Charles Leclerc war nach dem Kanada-GP sauer. Wenn er auf die Strategie-Übersicht des Rennens schaut, wird seine Laune nicht besser werden. Drei Fahrer fuhren mit der Einstopp-Strategie zu Punkten. Leclerc aber wurde dieser Vorschlag verwehrt. Doch die Rennanalyse unterstreicht: Die Ferrari-Gleichung ist nicht so gut wie die von Nico Hülkenberg, Esteban Ocon und Carlos Sainz. Und auch nicht wie die von Lando Norris.

Für das Spitzenquartett war die Strategie in Kanada relativ einfach. Max Verstappen trieb sie, weil der Red Bull in einem von Graining auf der Hinterachse bestimmten Rennen die Reifen nicht unter Kontrolle hatte. Zwei Mal mussten die Red-Bull-Strategen Verstappen proaktiv zum Stopp rufen, um den zweiten Platz gegen Kimi Antonelli abzusichern.

Alle Boxenstopps und Strategien von Kanada in einer Liniengrafik
Die Boxenstopps bei der Formel 1 in Kanada, Foto: Pirelli Sport

George Russell konnte daher vorne entspannt einfach kopieren, was sich hinter ihm tat. Und der Vierte Oscar Piastri hatte in einem in Kanada schwächeren McLaren auch nicht die übliche Management-Stärke, um etwas zu riskieren. Zu Rennbeginn war es für die Spitze auch Pflicht, auf Verstappen zu reagieren. Der Medium kam schnell in die Graining-Spirale und lieferte ab Runde 15 bei allen, die auf ihm ausharrten, brutale Zeiteneinbrüche. Und auf dem Hard hatte nur Sauber im Training Runden gefahren.

Ohne Erfahrungswerte schienen frühe Stopps also eine Zweistopp-Strategie zu bedeuten. Die frühen Stopps bedeuteten auch: Ab Runde 16 waren Lando Norris und Charles Leclerc in Führung, denn sie waren nach ihren schlechten Qualifyings auf dem Hard gestartet. Leclerc hatte auf dem Hard keinen guten Start hingelegt, war in 12 Runden 14 Sekunden von Russell abgerissen und hatte erst starke Zweifel am Reifen. Erst dann kam er in Fahrt und merkte: Der Hard war gar nicht so schlecht.

Hülkenberg, Ocon & Sainz machen vor: So geht Einstopp in Kanada

Wie gut der Hard war, illustrierten viel weiter hinten drei andere Fahrer. Zuerst einmal Esteban Ocon und Carlos Sainz, die wegen aussichtslosen Startpositionen damit losgefahren waren. Als vor ihnen die Medium-Piloten weg waren und Ocon freie Fahrt hatte, stabilisierten sich die Reifen. Ocon und Sainz fuhren weiter, und weiter, und weiter. Das nötige Ziel - es bis unter 20 Runden vor Schluss zu schaffen - ging sich locker aus. Ocon fuhr bis Runde 56 gar ohne Einbruch.

Ähnlich bemerkenswert war die Leistung von Nico Hülkenberg. Der war konventionell auf Medium gestartet und dank einem kleinen Tumult in der ersten Runde auf Platz 9 vorgerückt. In Runde 19 wechselte er auf den Hard, den er schon aus dem Training kannte. Damit fuhr er bis ins Ziel durch. Seine größte Herausforderung war das Überholen von Nachzüglern, die wie etwas weiter vorne Ocon und Sainz die Hard-Einstopp versuchten.

Hülkenberg schaffte es schnell vorbei und konnte in freier Fahrt sicherstellen, dass er nie groß Zeit oder die Kontrolle über den Reifen verlor. Franco Colapinto war das Gegenbeispiel: Er fuhr die gleiche Strategie wie Hülkenberg, blieb aber hinter dessen Teamkollegen Gabriel Bortoleto stecken. Das bildete einen Zug, in dem auch die Zweistopper Zeit verloren. So konnten vor allem Ocon und Sainz vorne sich einen Boxenstopp auffahren, was sie am Ende auf die Plätze 9 und 10 hinter Hülkenberg brachte.

Leclerc motzt über Strategen, Ferrari sieht den Sinn nicht

Das Mittelfeld zeigte also, dass Norris und Leclerc vorne auch mit nur einem Stopp hätten durchfahren können. Leclercs Rundenzeiten zeigen das auch. Wie Ocon, Sainz und Hülkenberg fuhr er konstant und meldete das plus einen positiven Reifenzustand regelmäßig dem Team, mit der Einstopp klar im Blick: "Wir waren einer Meinung, und dann entschied das Team, auf zwei Stopps umzuschwenken."

"Ich war mir sehr sicher von meinem Gefühl her und von dem, was ich um mich herum sah", klagt Leclerc nach dem Rennen. Sein Teamchef Fred Vasseur widerspricht: "Es war uns ein bisschen optimistisch, 50 Runden auf dem Hard durchzufahren. Uns fehlten wohl auch ein paar Runden über das Wochenende, um das einzuschätzen." Leclerc hatte am Freitag in FP1 sein Auto zerstört und nur am Samstag einen Mini-Longrun fahren können.

Viel wäre für Leclerc tatsächlich nicht rausgesprungen. Sein größtes Problem war der massive Zeitverlust am Start. So wurde er noch vor seinem ersten Boxenstopp schon wieder von dem bereits mit dem zweiten Reifensatz fahrenden Russell überholt. Wäre Leclerc noch länger draußengeblieben, so hätte er der Reihe nach Verstappen, Antonelli und Piastri ziehen lassen müssen.

Norris & Leclerc stets zu weit weg für Einstopp-Poker

Selbst für Norris, der fünf Sekunden vor Leclerc fuhr, ist die Einstopp-Mathematik eine schwierige. Klar, eine bessere als für Leclerc. Würde Norris bis Runde 50 durchfahren, so wäre er bei einem Verlust von vier Zehnteln pro Runde theoretisch noch vor Piastri. Allerdings würde er 20 Runden vor Schluss den schlechteren Reifen aufziehen müssen. Piastri hätte seinerseits sowieso schon vor Runde 50 auf Hard gewechselt und damit einen vorbeugenden Undercut gegen Norris gefahren, der nicht hätte reagieren können - weil ein Wechsel auf Medium vor Runde 50 hintenraus desaströs geendet hätte.

Red Bull: Russell unsportlich! Verstappen in Falle gelockt? (20:24 Min.)

So ist die Einstopp-Zweistopp-Rechnung für Fahrer im regulären Rennverlauf ein ziemliches Nullsummenspiel. Das untermauert Fernando Alonso. Er focht als Zweistopper einen direkten Kampf gegen den einstoppenden Hülkenberg aus. Als Alonso in Runde 15 zum ersten Wechsel kam, lag er knappe drei Sekunden vor Hülkenberg.

In Runde 60 fing Alonso dann mit seinen frischeren Reifen Hülkenberg wieder ein und sicherte sich damit letztendlich Platz 7. Alonsos Vorsprung auf Hülkenberg in Runde 65, kurz bevor 5 Runden vor Schluss das Safety Car herauskam? 2 Sekunden. Sie wären trotz völlig unterschiedlicher Strategien also fast mit dem gleichen Abstand ins Ziel gefahren, der sie vor den Boxenstopps getrennt hatte.