Der Aufruhr war groß, als der Mercedes bei den Testfahrten in Bahrain die Garage verließ. Aus dem konventionell wirkenden Modell des Barcelona-Tests war das wohl radikalste Auto der neuen Fahrzeuggeneration geworden. Besonders auffällig waren dabei die Seitenkästen bzw. deren Fehlen. Die extrem eng anliegende Verkleidung erzeugt einen riesigen freien Bereich über dem Unterboden, der den Luftfluss begünstigen soll. Im Paddock fürchteten viele, dass Mercedes der nächste Technikcoup gelungen war.

Anstatt jedoch die Formel-1-Saison, wie bei der letzten großen Regelrevolution 2014, zu dominieren, kämpft Mercedes um den Anschluss an die Spitzenteams von Red Bull und Ferrari. Vor allem die unerwarteten Phänomene des Porpoising, Bouncing und Bottoming bereiteten den Ingenieuren Kopf- und den Fahrern Rückenschmerzen. Diese drei Problemfelder wirken von außen ähnlich, sind aber tatsächlich unterschiedlich, wie Christian in unserem Video erklärt.

FIA greift durch! Mercedes großer Verlierer? | Formel 1 2022 (15:06 Min.)

Die laut dem Team vielversprechenden Daten aus dem Windkanal kamen unter anderem wegen dieser gravierenden Probleme nicht auf der Strecke an und Lewis Hamilton sowie sein neuer Teamkollege George Russell fanden sich, zumindest im Qualifying, häufig im ungewohnten Mittelfeld wieder, anstatt um die Spitze zu kämpfen.

Seit Saisonbeginn arbeitet Mercedes eifrig an einer Lösung der Probleme. Der erste größere Schritt dazu fand laut dem Technischen Direktor, Mike Elliot, in Spanien den Weg an den W13: "Wenn man das Auto ansieht, dann ist es sehr klar, dass wir in Barcelona eine große Änderung vorgenommen haben in der Art und Weise, die Aerodynamik zu benutzen. Damit ist uns ein guter Eingriff in das Bouncing gelungen." Laut dem Briten gab es dafür aber auch einen Preis zu zahlen: "Allerdings haben wir das vermutlich durch einen Kompromiss beim eigentlichen aerodynamischen Potential des Autos erreicht."

Oben der Barcelona-Test mit, unten der Bahrain-Test ohne Seitenkästen, Foto: LAT Images
Oben der Barcelona-Test mit, unten der Bahrain-Test ohne Seitenkästen, Foto: LAT Images

Sichtbare Teile des Mercedes machen nicht den Unterschied

Um das Bouncing einzudämmen wird das Team aus Brackley also vermutlich einen Teil des im Windkanal erkannten Potentials aufgeben müssen. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob es sich dann überhaupt noch um ein vielversprechendes Konzept handelt oder ob Mercedes doch einen anderen Weg einschlagen sollte. Elliot will diese Frage allerdings nicht auf das Thema Seitenkästen reduziert sehen: "Die Leute sehen sich die Unterschiede zwischen den Autos an und denken: Das ist massiv anders. Da muss der große Unterschied sein. Ein Aerodynamiker wird ihnen sagen, dass die wirklich wichtigen Teile der Unterboden, die Flügel und die aerodynamischen Schlüsselstrukturen sind. Obwohl die Verkleidung dort mit hereinspielt, ist es nicht das definierende Bauteil. Die Schwierigkeit mit den schmalen Seitenkästen ist ein großer ausladender Unterboden. Die Steifigkeit dieses Bauteils zu managen, ist eine Herausforderung."

Der Unterboden des Mercedes ist laut Mike Elliot wesentlich entscheidender als die Seitenkästen, Foto: LAT Images
Der Unterboden des Mercedes ist laut Mike Elliot wesentlich entscheidender als die Seitenkästen, Foto: LAT Images

Da sich Mercedes immer noch in der Kennenlernphase mit den neuen Regeln befindet, ist auch der Jahresplan des Teams über den Haufen geworfen: "In einem normalen Jahr wäre der Fokus das Beste aus der aktuellen Saison herauszuholen, im Wissen, was wir für nächstes Jahr tun müssen. Momentan geht es aber nur darum, ein Verständnis zu entwickeln, weil wir wissen müssen, was wir überhaupt für nächstes Jahr machen sollen. Wir werden also weiterhin experimentieren, um den richtigen Kurs für das nächstjährige Auto zu sichern."

Mercedes blickt zu Konkurrenz: Was machen Red Bull und Co.?

Häufig hat man in den letzten Jahren gesehen, wie erfolgreiche Fahrzeugkonzepte nachgeahmt wurden. Aston Martin wurde zuletzt eine Kopie der Seitenkästen des Red Bulls vorgeworfen. Auch Elliot sieht kein Problem darin, über die Lösungen der Konkurrenz nachzudenken: "Es wäre dumm, nicht so bescheiden zu sein, dass du darüber nachdenkst, es möglicherweise falsch gemacht zu haben und dann siehst du dir an, was die anderen gemacht haben. Das ist nicht nur das Red-Bull-Konzept, sondern man sieht sich alle Konzepte im Feld an und sucht nach etwas Interessantem."

Was beim Studium der Konkurrenz herauskommen könnte, konnte der 48-Jährige nicht sagen: "Als ein Ex-Aerodynamiker kann ich sagen, dass du vor allem versuchst zu verstehen, was im Bereich der Luftströmung passiert. Du musst herausarbeiten, was du mit der Luftströmung machen musst und dann entwickelst du die Verkleidungsstruktur darauf basierend. Wir fragen uns also: Was macht die Red-Bull-Verkleidung und warum macht sie das? Dasselbe gilt für alle anderen Teams im Feld. Wir sehen, was wir von ihnen lernen können und was wir selbst anwenden können. Dann werdet ihr vielleicht noch dieses Jahr Veränderungen sehen, oder ihr seht sie nächstes Jahr. Vielleicht bleiben wir auch bei dem, was wir haben. Das sind die Fragen, die wir versuchen, zu beantworten."

Mike Elliot ist seit 2021 technischer Direktor bei Mercedes, Foto: Mercedes
Mike Elliot ist seit 2021 technischer Direktor bei Mercedes, Foto: Mercedes

Noch keine Konzept-Entscheidung gefallen, aber die Zeit drängt

Normalerweise beginnt jedoch bereits im Juni die Konzeptionsphase für das nächstjährige Auto, doch in Sachen Aerodynamik hat Mercedes laut seinem Technischen Direktor noch etwas Zeit. "Mit der groben Architektur des Autos musst du jetzt bereits beginnen. Die Details der äußeren Form und der Aerodynamik kommen aber erst später", erläuterte er. Je nach dem Ergebnis der eigenen Experimente, hält sich Mercedes also die aerodynamischen Optionen offen.

Je länger das Team jedoch braucht, um sich für ein Konzept zu entscheiden, desto weniger Entwicklungszeit werden die Ingenieure zur Verfügung haben. Nur eines scheint derzeit klar: Die Frage des Konzepts des nächstjährigen Mercedes hängt nicht nur von den Seitenkästen ab. "Der Teil der Verkleidung, der sichtbar anders ist, ist nicht der entscheidende Unterschied. Es ist nur ein Detail im Design des Unterbodens", bekräftigte Elliot auf erneute Nachfrage.

Toto Wolff: Die Seitenkästen könnten wir ganz leicht ändern!

Mercedes-Teamchef Toto Wolff möchte sich ebenfalls noch nicht in die Karten schauen lassen. Er beteuert bereits seit etlichen Rennen, dass seine Mannschaft zunächst das aktuelle Auto und dessen Probleme verstehen lernen müsse, bevor man Entscheidungen treffen könne. Gleichzeitig wiederholt er gebetsmühlenartig, dass durch die konstanten Regeln alle Fortschritte aus diesem Jahr auf das nächstjährige Auto übertragen werden könnten.

Toto Wolff will keine Konzept-Schnellschüsse bei Mercedes, sondern ein Verständnis der neuen Regeln, Foto: LAT Images
Toto Wolff will keine Konzept-Schnellschüsse bei Mercedes, sondern ein Verständnis der neuen Regeln, Foto: LAT Images

„Wenn wir uns für ein anderes Konzept entscheiden wollten, ist die Basis dafür, dass wir verstehen, warum das aktuelle nicht funktioniert“, erklärte Wolff. „Aber die Antwort auf diese Frage kennen wir im Moment noch nicht.” In diesem Zuge stimmt er seinem Technikchef zu: die schmalen Seitenkästen seien nur von außen gut sichtbar. „Aber sie haben den geringsten Einfluss auf unsere aktuellen Probleme und die Performance.“ Die eigentlichen Problemfelder seien die Aerodynamik des Autos und die Schwierigkeiten mit der Bodenfreiheit. „Wenn es nur die Seitenkästen wären, könnten wir das ganz leicht ändern.“ Das hat Mercedes bereits zwischen den Tests in Barcelona und Sakhir bewiesen. Das Ergebnis ist bekannt.