Vergeben und Vergessen, 2023 das Motto der Formel 1? Nach Sergio Perez' Rambo-Vorstellungen in Japan und Singapur rückt die Rechtsprechung der WM zunehmend in den Fokus. Denn harte Strafen gibt es heute kaum mehr. Was dazu führt, dass viele Unfälle für die Schuldigen nur mehr geringe Folgen haben, wie das Aufrollen aller Strafen der aktuellen Saison zeigt. Wer rammt, kann 2023 sogar gewinnen statt verlieren.

In diesem Jahr ist es besonders auffällig: Fahrerische Vergehen ziehen fast immer 5-Sekunden-Zeitstrafen nach sich, die entweder bei einem Boxenstopp oder im Endergebnis addiert werden. Das ist das kleinste Übel im Strafenkatalog. Die meisten Zwischenfälle hatten aber Auswirkungen, die für die Opfer deutlich schwerwiegender waren als bloß fünf Sekunden, wie eine Auflistung verdeutlicht.

Unfall-Strafen mit geringen Konsequenzen

Beim Aufschlüsseln der Unfallfolgen bleiben gleich sechs, wo die Konsequenzen gemessen am Schaden minimal waren. Logan Sargeant war nach dem Japan-Crash mit Valtteri Bottas schon Letzter, stellte dann ab. Lance Stroll verlor in Silverstone nur Plätze außerhalb der Punkte nach Crash mit Pierre Gasly. Guanyu Zhous Verbremser am Start von Ungarn warf Daniel Ricciardo auf den letzten Platz zurück - aber beide Alpine weiter vorne waren Kollateralschäden. Hamilton/Perez in Spa kostete Hamilton nur eine Handvoll Punkte.

RennenOpfer & TäterStrafeFolgen
JapanPerez+ 5 SekundenSchaden & Ausfall
OpferMagnussen?
JapanSargeant+ 5 SekundenSchaden & Ausfall
OpferBottasSchaden & Ausfall
SingapurPerez+ 5 Sekundenvon 11 auf 8
OpferAlbon+ 17 Sekunden, -3 Plätze
ItalienHamilton+ 5 Sekunden-
OpferPiastriFlügelwechsel, + 34 Sekunden, -7 Plätze
Belgien-SprintHamilton+ 5 Sekundenvon 4 auf 7
OpferPerezSchaden & Ausfall
UngarnZhou+ 5 Sekunden
OpferRicciardoLetzter unter Safety Car
OpferGasly & OconAusfälle
GroßbritannienStroll+ 5 Sekundenvon 11 auf 14
OpferGaslySchaden & Ausfall

Zwei weitere Unfälle kosteten den Opfern signifikant Zeit, Positionen und Punktechancen, während 5 Sekunden für die Täter irrelevant waren. Sergio Perez' Rammstoß gegen Alex Albon in Singapur ist hervorzuheben: Albon verlor drei Plätze und eine Chance auf Punkte. Perez hingegen kam so am schwer zu überholenden Williams vorbei, konnte noch zwei Plätze gewinnen und sich eine ausreichende Lücke auffahren, um die Strafe obsolet zu machen.

Unfall-Strafen mit vergleichbaren Konsequenzen

Bei vier Strafen wirken 5 Sekunden fair. Logan Sargeant und Yuki Tsunoda kollidierten mit Kontrahenten, die trotzdem erfolgreich überholen konnten und keinen nennenswerten Schaden davontrugen. Lando Norris' Stau-Provokation von Kanada kostete Alex Albon, aber nicht viel. Ohnehin ging der Williams per Alternativ-Strategie später wieder vorbei.

RennenOpfer & TäterStrafeFolgen
ItalienSargeant+ 5 Sekunden-
OpferBottas-
NiederlandeTsunoda+ 5 Sekunden13 auf 15
OpferRussell-
KanadaNorris+ 5 Sekunden9 auf 13
OpferAlbon1 Position
SpanienTsunoda+ 5 Sekunden9 auf 12
OpferZhou10 auf 9

Tsunodas Rausdrücken von Zhou in Barcelona kostete dem Japaner die letzten zwei Punkte, auch wenn hier das Aussprechen einer Strafe debattiert werden kann. Es gibt noch eine Handvoll Zwischenfälle mit unklaren Folgen auf beiden Seiten, der Vollständigkeit halber aufgelistet. Außerdem den Fall Carlos Sainz in Australien. Ein Fahrfehler von ihm hatte letztendlich aufgrund er Zurücksetzung der Startaufstellung keine Auswirkung, aber durch ein Ende hinter dem Safety Car kostete ihm eine 5-Sekunden-Strafe gleich acht Plätze.

RennenOpfer & TäterStrafeFolgen
ÖsterreichDe Vries+ 5 Sekunden-
OpferMagnussen?
MonacoRussell+ 5 Sekunden-
OpferPerez?

Welche Straf-Optionen gibt es für die Formel 1?

Der Grund hinter den Zeitstrafen ist übrigens nicht der verfügbare Strafenkatalog. Die Auswahl ist genauso breit gefächert wie eh und je. Die beim regulären Boxenstopp abzusitzenden 5- und 10-Sekunden-Zeitstrafen haben sich in der jüngeren Vergangenheit als Favorit herauskristallisiert, eben weil sie Fahrer nicht komplett aus dem Rennen reißen.

Verfügbar wären solche Optionen. Durchfahrtsstrafen, Stop-und-Go, oder gar Stop-und-Hold (eine Stop-und-Go mit zusätzlicher Zeitstrafe) gibt es noch immer. Sie sind von regulären Stopps getrennt und müssen nach dem Aussprechen innerhalb von drei Runden absolviert werden. Doch diese Strafen haben Seltenheitswert.

Nach Perez-Farce: Braucht die Formel 1 andere Regeln? (18:23 Min.)

Die letzte Durchfahrtsstrafe für einen Unfall erhielt Kimi Räikkönen 2021 für den Abschuss von Sebastian Vettel in Österreich. Die letzte Stop-und-Go erhielt Vettel 2019 in Italien für ein unsicheres Zurückfahren auf die Strecke.

Psychologie der Abschreckung in der Formel 1

Straf-Besuche in der Boxengasse sind auch aus Gründen der Konstanz aus dem täglichen Gebrauch verschwunden. Boxengassen sind unterschiedlich lang. Auf manchen Strecken verliert man gut 20 Sekunden, auf anderen fast 30. Startplatz-Strafen sind eine weitere mögliche Option im Katalog, kommen aber nur dann zur Anwendung, wenn der Täter nicht mehr im Rennen ist.

Das Thema "Bestrafen nach Auswirkungen" ist außerdem seit Jahren ein schwieriges und ungeliebtes. Ein praktisch identischer Fahrfehler - der klassische Kontakt Vorderrad an Hinterrad - kann im Motorsport viele Auswirkungen haben. Der Vordermann kann umgedreht werden, kann im Kiesbett landen und ausfallen, kann genauso den Quersteher abfangen und weiterfahren. Die Bandbreite ist riesig. Genauso gilt es für den Täter: Er kann einfach vorbeigehen, er kann sich genauso den Frontflügel abfahren, vielleicht sogar schwerere Schäden erleiden als das Opfer.

Das alles macht es schwierig, Strafen auf die Konsequenzen auszurichten. Schließlich folgt noch das Argument der Abschreckung: Ja, härtere Strafen schrecken ab, aber schrecken sie so sehr ab, dass Fahrer vor den im F1-Umfeld sowieso schon schwierigen Zweikämpfen aktiv zurückscheuen?

Die Straf-Ergebnisse der bisherigen Saison 2023 legen trotzdem nahe, dass der Katalog und die Maßstäbe einmal überdacht werden sollten. Letztendlich gibt es zu viele Zwischenfälle mit schweren Auswirkungen für das Opfer, und kleinen oder gar keinen für den Täter.