Die Silberpfeile waren seit 2014 die Dominatoren der Formel 1. 15 von 16 Fahrer- und Konstrukteurstitel gewann Toto Wolffs Truppe. 111 Grand-Prix-Siege fuhren Lewis Hamilton, Nico Rosberg und Valtteri Bottas bis 2022 ein. Zum Vergleich: Alle anderen Teams zusammen kamen mit 49 Erfolgen nicht einmal auf die Hälfte. Durch diese unglaubliche Erfolgsbilanz hat Mercedes die Erwartungshaltung selbst definiert: WM-Titel und Siege, nur das zählt. Mit den neuen Regeln von 2022 haben die Serienmeister ihr Ziel nun erstmals verfehlt und das auch noch deutlich. Der Fall des F1-Riesen in der Jahresbilanz.

So startete Mercedes in die neue Formel 1: Hüpfend, allerdings nicht vor Freude, sondern wegen des Porpoisings. Der W13 hatte wie kaum ein anderes Auto im Feld unter den Folgen dieses, für die Ingenieure äußerst lästigen, aerodynamischen Problems zu kämpfen. Dies sah man nicht nur an der auf und ab Bewegung des Boliden, sondern auch an den Resultaten zu Saisonbeginn. Besonders Superstar Lewis Hamilton hatte zu kämpfen, während George Russell noch erstaunlich gute Schadensbegrenzung betrieb. Die Konkurrenz wollte Mercedes zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschreiben.

In Baku war das Porpoising des Mercedes massiv, Foto: LAT Images
In Baku war das Porpoising des Mercedes massiv, Foto: LAT Images

Entgegen der Erwartungen konnte die Baustelle W13 aber nicht so schnell geschlossen werden, wie vom Team erhofft und von der Konkurrenz befürchtet. Die großen Probleme des Saisonbeginns ließ die Mannschaft aus Brackley letzten Endes zwar hinter sich, doch gelang der Anschluss viel zu spät, um ein noch ernsthaftes Wort mitreden zu können. Erst im letzten Saisonviertel waren die Silberpfeile dran an der Spitze und es gelang wenigstens noch ein Sieg in Brasilien. Mercedes war 2022 auf die gesamte Saison gesehen dennoch eindeutig nur dritte Kraft. Der geringe Rückstand von 39 Punkten auf das zweitplatzierte Ferrari-Team (554 zu 515) ist vor allem auf die deutlich bessere Zuverlässigkeit und die geringere Fehlerquote der Piloten sowie des Strategieteams zurückzuführen. In Sachen Pace konnten die Dominatoren der Vergangenheit nicht mit der Scuderia und natürlich auch nicht mit dem neuen Spitzenreiter Red Bull mithalten.

So entwickelte sich Mercedes 2022: So weit von der Spitze entfernt wie am Saisonstart 2022 hatten die Fans Mercedes seit den Tagen der V8-Saugmotoren nicht mehr gesehen. Das Team plagte sich mit den Problemen ihrer 'Diva' herum und fand zunächst keine Lösung. Laut Teamchef Toto Wolff habe jeder Stein, der umgedreht wurde, ein neues Dilemma verborgen. Das Team experimentierte viel, vor allem am Wagen von Hamilton, und fand dabei weder schnelle Lösungen noch Konstanz. Auf einigen Strecken funktionierte das Auto plötzlich gut, wie in Spanien oder Ungarn, doch darauf folgten wieder Rückschritte, wie in Monaco oder zum Auftakt der zweiten Saisonhälfte in Spa.

Angesichts des Enigmas des W13 stand die gesamte Ingenieursmannschaft nach Jahren des Erfolges vor ihrer bisher größten Bewährungsprobe. Letztendlich haben sie diese bestanden, jedoch mit viel zu langem Nachsitzen. Das Porpoising wurde dem Mercedes ausgetrieben, doch blieben andere Probleme: Zu viel Luftwiderstand und ein Auto, das extrem tief gefahren werden musste. Dennoch war der Mercedes vom Saisonende ein deutlich besseres Paket als noch im März in Bahrain. Es bestand keine Gefahr mehr, im Qualifying ins Mittelfeld abzurutschen, und im Rennen konnten zumindest die beiden Ferrari sowie Sergio Perez herausgefordert werden. Einzig Weltmeister Max Verstappen blieb außer Reichweite, wie Hamilton bei zweiten Plätzen in den USA und Mexiko erfahren musste.

Das ist Mercedes größte Stärke: Die Zuverlässigkeit bei Mensch und Material. Egal wie viel das Auto in Sachen Pace und Setup Probleme bereitete, so lässt sich Mercedes eines kaum vorwerfen: Dass sie viele Punkte unnötig liegengelassen hätten. Der W13 zeigte sich als das mit Abstand standfesteste Auto im Feld. Nur im letzten Rennen in Abu Dhabi schied Lewis Hamilton mit einem Defekt aus. Auch in Sachen Motorenstrafen in der Startaufstellung stand Mercedes besser da als die beiden großen Konkurrenten.

Diese Stärke lässt sich aber auch auf die Belegschaft übertragen. Die Boxenstopps waren im Schnitt zwar deutlich langsamer als etwa bei Red Bull, aber die Crew blieb zuverlässig im Bereich zwischen 2,5 und 3,5 Sekunden. Damit konnten auch die Strategen gut arbeiten und leisteten sich, im Gegensatz zu Ferrari, keine großen Böcke. Dasselbe kann auch von den Fahrern behauptet werden. Lewis Hamiltons Kollision mit Fernando Alonso in Spa und George Russells Versuch eines Reifenpokers in Singapur waren ihre einzigen großen Fehler der Saison. Dies trug auch zur Ruhe im Team und in den Medien bei, denn Schlagzeilen ala Ferrari oder wie beim Teamorder-Streit von Red Bull produzierte Mercedes 2022 nicht.

Nur beim letzten Rennen hatte Mercedes einen Defekt zu beklagen, Foto: LAT Images
Nur beim letzten Rennen hatte Mercedes einen Defekt zu beklagen, Foto: LAT Images

Das ist Mercedes größte Schwäche: Auf eine Runde ging so gut wie nichts gegen die Konkurrenten aus Milton Keynes und Maranello. Die reifenschonende DNA des Autos half zwar zumeist im Rennen, aber im Qualifying brachten die Silberpfeile die Pirellis oft nicht ins berühmte Fenster. Zu Saisonbeginn schied Lewis Hamilton sogar einmal in Q1 aus. Auch wenn diese katastrophalen Auftritte im Saisonverlauf ausgemerzt werden konnten, so blieben die Highlights im Qualifying weiterhin so gut wie aus. Oft hieß der Gegner in der Zeitenjagd eher Lando Norris und nicht Max Verstappen oder Charles Leclerc.

Nur in Ungarn, bei seiner ersten Pole-Position, und in Mexiko konnte George Russell einen Platz in der ersten Startreihe aus eigener Kraft herausfahren. In Italien profitierte er von Motorenstrafen der Konkurrenz und in Brasilien wurde die erste Startreihe von Mercedes im Sprint und nicht im Qualifying erzielt. Lewis Hamilton qualifizierte seinen Teamkollegen zwar übers Jahr hinweg aus, doch für ein richtiges Highlight konnte auch er nicht sorgen. Die Bilanz ist ernüchternd: Ferrari erreichte 2022 ein durchschnittliches Qualifying-Ergebnis von Platz 3. Bei Red Bull war es Platz 3,8. Mercedes hingegen hat hier einen Wert von 6,6 zu Buche stehen. Die Lücke zur Spitze war im Qualifying also noch viel größer als im WM-Stand.

2022-Schlussstrich für Mercedes: 515 Punkte und 17 Podestplätze, das liest sich eigentlich gar nicht so schlecht. Doch wenn das Team Mercedes heißt und zuvor achtmal in Folge die Konstrukteurs-WM gewonnen hat, dann kann ein dritter WM-Platz und nur ein Saisonsieg nichts anderes als eine herbe Niederlage sein. Toto Wolff brachte zuletzt im F1-Podcast 'Beyond the Grid' schonungslos den katastrophalen Saisonstart auf den Punkt: "Wir lagen völlig falsch und andere sehr richtig." War die Erfolgsmaschine Mercedes also entzaubert? Bis zur Saisonmitte blieb dieser Eindruck durchaus bestehen, denn trotz einiger guter Ergebnisse wie in Frankreich oder Ungarn schien Mercedes immer noch nicht verstanden zu haben, warum ihr Auto auf manchen Strecken funktionierte und auf anderen wiederum nicht.

Formel 1 Teambilanz 2022: War Mercedes die größte Enttäuschung? (12:04 Min.)

Die Silberpfeile schalteten trotz der langanhaltenden Ratlosigkeit aber nicht in den Panikmodus. Es rollten keine Köpfe, es wurden keine Strukturen schlagartig umgeworfen. Letztendlich behielten sie damit auch recht. Die konstanteren Ergebnisse der letzten Rennen 2022 und der Sieg in Sao Paulo zeigten, dass Mercedes sein Auto endlich verstanden hatte. Mit dieser Erkenntnis im Schlepptau lässt sich das schwache Abschneiden der abgelaufenen Saison zwar nicht mehr gut machen, doch wird die Konkurrenz Mercedes für 2023 auf der Rechnung haben müssen. Sie begingen mit ihrem Auto für 2022 einen entscheidenden Konzeptfehler, doch bewiesen sie im Saisonverlauf, dass sie weiterhin ein funktionierendes Spitzenteam sind.