Nach dem Premierenerfolg von Lando Norris und dem zweiten McLaren-Sieg innerhalb der letzten sage und schreibe zwölf Jahre herrscht eine Welle der Begeisterung. Manche mögen den Sieg als Glücksfall abstempeln, andere fragen sich, ob McLaren nun die ernstzunehmende zweite Kraft hinter Red Bull ist. Einige wollen in den Papayafarbenen gar einen neuen Herausforderer im Titelkampf erkennen. Wie sieht das Bild in der Realität aus? Unser Formel-1 -Experte Christian Danner sorgt in der neuen Ausgabe des 'AvD Motorsport-Magazins' für Klarheit.
McLaren-Sieg nur dank Red-Bull-Schwäche?
"Es ist natürlich eine Momentaufnahme", äußert Danner in Bezug auf den Sieg von McLaren. "Denn ein so schwacher Verstappen war auch eine Momentaufnahme", ortet er den Grund für den unverhofften Triumph in der unzulänglichen Performance von Max Verstappen und Red Bull. "Es war einfach ein schlechtes Wochenende von Red Bull. Wenn man genau zugehört hat, was die Jungs von sich gaben, dann war da einfach kein Grip, keine Balance."
Während man früher über einen schlechten Reifensatz geschimpft hätte, sind die Problemeinsichten heute dank moderner Technik detaillierter, erklärt Danner. "Mit der Technologie sind wir heutzutage zehn Schritte weiter vorne. Wir wissen erstens, wie man die Reifen behandeln muss, zweitens wissen wir, was mit den Reifen passiert, da man alles - jede Temperatur, jeden Luftdruck - messen kann." Außerdem seien auch die Fahrer stark involviert, die "nicht nur über die Informationen, die sie über Luftdruck, Reifentemperatur und Bremstemperatur bekommen, verfügen", sondern die "auch ein ganz gutes Gefühl dafür entwickelt haben, was man da machen kann", so Danner.
Die zahlreichen Informationen zu verarbeiten, um den Grip und die Balance zu bewerkstelligen, "klappt selbst bei den Besten offensichtlich nicht immer - bei Red Bull aber fast immer", stellt der Experte fest. Auch bei Norris kann er Probleme in der Reifenarbeit ausmachen: "Lando Norris war mit dem Medium-Reifen de facto schneller als mit dem Soft. Also, die Reifen zu verstehen, ist eine Kunst für sich, trotz aller modernen Messmethoden und Sensoren, die in den Autos verbaut sind."
Danner: Erster F1-Sieg immer ein Befreiungsschlag
Momentaufnahme? Ja. "Aber das heißt noch lange nicht, dass der McLaren über die Saison hinweg nach hinten durchgereicht wird", fügt Danner hinzu. Einen zentralen Faktor, der zu berücksichtigen ist, sieht er in der Rennfahrerpsyche: "Das war für Lando Norris meiner Ansicht nach ein mentaler Durchbruch. Das war schon lange überfällig, wie er selbst immer sagt. Das erleichtert, das befreit. Das haben wir immer gesehen in der Formel 1: Dieser erste Grand-Prix-Sieg - wenn der erlebt wurde und erledigt ist, dann gibt es eine gewisse Tiefenentspannung, die einem im Cockpit tatsächlich hilft."
Der erste Sieg könnte laut dem Experten also eine Art Befreiungsschlag sein, der Norris in künftigen Rennen zugutekommt. In den letzten Jahren, insbesondere nach dem Russland GP 2021, hat sich der McLaren-Pilot zunehmend einen Ruf erarbeitet, dass er unter Druck nicht abliefern könne und Siegchancen wegschmeiße. 'Lando No-Wins' wurde auf Social Media zum fiesen Slogan. Diesen kann Norris nun endlich abstreifen und neues Selbstvertrauen gewinnen.
Darf McLaren vom Titel träumen?
Mit neu gewonnenem Selbstvertrauen könnten Norris und McLaren zum Titelkandidat aufsteigen, glauben manche. Unser F1-Experte Danner ist da jedoch anderer Meinung: "Davon sind wir noch ein bisschen weit weg, glaube ich." Da das Verfolgerfeld von Red Bull sehr wechselhaft ist, sieht er McLaren noch nicht einmal fest in der Position einer stabilen Nummer Zwei. "Denn das ändert sich halt immer. Wenn der Ferrari einen guten Tag hat, nein. Wenn der Ferrari einen schlechten Tag hat, ja. Oder andersrum: Wenn McLaren einen guten Tag hat, ja."
"Das Schöne ist, dass wir ganz offensichtlich sehen, dass McLaren von den Fahrern her schon sehr stark und sehr solide aufgestellt ist", erkennt Danner an und betont, dass auch Oscar Piastri "ein fantastisches Rennen gefahren" sei. Insbesondere in der Qualifying-Performance habe das Team indes noch Verbesserungspotenzial: "Was wir aber nicht vergessen dürfen, ist, dass sie schon auch noch ihre Höhen und Tiefen haben. Denn wenn ich mich nur auf dem achten Platz qualifizieren kann und da irgendwie herumrutsche, dann bin ich kein Titelkandidat", findet der Experte klare Worte. "Noch ist das einzig konstante Team Red Bull Racing. McLaren ist auf dem Weg dahin, aber noch nicht ganz da."
Danner: Kein Sieg ohne Safety Car
Bleibt nur noch die Frage zu klären, ob Norris auch ohne Safety Car das Rennen in Miami gewonnen hätte. "Ich glaube fast nicht", meint Danner auch hierzu. "Er hat natürlich einen riesen Treffer gelandet mit diesem Safety Car." Gleichwohl findet der Experte zunächst einen Punkt, der für die Gegenseite spricht: "Was wir gesehen haben, ist, dass er das Ding dann dominiert hat. Er ist vorne weggefahren und fertig."
"Aber Achtung: Der, der vorne wegfährt - siehe Max Verstappen - kann immer ganz gut dominieren und wenn man hinterherfährt, hat man eben die Schwierigkeit, dass die Reifen zum Rutschen kommen, die Temperaturen durch die Decke gehen, dass auch die Bremstemperaturen zu hoch werden und dadurch die Felgen zu heiß werden. Wenn die Felgen heiß sind, sind die Reifen zu heiß und so weiter, und so fort", schränkt Danner sogleich ein.
"Vom reinen Speed her, kann man sagen, hätte es auch so klappen müssen. Von der Track Position her wohl eher nicht", fasst er seine Einschätzung zusammen. "Aber gefreut hat es mich allemal und den Zak Brown jubeln zu sehen, war auch sehr lustig. Das war schon ein verdienter Sieg, keine Frage." Fazit: "McLaren ist sicherlich ab sofort ein Siegkandidat. Aber so leicht wie in Miami wird's wahrscheinlich nicht so oft werden."
Warum Danner meint, dass die Tage der Red-Bull-Dominanz gezählt sind und was er zum Strafenhagel für Kevin Magnussen sagt, seht ihr in der neuen Ausgabe vom 'AvD Motorsport-Magazin':
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