Der Artikel wurde in der 80. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 02. September 2021 veröffentlicht.

England, Northamptonshire, Silverstone Circuit, Home of British Motor Racing. Einen ganz besonderen Ort hatte sich die Formel 1 für die Präsentation der vielleicht größten technischen Revolution ihrer Geschichte ausgesucht. 'Eine neue Ära steht bevor' - mit diesem Slogan luden die Macher der Königsklasse am Donnerstag, den 15. Juli 2021 zum Auftakt des Großbritannien GP in die Wiege des Sports. In Silverstone fuhr die Formel 1 1950 ihren ersten Grand Prix überhaupt. 71 Jahre später ließen F1 und FIA an dieser historischen Stätte die Hüllen fallen. Die Hüllen eines ersten echten Vorgeschmacks auf die neuen Boliden ab der Saison 2022, wenn ein revolutioniertes Technisches Reglement in Kraft treten wird.

In einem pittoresken roten und silbrig-glitzernden Kleid zeigte die Formel 1 zunächst Computerbilder ihrer Interpretation des neuen Looks, wenig später folgte auf der Start- und Ziel-Geraden ein leibhaftiges Modell in Lebensgröße. Wirklich neu waren dabei vor allem Größe und Farbe. Bereits knapp zwei Jahre zuvor, Ende Oktober 2019, hatten F1 und FIA im Rahmen des USA-GP in Austin ein ähnlich geformtes, nur kleineres und mausgraues Windkanal-Modell gezeigt. Genauso wie das Regelwerk hat sich die Vision der neuen Autos ab 2022 in den vergangenen zwei Jahren kaum verändert. Sieht die Formel 1 der Zukunft deshalb wirklich so aus?

Geht es nach den ersten Reaktionen der Fahrer, erhoffen sich zumindest einige so manche Optimierung. "Es sieht gut aus, es ist futuristisch", kommentiert Fernando Alonso die Revolution mit plattgedrückter Nase, sehr schlichtem, aber ausladendem Frontflügel, Winglets auf den Vorderreifen, jetzt mit 18-Zoll-Felgen und - wie zuletzt 2009 - Kappen, ohne Bargeboards und, nicht zuletzt, einem geschwungenen Heckflügel ohne echte Endplatten an der Seite. Vor allem die Frontpartie kommt nicht überall gut an. "Ab der Vorderachse gefällt mir das Auto", sagt Carlos Sainz. Der Landsmann des Ferrari-Stars sieht nur wenig Potenzial für eine Modellpflege durch die Adaptionen der Teams. "Die Regularien sind ziemlich strikt. Die Freiheiten, die wir bislang hatten, gibt es nicht mehr", sagt Alonso. Nur Experten würden die Unterschiede der verschiedenen Interpretationen der Teams erkennen.

Genauso aussehen wie die Vorstellung von FIA und Formel 1 werden die Lösungen der Teams in der kommenden Saison allerdings kaum. Seit die Entwicklung im Januar freigegeben wurde, werkeln die Ingenieure von Mercedes, Red Bull, Ferrari & Co an ihren Boliden für die neue Ära. Auch ohne die vollständig eliminierte Spielwiese Bargeboards und einen klaren Zuwachs an Einheitsteilen aus Kostengründen räumt das neue Reglement durchaus Freiheiten ein. An der Nase, den Endplatten des Frontflügels, der Airbox, der Motorabdeckung, den Bremsbelüftungen und dem Heckflügel können sich die Ingenieure austoben. Unterschiedliche Interpretationen sind noch immer zu erwarten.

Die Formel 1 präsentierte ihr Modell für 2022 in Regenbogenfarben, Foto: F1
Die Formel 1 präsentierte ihr Modell für 2022 in Regenbogenfarben, Foto: F1

"Jetzt bin ich gespannt, mit welchen Lösungen die Teams nächstes Jahr aufwarten", sagt Ross Brawn, Sportchef der Formel 1. Sainz macht Mut für Vielfalt. "Ich werde nicht sagen, wie der Ferrari sein wird, aber er wird anders sein", verrät der Ferrari-Pilot. Der Spanier saß wie Teamkollege Charles Leclerc bereits im Simulator. "Es fühlt sich ganz anders an", berichtet der Monegasse. Die Performance und insbesondere das Kräfteverhältnis sei allerdings ein einziges Fragezeichen. Gerade im ersten Jahr eines neuen Reglements sind größere Abstände Usus in der Formel 1. Die Dominanzen von Brawn-GP 2009 oder Mercedes zum Start der Hybrid-Ära sprechen Bände. Erst mit der Zeit gleichen sich die Boliden an, indem ungewöhnliche Erfolgsrezepte eines Wettbewerbers von der Konkurrenz schlagartig übernommen werden oder sie wegen eines dann stabilen Reglements sukzessive aufholt.

Deshalb warnt Toto Wolff in Zeiten einer engen und spektakulären Saison 2021 trotz hehrer Ziele der Verantwortlichen vor einem vorläufigen Rückschritt in der kommenden Saison. "Es ist ganz logisch: Wenn du die Regeln behältst, konvergiert das Feld. Für die, die vorne sind, werden die Gewinne immer geringer, selbst mit höherem Aufwand. Irgendwann werden die Teams, die hinten dran sind, die steile Formkurve weiterführen und dann gibt es die Konvergenz", erklärt er. Deshalb könne er für 2022 ein weit auseinander gerissenes Feld sogar versprechen.

Dass die Königsklasse ihre hochgesteckten Ziele der neuen Regeln gleich im ersten Jahr erreichen kann, bezweifeln die Verantwortlichen selbst. "Es wird nicht über Nacht geschehen", gesteht Nikolas Tombazis, Technischer Direktor für Einsitzer bei der FIA. "Wir werden studieren, welche Lösungen die Teams entwerfen und werden weiter daran arbeiten, uns zu verbessern. Aber wir glauben, dass das Racing sich über die Zeit beträchtlich verbessern wird."

Die Formel 1 gab einen ersten Vorgeschmack auf die neuen Autos, Foto: F1
Die Formel 1 gab einen ersten Vorgeschmack auf die neuen Autos, Foto: F1

Dafür investierte ein neugeschaffener 30-köpfiger Arbeitskreis von FIA und Formel 1 unzählige Arbeitsstunden. "Wir haben die Reise 2017 begonnen, also haben wir für dieses Auto wohl mehr Zeit aufgewendet als für jedes andere neue Reglement", sagt F1-Cheftechniker Pat Symonds. Über zwei Jahre hinweg spielte das Team insgesamt 7.500 Simulationen durch und testete erstmals auch selbst im Windkanal. Bei Sauber in der Schweiz erprobte das unabhängige Expertenteam in rund 100 'Wind-Stunden' 138 verschiedene Grundkonfigurationen.

Doch was heißt besseres Racing? Ganz profan nur mehr Überholmanöver sind nicht gemeint. "Es geht nicht so sehr um tatsächliches Überholen, sondern darum, wie eng sie racen können", sagt Tombazis. "Also in der Lage sind, einander zu folgen und das ganze Rennen gegeneinander zu kämpfen. Das haben wir vor allem über die Aerodynamik versucht." Das geschieht an gleich mehreren Stellen. Ein großer Teil des Abtriebs soll durch eine Rückkehr eines sehr viel stärkeren Ground Effects erreicht werden. Der Unterboden verfügt dabei über durchgängige Luftkanäle statt der gegenwärtigen Ebenen. So entsteht ein Unterdruck, der das Auto an die Straße saugt. Das kompensiert einen Teil des verlorenen Abtriebs durch zahlreiche Beschneidungen der Aerodynamik, die gleich an zwei Stellen ansetzen: Zum einen sollen die Autos weniger anfällig für die berühmte 'Dirty Air' werden, gleichzeitig erst gar nicht so viel verwirbelte Luft für den Hintermann generieren. Zu diesem Zweck soll etwa der neue Heckflügel den Luftstrom nach oben leiten, über den Verfolger hinweg. "Jedes Teil wurde so entworfen, dass es keinen schlechten Einfluss auf den Hinterherfahrenden hat und das Racing verbessert", sagt Tombazis.

Die Fahrer durften das Design in Silverstone begutachten, Foto: LAT Images
Die Fahrer durften das Design in Silverstone begutachten, Foto: LAT Images

Als Resultat der Kombination aus Ground Effect und Anpassungen des Flügelwerks verspricht sich die Formel 1 deutlich geringere Verluste aerodynamischen Abtriebs beim dichten Hinterherfahren. Bei einer Fahrzeuglänge Abstand sollen die 2022er Autos nur noch rund 18 Prozent ihres maximalen Abtriebs verlieren, aktuell sind es 47 Prozent. Bei drei Fahrzeuglängen Abstand soll der Verlust von 35 auf nur noch vier Prozent zurückgehen. Sollten derartige Werte erreicht und das Racing somit tatsächlich enger werden, würden letztlich auch die Fahrer über vermeintliche Unzulänglichkeiten hinwegsehen. Etwa etwaige optische Mängel oder insgesamt langsamere Rundenzeiten. Berechnungen zufolge soll die Formel 1 wegen der stark beschnittenen Aerodynamik in etwa auf das Niveau von 2016 zurückfallen. "Das Wichtigste ist, dass wir das Racing verbessern. Wenn wir das erreichen, bin ich dafür", sagt Max Verstappen. Lewis Hamilton stimmt zu: "Wenn es uns ermöglicht, einander dicht zu folgen und zu racen, dann wird es für den Sport und die Fans unglaublich."

Wie dringend nötig die neuen Regeln für engeres Racing sind, zeigte sich nur wenige Tage nach der Präsentation des 2022er Autos noch unmittelbar in Silverstone. Im Rennen auf dem Highspeedkurs kam es nur selten zu echten Duellen. Immer wieder mussten Verfolger in den schnellen Kurven von Maggotts, Becketts & Co wegen verwirbelter Luft so sehr abreißen lassen, dass trotz der folgenden langen Hangar-Straight kaum an Attacken zu denken war. "Wir haben dieses Wochenende in vielen Fällen gesehen, dass Autos, die in Sachen Performance eng beisammen waren, Probleme hatten, miteinander zu kämpfen", schildert Brawn. Das seit Jahren traditionelle Problem der F1, vor Augen geführt um traditionsreichsten aller Kurse. 2022 soll es endlich besser werden. "Wir sind sicher, dass das neue Auto mehr Rad-an-Rad-Duelle ermöglicht", verspricht Brawn. "Das wollen wir für unsere Fans."

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