Mindestens zwei große und zusammenhängende Faktoren stellen die zehn Formel-1-Teams vor und in der Saison 2022 vor die vielleicht größte Herausforderung ihres Bestehens: Während eine mit nun 140 Millionen US-Dollar nochmals verschärfte Budgetgrenze greift, müssen Mercedes, Red Bull & Co ihre neuen Boliden völlig neu denken und konzipieren. Das revolutionäre Technische Reglement ab der Saison 2022, fast doppelt so lang und mit grundlegend anderen Vorgaben als zuvor, erfordert einen Start mit einem nahezu weißen Blatt Papier. Hinzu kommen teilweise weiter greifende Corona-Regeln, die Arbeitsprozesse und Kommunikation in der Fabrik erschweren.

"Die meisten Jahre nutzten wir Teile des vorherigen Autos - oder modifizierten sie zumindest. Aber das ist beim MCL36 nicht der Fall. Es ist komplett neu und das setzt unsere Ressourcen natürlich drastisch unter Druck und belastet auch unsere Lieferkette", berichtet McLarens Betriebsdirektor Piers Thynne in einem aufschlussreichen Hintergrund-Interview auf der Website des Traditionsteams aus Woking. Die Anzahl der verwendeten Materialien sei ähnlich wie in jedem anderen Jahr. "Aber dieses Jahr laufen wir heißer und haben in der Fabrik und entlang der Lieferkette etwas mehr als 20 Prozent mehr Arbeit", ergänzt Thynne. Auch die Komplexität sei zwar ähnlich, doch sei eben alles neu. Thynne: "Es gibt sehr, sehr wenige Teile, die wir übernehmen."

Formel 1 2022: Entwicklungsprogramm für neuen McLaren fundamental anders

Deshalb hat McLaren dem MCL36 ein Produktions- und Entwicklungsprogramm verordnet, das alles andere als "business as usual" ist. Immerhin könne auch eine schnelle und anpassungsfähige Produktion in Sachen Performance einen gewaltigen Unterschied bringen. "Du musst es bauen, du musst es schnell bauen, und du musst es gut bauen", lässt McLaren wissen. Unter der Regentschaft der Budgetgrenze gelte das mehr denn je. Auch besonders effizient und effektiv muss nun entwickelt und produziert werden. " Verglichen mit vorherigen Autos ist die Gestaltung des Programms für den '36 ist fundamental anders", sagt Thynne.

Das stellt nicht nur McLaren vor eine große Herausforderung. "Den MCL36 den neuen Regeln gemäß zu bauen ist eine erhebliche Belastung, aber da geht es vielleicht mehr um den Kulturwechsel, manche Dinge auf andere Weise zu tun", beschreibt Thynne. "Du musst die Hebel abstimmen, die auch ein Ergebnis bringen werden."

Formel-1-Budgetgrenze: McLaren überwacht Kosten mit Live-Tool

Was das konkret heißt? Zum einen Kostenbewusstsein, auch über die eigene Abteilung hinaus. "Ein Teil davon bedeutet sicherzustellen, dass wir operativ und technisch verstehen, was Dinge kosten", schildert Thynne. Deshalb hat McLaren nun ein neues Tool installiert, das für zahlreiche Teile in Echtzeit die zu erwartenden Kosten aufführt. So sollen alle Ingenieure besser verstehen, welche Kosten gewisse Rohmaterialien oder langwierige Prozesse etwa auch in anderen Abteilungen nach sich ziehen. "Wir müssen sicherstellen, dass es wirklich so getan werden muss und wir es auch wirklich rechtfertigen können", sagt Thynne.

Wegen der Budgetgrenze sei daher eine gute Zusammenarbeit und ein zielgerichteter, gemeinsamer Fokus wichtiger denn je. Zumal zunächst auch Corona-Einschränkungen bremsten. So trennte McLaren seine Mitarbeiter zu Beginn der Pandemie in zwei Blasen. Tag- und Nachtschicht sahen einander nicht einmal. Inzwischen ist das wieder anders. "Wir konnten wieder erlauben, dass sich unsere Schichten sehen", berichtet Thynne. "Dass die Tagschicht in die Nachtschicht hineinläuft, mit einer Besprechung von Problemen und einer ordentlichen Übergabe, ist wichtig."

Mercedes-Technikchef: So gewaltig ist der Regelumbruch wirklich: (10:30 Min.)

McLaren verschlankt Produktion: Weniger Ersatzteile, mehr Upgrades

Damit nicht genug. Zum anderen passt McLaren 2022 auch die Quantität der produzierten Teile an. "Der andere Hebel, an dem wir ziehen können, ist, die Produktion zu schlank zu halten, wie es geht", sagt Thynne. "Wir sind sehr darauf aus, so spät wie möglich zu sein und so knappe Lagerbestände zu haben, wie wir können, um sicherzustellen, dass wir die Möglichkeit haben, mit Rennen eins Upgrades zu liefern."

Heißt im Klartext: McLaren produziert 2022 nicht auf Masse. Weder die Teile des Launch-Autos noch folgende Upgrades. "Wir stellen weniger (Ersatz-) Teile her. Auch das ist wieder ein Kulturwechsel, aber es wir uns mehr Flexibilität erlauben, an Upgrades zu denken", berichtet Thynne. So große Lagerbestände wie in den Vorjahren bei einem gleichzeitigen Wunsch fortwährender Entwicklungsschritte, gibt der Budgetdeckel nicht her. "Es ist eine schwierige Abwägung, aber für den '36 werden wir weniger Ersatzteile zur Verfügung haben beim '35M, um beim Budget etwas mehr Luft zu haben, um mehr Performance abzuliefern", erklärt der McLaren-Betriebsdirektor.

McLaren beruhigt: Keine Engpässe am Wochenende

Übertreiben will es McLaren dabei nicht. Zu einer Situation, das McLaren an einem Rennwochenende bei Unfällen die Ersatzteile ausgehen könnten, werde es nicht kommen. "Das werden wir immer absichern", beruhigt Thynne. "Aber wo wir in der Vergangenheit fünf oder sechs Teile gemacht haben, gehen wir auf fünf. Wo es vier oder fünf waren, da gehen wir auf vier herunter."

Das gilt insbesondere zu Saisonbeginn. Immerhin soll der McLaren MCL36 schon im frühen Saisonverlauf eine schnelle Metamorphose durchlaufen. Üblicherweise ist die Lernkurve zu Beginn neuer Formel-1-Regeln besonders steil, die Frequenz von Neuentwicklungen dementsprechend hoch. Neu 2022: Das dafür nötige Budget muss zurückgehalten werden. "Einer der Gründe, warum wir die Lagebestände schlank halten, ist, dass wir wissen, dass wir das Auto entwickeln wollen. Es gibt keine Preise dafür, beim ersten Rennen sechs Unterböden und sechs Frontflügel zu haben", sagt Thynne.

Bahrain: McLaren plant ganzes Upgrade-Paket beim Saisonstart

Thynne weiter: "Wir werden dieses Jahr einige etwas andere Ansätze wählen, um sicherzustellen, dass in der Produktion Kapazität verfügbar ist und wir auf die aerodynamische Evolution reagieren können. Das wird in diesem Jahr der Erfolgsschlüssel sein."

Eine große Vorproduktion ergibt ohnehin wenig sinn. Schon beim Saisonstart in Bahrain plant Woking ein erstes Upgrade-Paket für die vorherige Testversion an selber Stelle. "Wir wissen, dass die Performance beim ersten Rennen kritisch ist und wir werden ein Upgrade-Paket zu diesem Event bringen, aber wir erwarten, dass danach noch viel mehr kommt", berichtet Thynne.

"Jedes Pfund zählt"

Damit nicht genug. Auch der Wunschzettel der Ingenieure und Fahrer an der Strecke muss kürzer werden. "Wenn es bei einem Teil mehrere Setup-Optionen gibt, überlegen wir zu rationieren, wie diese Entscheidungen getroffen werden, indem wir mit den Renningenieure zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass wir die Auswahl zur Verfügung stellen, die sie benutzen wollen als die, die sie möglicherweise benutzen wollen", schildert Thynne. "Jedes Pfund zählt und wir müssen sicherstellen, dass wir das Geld klug ausgeben."