Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt - Mercedes tut sich in der Formel-1-Saison 2023 schwer damit, die Performance des F1 W14 einzuschätzen. Nach einer katastrophalen Performance beim Saisonauftakt in Bahrain und einer mittelmäßigen Leistung in Saudi-Arabien gleicht das Qualifying-Ergebnis von Australien einer Sensation: Startplatz zwei für George Russell, Platz drei für Lewis Hamilton.

"Das hatten wir definitiv nicht erwartet", hört man aus dem Mercedes-Lager nach dem Qualifying unisono. Russell fehlten nur gut zwei Zehntelsekunden auf die Pole-Zeit von Max Verstappen. "Wir haben das Setup seit Bahrain entwickelt, wir haben diese Performance aus dem selben Auto geholt", weiß Russell. "Eine große Rolle haben aber die Reifen gespielt."

Reifen Schlüssel zu Mercedes-Erfolg

Pirelli entschied sich anders als in der Vorsaison nicht für den weichsten C5-Reifen. Stattdessen gibt es mit C2, C3 und C4 die drei mittleren Mischungen. Bei den kühlen Temperaturen im Albert Park hatten die Piloten damit zu kämpfen, die Reifen ins richtige Betriebsfenster zu bekommen. Bei 15 Grad Lufttemperatur stieg das Quecksilber auf dem Asphalt kaum über 20 Grad Celsius.

Nachdem das bisherige Wochenende von Regen und Roten Flaggen gezeichnet war, ging Mercedes mit einem dynamischen Ansatz ins Qualifying. Anders ausgedrückt: Mercedes wusste vor der Session nicht, wie man die Reifen perfekt ins Arbeitsfenster bringt.

Im Q1 fuhren Hamilton und Russell nach der Rot-Unterbrechung mit etwas mehr Benzin auf die Strecke und schafften es so, nach einer Lade-Runde noch eine zweite schnelle Runde zu fahren. Dabei waren die Reifensätze schon vor der Unterbrechung aufgezogen. Die Pirelli-Pneus erlaubten mehrere schnellere Runden.

Russell fährt halbe Renndistanz im Qualifying

Im Q2 trieb Mercedes es auf die Spitze. Beide Piloten blieben - auch aufgrund drohenden Regens - das gesamte Q2 über mit einem Reifensatz auf der Strecke. Nach der Outlap gab es noch eine zusätzliche Aufwärmrunde, erst dann wurde gepusht. Danach kam eine Runde, um die Batterie zu laden und dann wieder eine schnelle Runde. Das Spiel wiederholte sich noch zweimal.

Beide fuhren insgesamt vier schnelle Runden in Q2. Bei beiden war die letzte Runde die schnellste. Im Q3 setzte Mercedes dann zwei Sätze des frischen Soft-Gummis ein. In beiden Runs fuhren sowohl Hamilton als auch Russell zwei Einführungsrunden, ehe gepusht wurde.

Auch andere Teams experimentierten bei der Art und Weise, die Reifen auf Temperatur zu bekommen, so viele Runden wie die schwarzen Silberpfeile drehte aber niemand. Hamilton umrundete den Albert Park Circuit im Qualifying 28 Mal, Russell fuhr mit 29 Runden sogar schon eine halbe Renndistanz.

Hamilton hadert mit Hülkenberg

Am Ende zeigte sich Russell regelrecht gierig: "Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass wir nicht die Pole Position geholt haben. Aber das ist so eine Sache in diesem Sport. Die Erwartungen können sich schnell verändern. Gestern wären wir wahrscheinlich mit einem Platz unter den ersten Fünf zufrieden gewesen, aber heute fühlte sich das Auto fantastisch an."

Teamkollege Hamilton, der am dritten Wochenende die dritte teaminterne Qualifying-Niederlage einstecken musste, ärgerte sich über seinen letzten Versuch. "Der erste Versuch in Q3 war gut, die letzte Runde war etwas durchschnittlich", so Hamilton. In der Aufwärmrunde lief er auf Nico Hülkenberg auf und musste langsam machen. "Dadurch waren die Reifentemperaturen zu Beginn der Runde etwas niedrig und ich habe Zeit verloren, am Ende der Runde war es dann besser."

Beide Mercedes im Qualifying in den Top-3, das gab es in der gesamten vergangenen Saison nur einmal, nämlich in Mexiko. Am Ende der abgelaufenen Saison kam Mercedes immer mehr in Fahrt, gewann sogar das Rennen in Brasilien. Die aufstrebende Form veranlasste die Ingenieure in Brackley dazu, am extremen Aero-Konzept festzuhalten.

Mercedes-Auferstehung in Australien: Doch kein neues Konzept?

Nach dem enttäuschenden Saisonstart 2023 wollte Mercedes das Konzept eigentlich verwerfen. Kommt jetzt die erneute Wende? "Wir müssen vorsichtig damit sein, nicht zwischen manisch und depressiv zu schwanken", warnt Mercedes Motorsportchef Toto Wolff. "Das Potential im Auto ist da, aber wir brauchen eine langfristige Lösung. Da ist es egal, ob mit breitem oder schmalen Bodywork, wir brauchen mehr Abtrieb."

Ähnlich sieht es auch Lewis Hamilton: "Ich denke, es ist Strecken-spezifisch. Uns fehlt etwas an Abtrieb, heute ist einfach alles zusammengekommen." Auch Russell warnt vor zu viel Optimismus: "Die Pace hier auf der letzten Runde war eine Überraschung, aber wir sind noch immer 0,2 Sekunden hinten. Auf anderen Strecken ist es eine Sekunde. Wenn 0,2 Sekunden schon nah dran sind, dann ist das eine ganze Menge in der Formel 1."