Die Formel 1 befindet sich in der Saison 2022 in der Sommerpause. Grund genug für Motorsport-Magazin.com, die erste Saisonhälfte der einzelnen Teams genauer unter die Lupe zu nehmen. Heute: McLaren und die Frage: Reicht ein punktender Pilot für Platz 4?

Ziel vs. Realität:
McLaren gab sich vor der Saison realistisch: Solange die neuen Infrastrukturprojekte, vor allem der im Bau befindliche Windkanal, nicht fertig sind, wird das Traditionsteam kaum mit Red Bull, Mercedes und Ferrari konkurrieren können. Den Rückstand auf die Spitze reduzieren und die Top-Teams hin und wieder ärgern wollten Lando Norris und Daniel Ricciardo trotzdem. Von Podestplätzen war die Rede. Die Realität der Saison 2022 sieht anders aus. Der MCL36 ist nicht so konkurrenzfähig wie das Vorjahresmodell. Anstatt die Spitze zu ärgern, läuft das Team aus Woking sogar Gefahr, das Duell um den vierten Platz in der Konstrukteurswertung gegen Alpine zu verlieren.

Bei der Teamvorstellung im Februar sprachen Ricciardo und Norris noch von regelmäßigen Podestplätzen, Foto: McLaren
Bei der Teamvorstellung im Februar sprachen Ricciardo und Norris noch von regelmäßigen Podestplätzen, Foto: McLaren

Entwicklung:
Die Saison begann für McLaren katastrophal. Bremsprobleme beim Test in Bahrain behinderten das Team enorm und verhinderten das Sammeln wichtiger Daten. McLaren musste sein Auto erst im Verlauf der ersten Rennen kennenlernen, was überraschend früh Früchte trug. In Australien und Imola fuhren die Papayas satte Punkte ein und sicherten sich einen deutlichen Vorsprung auf die Konkurrenz im Mittelfeld. Seitdem hat Alpine diesen Vorsprung aber sukzessiv aufgeholt. Das Team von Andreas Seidl hingegen konnte nicht mehr zweistellig punkten. Ein großes McLaren-Update beim Grand Prix in Barcelona brachte keinen signifikanten Schritt nach vorne. Das zweite große Paket kam in Frankreich ans Auto und machte mehr Hoffnung. Bisher war jedoch nur Lando Norris in der Lage, dieses Potential zu nutzen. Daniel Ricciardo plagt sich mit dem MCL36 noch mehr als mit dem MCL35M.

McLaren nicht konstant: Podium und Punktelosigkeit

Der Höhepunkt: Podium in Imola
Das Saisonhighlight bei McLaren ist klar. In Imola holte Lando Norris das bisher einzige Podest eines Piloten der nicht bei Red Bull, Ferrari oder Mercedes fährt. Schon im Qualifying und im Sprint sicherte sich der Brite Spitzenpositionen. Im Rennen profitierte er dann vom späten Fahrfehler bei Charles Leclerc im Ferrari, der den Monegassen auf Platz 6 zurückwarf. Die Sensation war perfekt und dank der zusätzlichen Punkte aus dem Sprint verließ McLaren Italien mit satten 22 Zählern, das beste Ergebnis eines Mittelfeldteams in dieser Saison.

Das Saisonhighlight: Lando Norris auf dem Podest in Imola, Foto: LAT Images
Das Saisonhighlight: Lando Norris auf dem Podest in Imola, Foto: LAT Images

Der Tiefpunkt: Ein Auftakt zum vergessen
Dreimal blieb McLaren 2022 schon punktelos, aber nie war das Traditionsteam so chancenlos wie beim Saisonauftakt in Bahrain. Beim Test eine Woche zuvor plagten den MCL36 massive Bremsprobleme. Eine Fehlkonstruktion der Lufteinlässe sorgte für Überhitzungen. Zum ersten Rennen musste das Auto mit einer provisorischen Lösung aus dem 3D-Drucker antreten. Die Folgen waren klar ersichtlich: Lando Norris und Daniel Ricciardo waren schon ab der zweiten Runde des Bahrain Grand Prix gezwungen, mit allen Systemen zu haushalten, um das Auto überhaupt auf den Plätzen 14 und 15 ins Ziel tragen zu können. Von Punkten aus eigener Kraft war man an diesem Sonntag weit entfernt.

In Bahrain entging McLaren nur knapp der roten Laterne, Foto: LAT Images
In Bahrain entging McLaren nur knapp der roten Laterne, Foto: LAT Images

Norris stark, Ricciardo in der Krise

Lando Norris:
Der Brite holt für McLaren die Kohlen aus dem Feuer. Fast im Alleingang hält er den Kampf mit Alpine um den vierten Platz in der Konstrukteurswertung aufrecht. Mit 76 Punkten führt er die Wertung der Mittelfeldfahrer deutlich an. Norris punktet regelmäßig, macht so gut wie keine Fehler und stellt den McLaren im Qualifying hin und wieder sogar vor Boliden der Spitzenteams. Gut für das Team, dass es den Vertrag mit dem hauseigenen Supertalent frühzeitig bis 2025 verlängerte. In seiner aktuellen Form könnte der 22-Jährige auch bei anderen Teams Begehrlichkeiten wecken.

Durchschnittsnote MSM-Fahrerranking: 2,19 (P4)

Daniel Ricciardo:
Der Australier ist das Sorgenkind bei McLaren. Der achtmalige Grand-Prix-Sieger gibt dem Team ein Rätsel nach dem anderen auf. So gut wie immer, wenn Ricciardo einen Fortschritt zeigt, folgt beim nächsten Rennen ein Rückschlag. In den letzten fünf Rennen sammelte der Mann aus Perth 4 Punkte, Norris fuhr in diesem Zeitraum deren 26 ein. Ricciardo ist ein Sympathieträger, teamintern und bei den Fans, doch seine aktuelle sportliche Situation kann auch er nicht mehr weglächeln. Es ist daher nicht überraschend, dass McLaren zur Zeit scheinbar alles daran setzt, ihn nächstes Jahr durch Landsmann Oscar Piastri zu ersetzen.

Durchschnittsnote MSM-Fahrerranking:3,36 (P17)

Kommentar: Platz 4 muss das Ziel sein

Motorsport-Magazin.com meint: Mit Blick auf den Punktestand von Lando Norris sollte der vierte Platz in der Konstrukteurswertung eigentlich Formsache sein, doch bei McLaren ist es angesichts der Formkrise von Daniel Ricciardo nicht untertrieben, von einem Ein-Mann-Team zu sprechen. Bei der Konkurrenz von Alpine punkten Esteban Ocon und Fernando Alonso regelmäßig. Bestes Beispiel: Beim letzten Rennen auf dem Hungaroring fuhr Lando Norris auf Platz 7 und distanzierte die beiden Alpine deutlich. Da diese jedoch die Plätze 8 und 9 belegten, holte McLaren trotz besserer Pace keinen Punkt auf. Sich darauf verlassen, dass die Vertragsgeplänkel bei Alpine dem Konkurrenten auch auf der Rennstrecke schaden, kann McLaren nicht.

Wenn sich Woking wie im Vorjahr den vierten Platz sichern will, braucht es eine Steigerung in der zweiten Saisonhälfte. Die Pace des in Frankreich eingeführten Update-Pakets macht Hoffnung, dass McLaren auf vielen Strecken das viertschnellste Auto stellen könnte. Dennoch wird es Lando Norris kaum allein richten können. Daniel Ricciardo muss sich steigern und wenigstens einen soliden Beitrag an Punkten leisten, sonst fährt der Zug zu WM-Platz 4 trotz schnellerem Auto schnurstracks an Woking vorbei und weiter nach Enstone.