Dieses Interview erschien in Ausgabe 87 unseres Print-Magazins. Am Ende des Jahres veröffentlichen wir traditionell einen kleinen Teil unserer Print-Artikel kostenfrei auf der Website. Viel Spaß beim Lesen!

MSM: Wann ist Dir in dieser Saison klar geworden, dass Du die WM wahrscheinlich nicht gewinnen würdest?
Charles Leclerc: [überlegt] So richtig nach Spa. Ich kam aus der Pause zurück, in der ich natürlich über die erste Saisonhälfte nachgedacht hatte, und ich glaubte noch immer daran. Aber dann kam ich nach Spa und sah den Performance-Unterschied, den wir in dieser Form in der ersten Saisonhälfte nicht wirklich gesehen haben. Ab da wurde es schwierig.

Worin liegt dieser Performance-Unterschied begründet?
Charles Leclerc: Einige Rennen später haben wir einige Dinge verstanden, wir wissen, dass das Auto nicht in dem Sweet-Spot war, den es haben sollte. Dadurch haben wir Fortschritte erzielt. Ich glaube immer noch, dass Red Bull einige Schritte nach vorne gemacht hat und sie deshalb stärker waren. Der große Abstand in Spa lag aber wahrscheinlich hauptsächlich daran, dass wir nicht in Form waren.

Warum wart ihr nicht in Form?
Charles Leclerc: Wir haben zwei Probleme, bei denen ich nicht allzu sehr ins Detail gehen möchte. Aber wir hatten in Spa mehr Schwierigkeiten als woanders und wir sind diese Probleme wahrscheinlich nicht auf die richtige Art und Weise angegangen. Aber ich habe auf Monza gewartet, um wirklich zu sehen, ob es ein Fortschritt war. Ja, es war eine andere Strecke, aber die Charakteristik ist ähnlich - und es war dort viel besser. Das war gut zu sehen. Dennoch waren wir am Sonntag in Monza noch ein bisschen langsamer als Red Bull, aber nicht so schwach wie in Spa.

In Belgien lagen Leclerc und Ferrari soweit hinter Red Bull zurück, das man mit Mercedes kämpfen musste, Foto: LAT Images
In Belgien lagen Leclerc und Ferrari soweit hinter Red Bull zurück, das man mit Mercedes kämpfen musste, Foto: LAT Images

Du hast Spa als Wendepunkt angesprochen, wie war es mit Ungarn? Habt ihr da nicht schon gemerkt, dass sich die Leistungsbalance verschoben hat?
Charles Leclerc: Nicht wirklich, weil unser erster Stint relativ okay war. Dann haben wir eine Entscheidung getroffen, die schwierig war - und von da an war es ein viel schwierigeres Rennen für uns. Aber das gehört zum Rennsport dazu, daraus müssen wir unsere Lehren ziehen und uns in Zukunft verbessern. Es gab aufeinanderfolgende Rennen bei denen ich irgendwann nicht mehr das Licht am Ende des Tunnels gesehen habe. Wir haben Rennen für Rennen viele Punkte verloren und Ungarn war leider eines davon.

Was ist das größte Problem: Der Performance-Unterschied oder die Zuverlässigkeit und einige der anderen Probleme, die das Team hatte?
Charles Leclerc: Ich denke nicht, dass der Leistungsunterschied riesig ist. Wir waren die gesamte Saison über sehr konkurrenzfähig. Das Problem ist, dass wir es nicht bei jedem Grand Prix perfekt umgesetzt haben. Dadurch haben wir viele Punkte verloren. Aus unterschiedlichen Gründen kam es am Sonntag nicht zusammen und daran müssen wir als Team arbeiten, um besser zu sein und mit so einem leistungsfähigen Auto am Ende des Tages mehr solide Ergebnisse zu erzielen.

Die Zuverlässigkeit stimmte bei Ferrari nicht, mehrere technische Defekte, dazu unzuverlässige Strategien, Foto: LAT Images
Die Zuverlässigkeit stimmte bei Ferrari nicht, mehrere technische Defekte, dazu unzuverlässige Strategien, Foto: LAT Images

Sprechen wir gerade mit einem enttäuschten oder einem auf gewisse Weise erleichterten Charles Leclerc? Enttäuscht, weil Du die WM nicht gewonnen hast, aber erleichtert, weil Du gesehen hast, dass Ferrari Dir wenigstens ein siegfähiges Auto gegeben hat...
Charles Leclerc: Wenn ich einen Schritt zurückmache und das Gesamtbild betrachte, denke ich nicht, dass viele Leute vor Saisonbeginn geglaubt hätten, wie gut unsere Performance in dieser Saison war. Das ist sehr positiv. Die Leute gewöhnen sich daran, weil wir jetzt am Ende der Saison angekommen sind, aber wenn man sich 2020 und 2021 ansieht, haben wir mit der Performance gekämpft. Dennoch müssen wir jetzt den nächsten Schritt machen, damit wir um eine WM kämpfen und sie gewinnen.

Wenn Du die Saison noch einmal beginnen könntest, was würdest Du persönlich anders machen?
Charles Leclerc: Ich bin ehrlich gesagt mit der Saison sehr zufrieden. Natürlich müssen wir über meine Fehler in Imola und Frankreich sprechen, aber bei 22 Rennen wird es immer mal einen Fehler geben, besonders wenn man ans Limit geht. Ja, ich wollte in Frankreich sicherlich zu viel, obwohl es zu diesem Zeitpunkt des Rennens keinen Grund dafür gab. Genauso in Imola, wo das Beste war, meine Position zu halten und ich wollte mehr. Aber aus Fahrersicht habe ich dadurch viel mehr gelernt, was man von außen vielleicht nicht sieht. Als Fahrer arbeite ich stets an den Details, an den kleinen... nicht unbedingt Schwächen, aber man lernt aus jedem Rennen und versucht, ein besserer Fahrer zu werden. Es gibt nicht viel, was ich persönlich ändern würde. Davon abgesehen, kann ich das ohnehin nicht.

Als Sebastian Vettel vor ein paar Jahren in Deiner Situation war, sagte er, dass er mit einem nicht ganz so konkurrenzfähigen Auto eben größere Risiken eingehen musste. Dadurch geschahen Fehler. Ergeht es Euch jetzt genauso?
Charles Leclerc: Nein, denn als ich die Fehler gemacht habe, musste ich nichts ausgleichen. Ich wollte in Imola einfach gut abschneiden. In Frankreich habe ich dann einen Fehler gemacht, aber das hätte überall passieren können. Ich versuche immer, ans Limit zu gehen. Es gab den großen Fehler in Frankreich, den kleineren in Imola - aber ich kann das nicht mehr ändern. Ich habe das Gefühl, es wird mehr darüber gesprochen, als nötig ist. Klar, der Punkterückstand ist jetzt riesig, aber wie gesagt, wir müssen uns als Team am Sonntag verbessern.

Ikonische Szenen: Sebastian Vettel verliert seinen Ferrari-SF70h bei seinem Heim Grand Prix in Deutschland, für viele stellt es den Beginn des Falls des Deutschen bei den Roten dar, Foto: LAT Images
Ikonische Szenen: Sebastian Vettel verliert seinen Ferrari-SF70h bei seinem Heim Grand Prix in Deutschland, für viele stellt es den Beginn des Falls des Deutschen bei den Roten dar, Foto: LAT Images

Glaubst Du, dass aktuell zu negativ über Ferrari geredet wird? Man muss nur mal einen Blick auf Social Media werfen und überall wird Ferrari als Clowns beschimpft...
Charles Leclerc: Darauf achte ich nicht. Ich habe eben mehr über meine eigenen Fehler gesprochen. Ich bin mir sicher, dass zu dem Zeitpunkt viel Negatives kursierte, aber ich denke nicht, dass wir uns darauf konzentrieren sollten. Das hilft uns nicht weiter. Wir müssen uns auf uns konzentrieren. Ich spreche in Interviews stets lauter als alle anderen über meine eigenen Fehler und wenn wir als Team einen Fehler machen, spreche ich intern darüber und nicht öffentlich. Das ist mein Ansatz und ich bin mir sicher, dass es besser wird.

Wir Journalisten bekommen auch viel vom Ferrari-Bashing mit, selbst wir sind teilweise genervt davon. Stören Dich all diese Kommentare wirklich nicht?
Charles Leclerc: Ab einem gewissen Punkt gewöhnt man sich daran und muss einfach weitermachen. Ich möchte mich nicht darauf konzentrieren, was extern gesagt wird. Ich schaue nur auf das Team und stelle sicher, dass sie genau wissen, woran wir arbeiten müssen.

Was für eine Art Fahrer bist Du: Mischst du dich ein, wenn im Team etwas schiefgeht, oder sagst Du: Das ist nicht meine Aufgabe, ich fahre nur das Auto?
Charles Leclerc: Nein, ich möchte immer meinen Input geben, um Dinge zu verbessern. Ganz sicher. In den Medien versuche ich so diskret wie möglich zu sein, aber intern versuche ich immer, mir Gehör zu verschaffen. Das ist wichtig. Am Ende geht es um Teamwork. Das Team in der Fabrik, das Team an der Strecke und der Fahrer im Auto - alles muss perfekt harmonieren.

Weil wir gerade über die Zusammenarbeit im Team sprechen: Wie ist die Zusammenarbeit mit Carlos?
Charles Leclerc: Gut. Wir kannten uns vor seiner Zeit bei Ferrari nur flüchtig, das einzige, was ich wusste, war, dass er mir einmal in Abu Dhabi gesagt hat, dass er gerne irgendwann einmal für Ferrari fahren würde. Aber unsere Beziehung ist sehr gut. Wir sind sehr kompetitiv, aber wir arbeiten zusammen, um dem Team zu helfen und wir haben viele Aktivitäten, die wir neben dem Rennsport unternehmen, was uns noch enger zusammenbringt.

Was sind Eure Stärken und Schwächen? Wo könnt ihr Euch gegenseitig helfen?
Charles Leclerc: Das ist eine schwierige Frage. Carlos arbeitet anders als ich. Aber man nimmt von jedem Teamkollegen etwas mit, um sich als Fahrer zu verbessern. Ich glaube, dass wir gut zusammenpassen. Das Wichtigste ist, dass wir wissen, wie man zusammenarbeitet, obwohl wir sehr kompetitiv sind. Carlos ist ein sehr konstanter Fahrer, egal bei welchen Bedingungen und auf welcher Strecke. Zudem ist er ein sehr harter Arbeiter. Das ist sehr wichtig für das Auto.

Es scheint sich ein kleiner Trend abzuzeichnen, dass Du am Anfang schneller bist und er im Laufe der Saison aufholt. Wird er schneller oder Du langsamer?
Charles Leclerc: [lacht] Ich hoffe, dass er schneller wird! Ich versuche immer, noch besser zu werden. In diesem Jahr fühlte ich mich auf Anhieb wohl im Auto. Ich habe fantastische Arbeit mit meinen Ingenieuren beim ersten Wintertest gemacht, um für das erste Rennen bereit zu sein. Ich wusste, was ich vom Auto wollte und das geschah ganz natürlich. Dadurch war ich zu Saisonbeginn viel unbeschwerter als er. Aber danach hat er sich gefangen und ist zurückgekommen.

In der Formel 1 stehst Du immer unter Druck, erst recht bei Ferrari. In diesem Jahr hast Du lange Zeit um die WM gekämpft. Hast du dadurch zusätzlichen Druck verspürt?
Charles Leclerc: Nein, es war eine einfachere Situation als im Vorjahr, als ich um P6 oder P7 gekämpft habe. Wenn du dann tolle Arbeit ablieferst, bemerkt es niemand. Das ist wirklich frustrierend. Aber in diesem Jahr haben es viele Leute bemerkt, wenn wir großartige Arbeit abgeliefert haben. Und wenn wir keine so gute Arbeit geleistet haben, dann haben es ebenso viele Leute bemerkt. Alles ist ein bisschen größer, aber das ist okay, ich bevorzuge es so. Das ist besser als im Schatten zu stehen und niemand bemerkt, wie hart du arbeitest. Ja, das ist mit mehr Druck verbunden, aber das spüre ich ehrlich gesagt nicht.

In Kart-Zeiten waren Charles Leclerc und Max Verstappen schon Rivalen, dieses Jahr kämpften sie um die Krone der Königsklasse, Foto: LAT Images
In Kart-Zeiten waren Charles Leclerc und Max Verstappen schon Rivalen, dieses Jahr kämpften sie um die Krone der Königsklasse, Foto: LAT Images

In Imola hast du auch über Dein Verhältnis zu Max gesprochen. Hat sich Deine Beziehung zu ihm seitdem verändert? Ist sie jetzt respektvoller?
Charles Leclerc: Es ist eine reifere Beziehung. Im Kartsport waren wir 13 oder 14 Jahre alt und wir befanden uns in einer anderen Situation. Jetzt ist es ganz anders. Aber ich habe zu Jahresbeginn bereits gesagt, wenn wir am Saisonende gegeneinander kämpfen, bin ich mir sicher, dass die Beziehung intensiver werden würde. Das gehört zum Sport dazu. Max hat großartige Arbeit geleistet und ich habe viel Respekt vor dem, was er erreicht hat. Ich weiß, wie weit wir es gemeinsam gebracht haben seit unserer gemeinsamen Kartzeit. Damals haben wir beide davon geträumt, eines Tages in der Formel 1 zu fahren - und jetzt sind wir beide hier. Natürlich respektiere ich ihn.

Bei unserem letzten großen Print-Interview, damals noch bei Alfa-Sauber, hieß es schon vorab: Keine Fragen zu Sebastian Vettel und Ferrari. Jetzt können wir über Seb sprechen. Habt ihr noch Kontakt?
Charles Leclerc: Natürlich. Wir senden uns nicht jede Woche Nachrichten, aber wenn etwas ansteht, schreiben wir uns immer.

Wirst du ihn vermissen?
Charles Leclerc: Ich glaube, wir werden ihn alle vermissen. Seb ist ein sehr, sehr netter und wirklich freundlicher Mensch. Jeder wird ihn im Paddock vermissen.

Sebastian Vettel und Charles Leclerc waren bei Ferrari Teamkollegen, Leclerc konnte einiges vom vierfachen Weltmeister lernen, Foto: LAT Images
Sebastian Vettel und Charles Leclerc waren bei Ferrari Teamkollegen, Leclerc konnte einiges vom vierfachen Weltmeister lernen, Foto: LAT Images

Hast du etwas Spezielles von ihm gelernt?
Charles Leclerc: Er ist der härteste Arbeiter im Formel-1-Fahrerlager, ganz sicher. Als ich von Alfa Romeo gekommen bin, kam ich am Morgen locker an und er saß bereits seit eineinhalb Stunden im Büro. Das habe ich von ihm übernommen, denn jetzt komme ich ziemlich früh an und gehe erst sehr spät. Aber beim ersten Mal habe ich mich gefragt: Warum macht er das? Wofür braucht er so viel Zeit? Mit mehr Erfahrung und je mehr ich mit ihm gesprochen habe, desto mehr habe ich gesehen, dass es kleine Details gibt, um die ich mich am Anfang nicht gekümmert habe - er aber schon. Das hat einen Unterschied ausgemacht. Ich habe viele Dinge von ihm gelernt, gerade zu diesem Zeitpunkt meiner Karriere, als ich noch sehr jung war, war es gut, einen erfahrenen Piloten wie Seb an meiner Seite zu haben.

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