten mehr oder weniger überein, dass die Strafe nicht richtig war." Charles Leclerc fasst es am Donnerstag in Baku gut zusammen. Im Prinzip hat niemand in der Formel 1 ein Problem dafür, dass Williams mit einem 'Right of Review' erfolgreich eine Rücknahme der Strafe gegen Carlos Sainz aus Zandvoort erwirkt hat. Im Hintergrund sorgen die Racing-Richtlinien für Unmut - und Stewards-Methoden schlagen Wellen.
Sainz, der dank der Rücknahme zwei Strafpunkte loswurde, ist diesbezüglich guter Laune - nachdem er in Zandvoort die Stewards noch als F1-unwürdig bezeichnet hatte, als sie ihn für eine Berührung mit Liam Lawson bestraft hatten: "Für mich ist es, relativ gesehen, ein Durchbruch. Zum ersten Mal konnte ich neue Beweise vorbringen und eine Anhörung erfolgreich vorbringen."
Wurde beim 'Right of Review' im Fall Sainz gepfuscht?
Bei einem 'Right of Review' wird für eine neue Verhandlung das Vorbringen von neuen, signifikanten und relevanten Beweisen verlangt. Die Stewards argumentierten, dass die Aufnahmen der 360-Grad-Kameras von beiden Beteiligten sowie die rückwärtigen Onboard-Kameras diese Kriterien erfüllten und auf ihnen klar erkennbar war, dass die Kollision nur durch einen kurzen Kontrollverlust von Lawson zustande kam.
Nun stimmt es, dass diese Einstellungen für die Stewards während des Rennens nicht verfügbar waren. Aber lieferten sie wirklich neue Erkenntnisse? Die live verfügbaren Onboards von Sainz und Lawson zeigten bereits klar Lawsons Rutscher. "Du kannst alles sehen", wundert sich etwa Haas-Teamchef Ayao Komatsu. "Die neuen Beweise ändern denke ich nichts."
Damit ist die Erfüllung des Signifikanz-Kriteriums und damit das Zulassen des 'Right of Reviews' mindestens fragwürdig. "Ich persönlich denke, dass sie live eine Fehleinschätzung getroffen haben", meint Komatsu. Wie eingangs erwähnt: Dieser Meinung war danach praktisch das ganze Fahrerlager, wie auch Komatsu. "Stimme ich dem Mechanismus zu? Vielleicht war es der einzige Weg, es zurückzunehmen..." Wohl erkannten auch die Zandvoort-Stewards ihren Fehler, als sie sich die Szene nach dem Rennen noch einmal anschauten.
Verwirrung um Racing-Richtlinien in der Formel 1 nimmt Überhand
Das nächste Problem auf der anwachsenden Liste: Warum wurde die Strafe überhaupt ausgesprochen? Einmal mehr müssen die 'Driving Standards Guidelines' bemüht werden, in denen Richtlinien für das Verhalten in Rennsituationen festgeschrieben sind. Sainz erfüllte in Zandvoort die Vorgaben nicht, um außen Platzrecht zu bekommen. Also wurde er, scheinbar ohne groß weiter nachzudenken, einfach bestraft.
Einige Fahrer verwirrt es nun zunehmend, dass eine Woche später Oliver Bearman bestraft wurde, weil er Sainz in Monza auf das Hinterrad fuhr. "Ich bin immer noch verwirrt und weiß nicht, wie man richtig fährt", meint Alex Albon. "Generell ist die Innenbahn sehr stark, aber in Monza war sie das nicht." Die Richtlinien im Wortlaut inklusive Beispiele gibt es hier:
Natürlich - Monza und Zandvoort sind zwei unterschiedliche Szenarien. Sainz war in Monza außen der Angreifer, war weit genug vorn, und in diesem Fall laden die Richtlinien eine Unfallschuld vor dem Mann auf der Innenbahn ab. "Wenn du die Richtlinien liest, dann ist es klar, dass die Kurve Sainz gehörte", meint Komatsu. "Ob du den Richtlinien zustimmst, ist eine andere Geschichte."
"Sollte jemandem eine Kurve 'gehören'?", fragt Alex Albon diesbezüglich. "Im Kart war es immer irgendwie klar. Eine Art Spielchen. Du hattest im Gefühl, was du tun konntest und was nicht. Was fair war und was nicht." Mehrere Fahrer bemühen vor Baku Kart-Erinnerungen und das früher viel einfachere Racing-Leben. Das gefürchtete Wort 'Überregulierung' steht wieder im Raum. Obwohl auch die Fahrer einst die Einführung der Richtlinien unterstützt hatten.
Formel-1-Fahrer räumen ein: Richtlinien haben Hoffnungen nicht erfüllt
Der Hintergedanke ist, dass eigentlich jedem auf F1-Niveau klar sein sollte, wie man sich zu verhalten hat. Manche haben sich mit den Regeln daher auch nicht einmal beschäftigt. Rookie Isack Hadjar zum Beispiel: "Ich kenne die Regeln gar nicht. Darauf sollte ich jetzt nicht stolz sein, aber bis jetzt läuft es gut, weil ich weiß, wie ich gegen andere fahre. Ich denke nicht, dass es Regeln dafür braucht. Jedes Szenario ist einzigartig."
"Es ist schwierig, weil wir prinzipiell Konstanz wollen, da hat das alles angefangen", erinnert sich Albon. Weil Stewards von Rennen zu Rennen wechseln, wollte man mit einheitlichen Richtlinien ihre Entscheidungen klarer machen. Sainz schiebt später nach: "Ganz ehrlich - ich denke, sie haben in Sachen Klarheit nicht das gebracht, was wir uns erhofft hatten. Auf dem Papier ist es klar, wenn du es liest, aber die Ausführung und das Racing, das ist nicht so klar, wie wir immer wieder sehen."
Allerdings erinnert Sainz hier: "Wir dürfen ein wichtiges Wort nicht vergessen. Richtlinien. Richtlinien sind keine Regeln, es sind Richtlinien, wie man einen Zwischenfall einschätzt. Es gibt keine Regel, dass ich mich nicht außen daneben setzen darf. Es gibt eine Richtlinie, dass du wahrscheinlich Schuld hast, wenn du außen nicht zurücksteckst. Aber das ist eine Richtlinie, keine Regel."
Mehr Richtlinien-Bewusstsein für die Formel 1 - nur mit Profi-Stewards?
Womöglich lehnen sich die Stewards momentan etwas zu stark an den Richtlinien an. Für die Zandvoort-Strafe von Sainz sicherlich eine mögliche Erklärung. "Wir werden sicher morgen am Abend eine lange Diskussion haben", blickt Albon in Richtung freitägliches Fahrer-Briefing. "Was gut ist: Die FIA gibt uns Einblick in ihre Entscheidungen, und wir haben gute Gespräche darüber. Wir kämpfen nicht gegeneinander, es ist eine gute Zusammenarbeit."
Alles illustriert jedoch, dass auch mit Richtlinien Auslegungen immer noch von Rennen zu Rennen variieren. Wie jedes Mal bringen die Fahrer daher das Thema Profi-Stewards ins Spiel. Aktuell sind die Stewards freiwillige Motorsport-Funktionäre und Ex-Fahrer, die von der FIA nominiert werden. Oft sind sie beim nächsten Rennen dann nicht vor Ort, was zum einen andere Entscheidungen auslösen kann. Zum anderen kann man nicht die Entscheidungen vom letzten Rennen mit ihnen besprechen.
"Wenn wir alle übereinstimmen, dann sollte die Zukunft sein, dass wir zumindest zwei permanente Stewards haben und einen dritten Platz für Lernzwecke und sportliche Fairness durchrotieren", schlägt Sainz vor. Nicht jeder stimmt der Idee zu. Einige im Fahrerlager, vor allem auch die FIA, wollen eben aus Fairnessgründen nicht, dass die gleichen Offiziellen jedes Rennen bewerten.
Außerdem - wer zahlt die Rechnung? "Profi"-Stewards müssten für 24 Rennen vergütet werden. "Ich denke, das sollte uns egal sein, in diesem Sport gibt es genug Geld", hält Sainz dagegen. Wobei das nicht unbedingt für die FIA gilt, die sich seit Jahren über die verhältnismäßig magere Vergütung durch den kommerziellen Rechteinhaber Liberty Media beklagt. Doch für Sainz ist klar: FIA und F1-Management müssten sich doch zumindest für so etwas einigen können: "Ich kann es nicht glauben, dass wir über diese Gehälter sprechen."



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