Dieser Artikel erschien in Ausgabe 85 unseres Print-Magazins und damit vor dem Wechsel von Oscar Piastri zu McLaren. Am Ende des Jahres veröffentlichen wir traditionell einen kleinen Teil unserer Print-Artikel kostenfrei auf der Website. Viel Spaß beim Lesen!

Es ist Hammer-Time!
Laute Beats dröhnen durch die Garage, während fleißige Mechaniker-Hände den aufgebockten Boliden nach einem langen Testtag säubern, die Bremsen überprüfen und Kühlflüssigkeiten austauschen. Direkt um die Ecke steht hinter einer Boxenstellwand verborgen ein einsames Teammitglied, das einen leicht beschädigten Unterboden einer Do-It-Yourself-Schönheitskur unterzieht.

Nur wenige Meter von ihm entfernt, zwischen einer vor neugierigen Blicken notdürftig versteckten Power Unit und einem völlig entblößten Getriebe, klopft ein eher unauffällig wirkender junger Mann, gekleidet in einem dunkelgrauen T-Shirt und einer schwarzen Jeans, mit gezielten Schlägen auf einen Karbonsitz ein. Nur die Tricolore auf der Schuhzunge seiner dunkelblauen Sneaker lässt vielleicht erahnen, dass der 21-Jährige in irgendeiner Art und Weise mit dem Alpine F1 Team in Verbindung steht. Tatsächlich ist er der Star des Tages.

Rund elf Stunden zuvor trifft Oscar Piastri im größtenteils verwaisten Fahrerlager am Red Bull Ring ein. Kurz darauf folgen ein Krankenwagen und ein Rettungshubschrauber, der sich langsam auf dem Landeplatz hinter dem Boxengebäude niederlässt. Nur drei schwarze Renntransporter, die mit einem leuchtenden, blauen Alpine-Logo versehen sind, deuten darauf hin, dass hier an diesem Tag Track-Action zu erwarten sein könnte. Noch ist in der Boxengasse jedoch nur das unermüdliche, fröhliche Zwitschern der Vögel zu vernehmen. Dabei ist zu diesem Zeitpunkt schon so gut wie alles bereit für den ersten von zwei privaten Formel-1-Testtagen, die das Team für seinen Ersatzfahrer angesetzt hat.

Oscar Piastri konnte bei Alpine wichtige Testkilometer sammeln, Foto: LAT Images
Oscar Piastri konnte bei Alpine wichtige Testkilometer sammeln, Foto: LAT Images

Ähnliche Tests absolvierte Alpine in der Vergangenheit schon mit seinen Academy-Fahrern Christian Lundgaard und Guanyu Zhou. Für das hochgehandelte Supertalent aus Australien schalten sie aber noch einmal einen Gang höher und geben ihm in diesem Jahr die Möglichkeit, auf acht bis neun Strecken Privattests zu absolvieren. "Alle davon sind GP-Strecken", verrät Andrew Alsworth, seines Zeichens Support Team Manager bei Alpine.

"Oscar war schon in Austin und Doha, wir wollten auch nach Suzuka, aber das war aufgrund der COVID-Regeln leider nicht möglich. Stattdessen sind wir nach Katar gegangen." Nach den beiden Testtagen Anfang Juni in Spielberg stehen für Piastri noch fünf bis sechs weitere Tests auf europäischen Rennstrecken auf dem Plan. Jeder davon muss vorher bis ins Detail bei der FIA angemeldet werden. Kombiniert mit seinen Pflichten als Reservefahrer an den Rennwochenenden bedeutet dies, dass Piastri seit Saisonbeginn bestenfalls für drei Wochen zuhause war.

Für den Test ist Alpine mit einer 25 Personen starken Truppe in die Steiermark gereist, inklusive Piastri und seinem Physiotherapeuten. Darunter sind fünf Motorenexperten aus der Renault-Fabrik in Viry-Châtillon, die sich um die Power Unit kümmern. Der Rest sind Mechaniker und Ingenieure aus dem Teamsitz in Enstone. "Wir nutzen dieses Programm nicht nur dazu, um die Fahrer zu trainieren, sondern auch die Mechaniker und Ingenieure", verrät Alsworth. Der Test stellt eine gute Möglichkeit dar, um die Teammitglieder darauf vorzubereiten, ins Rennteam aufzusteigen. Aber das ist nur ein positiver Nebeneffekt.

Der große Aufwand, den das Team organisatorisch, personell und finanziell betreibt (wobei sie die Kosten nicht genau beziffern möchten; hinter vorgehaltener Hand hört man von unterschiedlichen Teams, dass so ein Privattest bis zu einer halben Million kostet, bei Überseetests sogar noch mehr), lässt nur einen Rückschluss zu: Piastri soll zu ihrem nächsten F1-Star aufgebaut und bestmöglich auf sein GP-Debüt vorbereitet werden. Alles dreht sich um ihn, alles ist auf ihn ausgerichtet, alle arbeiten nur für ihn. Das klingt nach jeder Menge Druck für die durchtrainierten, aber keinesfalls Bodybuilder-artigen Schultern des 21-Jährigen.

Piastri lässt sich von solchen Gedankengängen nicht beeinträchtigen, und wenn doch, lässt er es sich zumindest nicht anmerken. Vielleicht steckt er aber auch einfach nur im typischen Rennfahrertunnel, mit dem Supertalente wie er bereits in den Nachwuchsserien aufwachsen. "Das Auto verändert sich nicht mehr, es hat sein Leben als Rennauto hinter sich und existiert nur noch zu Testzwecken", erklärt Piastri wenig emotional. "So gesehen sind diese Tests für mich ähnlich wie in den Nachwuchsklassen.

Dort bekommt jeder das gleiche Auto, an dem man dann am Setup herumspielen kann. So ähnlich ist es jetzt auch. Es geht zu 99 Prozent um meinen Lernprozess. Das ist großartig." So kann er sich an den Speed eines F1-Rennwagens und die Auswirkungen von Setupveränderungen gewöhnen. Druck? Die Tatsache, dass 25 Leute nur nach Spielberg gereist sind, damit er dort einsam und allein seine Runden drehen kann? Völlig normal in seiner Rennsportwelt. "Es ist ein enormes Engagement von beiden Seiten", fügt Piastri dann aber doch an.

Oscar Piastri konnte die Formel 2, als auch Formel 3 schon in seinem Rookie-Jahr gewinnen, beide mit Prema, Foto: LAT Images
Oscar Piastri konnte die Formel 2, als auch Formel 3 schon in seinem Rookie-Jahr gewinnen, beide mit Prema, Foto: LAT Images

Nachdem er sowohl die Formel 3 als auch die Formel 2 in seinem Rookie-Jahr gewonnen hatte, stellte sich für ihn im vergangenen Winter die offensichtliche Frage: Wie geht es jetzt weiter? "Ende letzten Jahres haben wir darüber gesprochen, ob ich in einer anderen Rennserie antreten würde, vielleicht Sportwagen oder so etwas, oder ob ich ein Testprogramm mit dem 2021er Auto absolvieren sollte." Es war sein persönlicher Wunsch, nicht in irgendeiner anderen Rennserie zu starten. "Ich hatte das Gefühl, dass es mir viel mehr bringen würde, wenn ich ein F1-Auto testen würde, als wenn ich woanders Rennen fahre, wo einige der Erkenntnisse sich nicht unbedingt auf die Formel 1 übertragen lassen."

Natürlich würde er gerne Rennen fahren, sonst wäre er kein Rennfahrer, "aber ein solches Testprogramm ist sehr selten und Alpine zeigt damit, dass sie sich fest vorgenommen haben, mir die Möglichkeit zu geben, mich einzugewöhnen und so viel wie möglich zu lernen, damit ich nächstes Jahr hoffentlich in der Startaufstellung stehen kann." Eine Nachfrage, welche Startaufstellung er damit meint, erübrigt sich angesichts der Überzeugung und Offenheit, mit der er diese Worte ausspricht.

Bis dahin muss er sich mit einem Boliden aus der Saison 2021 zufrieden geben, genau genommen einem Alpine A521 mit der Chassis-Nr. R20B-06. Also jenem Fahrzeug, mit dem Fernando Alonso in Katar aufs Podium gefahren ist. Die Chassis-Bezeichnung erinnert noch an den direkten Vorgänger des Teams, nämlich das Renault-Werksteam vor der Umbenennung in Alpine, mit der auch die Änderung des Fahrzeugnamens auf A521 erfolgte. So lange sich die Bosse aus Frankreich nicht in Hörweite befinden, verwenden die alteingesessenen britischen Teammitglieder allerdings auch heute noch die gewohnte Fahrzeugbezeichnung R.S.21. Abgesehen vom Namen ist das Auto unverändert, so schreibt es das FIA-Reglement für das Testen von Vorjahresfahrzeugen vor. Neue Teile sind nicht erlaubt.

"Das Auto muss genau so sein, wie es bei den Renneinsätzen war", verrät Dominic Hale, Race Support Team Engineer. "Der einzige Unterschied sind die Reifen, die eine spezielle Mischung von Pirelli für solche Tests sind." Auch an den Power Units darf keine Weiterentwicklung betrieben werden. "Sie müssen exakt so sein wie in dem Jahr, in dem sie eingesetzt wurden", wiederholt Hale. Die Motoren stammen aus dem Pool von 2021, d.h. die Power Units wurden nicht nach den Original-Plänen extra für den Test neu gebaut.

Da sie allerdings schon einen gewissen Lebenszyklus hinter sich haben, ruft das Team nicht auf jeder Runde die volle Qualifying-Leistung ab. "Damit wir sie für ein oder zwei Jahre einsetzen können", betont Hale. "Aber wenn wir die ultimative Performance abrufen möchten, steht diese wie in der Rennsaison zur Verfügung." Neben dem vollständigen Fahrzeug hat das Team ein Ersatzchassis, einen Ersatzmotor und zwei Ersatzgetriebe mit dabei. "Alles in allem ein komplettes Auto und zwei oder drei Sätze an Ersatzteilen", verrät Alsworth.

Noch gibt es aber keinen Grund, von der reichhaltigen Ersatzteilsammlung Gebrauch zu machen. Der R.S.21 aka A521 steht noch seelenruhig in der Box. Punkt 9:00 Uhr schaltet die Boxenampel auf Grün. Doch das Auto bewegt sich keinen Millimeter. Ein Problem mit dem Kopfschutz verzögert die erste Ausfahrt. Von Hektik fehlt jedoch jede Spur. Schließlich ist es kein Rennwochenende, auch solche Situationen und der Umgang mit diesen will gelernt sein. Um 9:18 Uhr verlässt das Auto mit der Startnummer 81 erstmals die Boxengasse, nur um nach einer Runde schon wieder zurückzukehren.

Der Sitz passt nicht, fühlt sich unbequem an. Es folgt die nächste Pause, in der das Team mehr Polsterung anbringt. Nach rund 460 km und einem ausführlichen Debriefing mit den Ingenieuren gesteht uns Piastri am Ende des Testtages: "Ich habe es überlebt! Und ich musste die Kopfstütze nicht benutzen. Das war schon ein paar Mal der Fall, worauf ich nicht stolz bin, aber heute war alles gut!" Note 1 für die körperliche Fitness des Australiers.

Oscar Piastri wurde mit mehreren Tests gut auf die Königsklasse vorbereitet, Foto: Motorsport-Magazin.com
Oscar Piastri wurde mit mehreren Tests gut auf die Königsklasse vorbereitet, Foto: Motorsport-Magazin.com

Im Rahmen des Tests nimmt das Team immer wieder Veränderungen am Setup vor, die es normalerweise auch im Laufe einer Saison auf den jeweiligen Strecken durchlaufen würde. Da Piastri im Vorjahr an den Debriefings mit den Einsatzfahrern teilgenommen hat, spürt er jetzt selbst, wie sich die besprochenen Änderungen im Auto anfühlen und kann daraus seine eigenen Schlüsse ziehen. "Wir versuchen, Oscar einzugewöhnen und ihm beizubringen, wie er den Speed aus dem Auto herausholen kann", erklärt Dominic Hale.

"Damit er im Laufe seiner Karriere bereits weiß, wie er das Auto abstimmen möchte." Ein Großteil des Feedbacks basiert auf Piastris Gefühl im Auto. "Also Dinge, die ich im Hinterkopf behalten kann", so der Australier, "wenn ich mich dann in einem Wettbewerbsumfeld befinde." Erneut wird ohne Umschweife das klare Ziel an- und ausgesprochen: Piastri soll auf Renneinsätze vorbereitet werden. Gleichzeitig involviert das Team über die verschiedenen Tests verteilt weitere Ingenieure, etwa Aero- oder Reifen-Spezialisten, die Piastri Informationen geben, die er als Einsatzfahrer erhalten würde. "Etwa einen Performance-Ingenieur, der ihm erklärt, wie die Bremssysteme funktionieren oder wie er auf die Bremsen achten sollte."

Viele Lehren von den alten Autos lassen sich auf die neue Generation übertragen. "Zum Beispiel wie die Schalter am Lenkrad funktionieren, wie ich das Differenzial verstellen kann und solche Dinge", sagt Piastri. "So gesehen ist es sehr hilfreich, all das zu verstehen - und am Ende ist es immer noch ein Formel-1-Auto." Und wenn er damit in der Realität über eine echte Rennstrecke jagt, lernt er dabei deutlich mehr, als wenn er mit einem virtuellen 2022er Modell im Simulator seine Runden drehen würde.

"Nichts ist wie das Fahren in einem echten Auto", betont Piastri. "Die Simulatoren in der Formel 1 sind sehr genau, aber du spürst den Wind nicht im Gesicht, auf dir lasten nicht die gleichen g-Kräfte, es ist niemals das gleiche." Das Reglement schreibt seit dieser Saison auch zwei verpflichtende Einsätze eines Junior-Fahrers im Freien Training vor. Aber auch dem gegenüber hat ein privater Testtag Vorteile: Während ein Fahrer im FP1 im besten Fall vielleicht 30 Runden fährt, konnte Piastri am ersten Tag in Spielberg locker über 100 Umläufe zurücklegen.

Als besonders ehrgeiziger und kompetitiver Spitzensportler wäre Piastri selbstverständlich am liebsten schon in dieser Saison zum Stammfahrer aufgestiegen. Aber sein Testprogramm gibt ihm die Möglichkeit, viele Herausforderungen kennenzulernen, die moderne Rennfahrer abseits des Fahrens bewältigen müssen, etwa Medientermine, Autogrammstunden oder Reisestrapazen. "Ich kann herausfinden, wann man trainiert, wie man sich die Zeit am besten einteilt", sagt er. Als Ersatzfahrer kann er all diese Aufgaben an einem Rennwochenende lernen, ohne sich gleichzeitig auf das Fahren konzentrieren zu müssen. "Wie viel Zeit kann ich für jede Aufgabe aufbringen? Darüber musste ich mir vorher noch nie Gedanken machen. Das jetzt ohne den Leistungsdruck im Cockpit zu erlernen, ist sehr hilfreich."

Die große Frage lautet aber natürlich: Fühlt Piastri sich denn bereit für die Formel 1? "Ich hoffe es!", schießt es aus ihm heraus. "Ich habe in meiner bisherigen Laufbahn bewiesen, dass ich auf der Strecke abliefern kann. Dieses Jahr war ein Augenöffner dafür, was es bedeutet, ein F1-Fahrer zu sein. Nachdem ich diese Seite jetzt auch kennengelernt habe, denke ich, dass ich mehr als bereit bin für die Formel 1." F1-Auto fahren und abstimmen? Check. Medien- und Öffentlichkeitsarbeit? Check. Auch mal selbst zum Hammer greifen, um den Sitz zu korrigieren? Check. Oscar Piastri in der Formel 1? Es ist angerichtet.

Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten: Fast genau auf den Tag einen Monat nachdem wir Piastris Test in Spielberg besucht hatten, unterschrieb der Australier seinen ersten Vertrag als Formel-1-Einsatzfahrer - bei McLaren.

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