Revolutionäre neue Formel-1-Regeln sollen 2022 die Königsklasse auf den Kopf stellen. Keine Bargeboards mehr, weiter vereinfachte Front- und Heckflügel, 18-Zoll-Räder mit Abdeckungen statt 13-Zöller, simplere Radaufhängungen und eine Rückkehr des Ground Effects als neue Art, wie der nötige Abtrieb generiert werden soll - das sind nur die größten und technischen Eckpfeiler des neuen Konzepts für engeres Racing in der Formel 1.

Noch dazu kommen eine nach ihrem Debüt im Vorjahr weiter verschärfte Budgetobergrenze von nun 140 Millionen US-Dollar (ca. 128 Millionen Euro) und Restriktionen der Windkanalzeiten für die 2021 erfolgreicheren Teams, um mehr Chancengleichheit zu gewährleisten. Neben den Auswirkungen auf das Racing und den Speed der Autos besonders interessant: Wie wirkt sich all das auf das Kräfteverhältnis aus? Geht es nach dem jahrelangen Branchenprimus Mercedes sind durchaus größere Umstürze zu erwarten.

Formel 1 2022: Größte Regeländerungen der Geschichte?

Trotz aller Beteuerungen der FIA und Formel 1, mit dem in einem eigens einberufenen Expertengremium über Jahre geschmiedeten neuen Regelwerk zumindest größere Schlupflöcher geschlossen zu haben und Ängsten, zu wenige Freiheiten im Reglement könnten bei der neuen Boliden-Generation zu Einheitsbrei führen, zählt für Mercedes-Technikchef James Allison nämlich vor allem eines: der gewaltige quantitative wie qualitative Umfang der neuen Regularien.

"Die Tatsache, dass es so lang gedauert hat sie wahrzumachen, lässt einen manchmal leicht vergessen, was für einen massiven Satz von Regeländerungen diese 2022er Regeln darstellen", sagt der Brite in einem Mercedes-Video. Für Allison steht fest: Mehr hat sich in der gesamten Formel-1-Geschichte noch nie geändert - und das, obwohl zumindest die Power Unit als Gesamtkonzept 2022 sogar noch gleich geblieben sind.

Mercedes-Technikchef: Gesamte Philosophie ist anders

"Ich arbeite seit mehr als 30 Jahren in diesem Sport und sie [die neuen Regeln] übertreffen alles, was ich je gesehen habe. Wenn ich mich durch Wikipedia graben würde und alle Jahre durchgehen würde, die dieser Sport je gesehen hat, dann würde es nichts geben, was mit dem Ausmaß der Regeländerungen, die 2022 kommen, mithält", sagt der Top-Ingenieur Mercedes'. "Das Regelbuch ist nicht nur enorm - die Regularien sind zweimal so groß wie die vorherigen -, sie sind auch fast vollständig anders als das, was es vorher gab. Wir müssen das Auto also von Kopf bis Fuß neu erfinden. Egal wohin du schaust, alles ist komplett neu."

Mercedes-Technikchef: So gewaltig ist der Regelumbruch wirklich (10:30 Min.)

Dabei gehe es nicht nur um neue Teile, sondern gleich die gesamte Fahrzeugphilosophie. Allison gewährt einen Einblick in das große Köpferauchen bei Mercedes. "Das ist unglaublich hart und herausfordernd. Es hat lang gedauert, überhaupt zu verstehen, was die beste Antwort auf diese Regeln ist und wo man die Möglichkeiten finden kann, ein Auto auf die Strecke zu bringen, mit dem wir von Anfang an konkurrenzfähig sein können", schildert der Technische Direktor des amtierenden Konstrukteursweltmeisters.

Allison: Ein, zwei Autos werden Regeln nicht treffen

Prognosen zum Kräfteverhältnis ließen zu diesem Zeitpunkt natürlich kaum treffen, so Allison. "Aber das ist doch eine spanende Sache. Keiner von uns weiß das. Und eine Essenz dieses Sports ist es doch, nicht zu wissen, was passiert", sagt der Ingenieur. Nur eines steht für Allison angesichts der umfangreichen Regeländerungen bereits fest. Ohne große Gewinner oder Verlierer wird 2022 nicht über die Bühne gehen. "Da die Autos so neu und anders sind, kann ich mir vorstellen, dass ein oder zwei Autos im Grid richtig übel daneben liegen. Und sie werden ein unglaublich schmerzhaftes Jahr haben."

Nachholbedarf - in welchem Ausmaß auch immer - erwartet Allison allerdings bei allen Teams, auch bei Mercedes. "Dinge, die wir einfach nicht vorhergesehen haben", sagt Allison. "Wir werden andere Autos ansehen und denken: 'Oh, warum ist uns das nicht eingefallen?' Dann werden wir herumwuseln, um diese Idee so schnell wie möglich an unser Auto zu bekommen, sodass wir unseren Weg nach vorne krabbeln können, wo auch immer wir im ersten Rennen landen. Oder, wenn wir so glücklich sind, vorne zu sein, die angreifenden Wölfe hinter uns zu halten."

Problem Budgetgrenze: Wie viele Upgrades gehen?

Deshalb erwartet Allison, mit dem Erarbeiten der neuen Philosophie die größte Anstrengung nicht unbedingt schon hinter sich zu haben. "Wir werden die ganze Saison sicherlich nicht allzu viel Schlaf bekommen", fürchtet der Brite scherzhaft. Was den Schlafgewohnheiten, aber nicht dem Comeback nach einem womöglich verwachsten Auftakt helfen könnte, ist das enge finanzielle Korsett unter der neuen Budgetobergrenze: Wie viele größere Entwicklungen zur Kurskorrektur während der Saison lässt das überhaupt noch zu?

Hier warnte zuletzt bereits Ferrari-Sportdirektor Laurent Mekies. Ein Wettrüsten wie in der Vergangenheit sei 2022 wohl nur noch in sehr viel kleineren Dimensionen möglich. "Es wird nicht so wenig Entwicklung sein wie vergangenes Jahr, da war sie zumindest bei uns fast bei null", zitierte die 'Marca' den Franzosen. "Aber wenn du an 2019 oder 2018 denkst, da werden wir weniger sehen als in diesen Jahren, als die großen Teams zu jedem Rennen etwas Neues gebracht haben. Aus unserer Sicht wird es schwierig sein, innerhalb der Ausgabenbeschränkung eine große Zahl von Upgrades zu bringen."

Formel 1: Ferrari erwartet Ende des Wettrüstens

Rücklagen müsse man sich eher für die generell zu erwarteten Lehren im ersten Jahr eines neuen Reglements behalten. Immerhin werde man im Saisonverlauf zügig lernen und nachjustieren müssen. Gehe etwas schief, müsse man jedoch von diesem idealen Muster abweichen und alles für gröbere Korrekturen ausgeben. "Wenn du früh in der Saison einen großen Schluckauf hast und nichts mehr korreliert, dann kannst du etwas von deinem Geld für zwei oder drei Upgrades ausgeben. Denn das musst du irgendwie beheben", sagt Mekies. Doch bis die ihren Weg ans Auto finden, könnte in der WM schon so mancher Zug abgefahren sein. Dann droht genau das, wovor Allison warnt - ein unglaublich schmerzhaftes Jahr.