Die Strafe gegen Sebastian Vettel wegen unsicheren Zurückfahrens auf die Strecke und Abdrängens von Lewis Hamilton beim Kanada GP beschäftigt die Formel 1 auch an Tag zwei nach dem Geschehen.

Motorsport-Magazin.com hat sich deshalb einen besonders wertvollen Experten geschnappt: Alexander Wurz, Präsident der Fahrervereinigung GPDA. Wie der Österreicher die Szene und das Urteil analysiert, lest ihr hier im Exklusiv-Interview.

Motorsport-Magazin.com: Wie siehst du die Strafe gegen Sebastian Vettel?
Alexander Wurz: Es ist natürlich keine einfache Situation. Ich sehe aber folgenden relativ pragmatischen Gesichtspunkt. Hier als Steward eine Entscheidung zu treffen, hätte ich folgendermaßen getan: Das Reglement kannst du nach A oder B auslegen. Links oder rechts. Strafe oder nicht Strafe.

Ich hätte dann Folgendes gemacht: Ich hätte mir den Helm von Sebastian Vettel angeschaut. Da ist der entscheidende Zeitpunkt für mich: Wann schaut er in den Rückspiegel? War es absichtlich, das Loch zuzumachen? Oder war es unabsichtlich, weil er das Auto noch unter Kontrolle halten musste nachdem er vom Gras kam? Das ist natürlich rutschiger und der Reifen muss sich erholen.

Wurz: Vettel kämpft lange um Kontrolle, blickt erst spät in Spiegel

Was hätte man dann gesehen?
Alexander Wurz: Für mich ist das dann ganz eindeutig. Er korrigiert das Auto, rutscht fast hin zur Mauer, zum Kerb. Erst dann schaut er nach rechts in den Rückspiegel. Das heißt für mich hatte er lange damit zu tun, das Auto unter Kontrolle zu halten. Dann schaut er in den Rückspiegel, aber da war der Lewis schon dort. Da war das Loch schon zugemacht, er hat es nicht absichtlich gemacht. Deshalb hätte ich meine Entscheidung getroffen: kein Penalty.

Sondern brenzlige Situation, Gott sei Dank nichts passiert. Let them race. Wie die FIA das vor eineinhalb Jahren auch bekanntgegeben hat. Kein Penalty. Das ist meine persönliche Entscheidung. Wenn du streng nach dem Regelbuch gehst, wie die Stewards das hier offensichtlich gemacht haben, dann kommen sie schon damit weg, dass irgendwer sagen könnte, das sei gerechtfertigt. Ich persönlich finde es nicht gerechtfertigt. Einmal im großen Bild der Formel 1 nicht. Aber auch, weil er es einfach nicht absichtlich gemacht hat.

Glaubst du, man hätte vorsichtiger zurückfahren können. Glaubst du nicht, dass da schon während des Ausritts der Instinkt gesagt hat, jetzt möglichst schnell wieder auf die Strecke kommen zu müssen?
Alexander Wurz: Natürlich musst du möglichst schnell zurückkommen. Aber du kannst ja den Fehler nicht bestrafen, dass er abgeht. Stell dir vor, dasselbe passiert auf einer Schikane wie es tausende gibt, wo alles Asphalt ist. Da verliert er ein halbes Zehntel. Da sagt er 'joa, ich habe Zeit verloren'. Total unemotional wäre das Rennen dann zuende gegangen und er hätte eigentlich nichts verloren.

Wurz appeliert an FIA-Vorgabe: Let them race!

Aber dann stell' dir vor es wäre ein Straßenkurs da und eine Mauer da. Dann hätte er es komplett verloren.
Alexander Wurz: Joa, aber es hätte genauso der Lewis Hamilton das Problem gehabt, dass da eine Mauer ist. Straßenkurs. Kommt nicht vorbei. Er hätte innen vorbeifahren können und hätte das Überholmanöver machen können. Also da muss ich sagen: Lasst sie fahren. Es ist Rennsport. Es ist Teil des Straßenkurses.

Die Mauer war dort auch sehr knapp. Er hatte Glück, dass er zurückkam. Er macht den Fehler ja nicht absichtlich. Und wenn er durch das Gras rutscht, hat das Auto physikalische Gesetze. Da kann er nicht schneller oder langsamer machen. Er kann auch das Auto ... er kann nicht wissen, wie er es kontrollieren muss.

Wurz: Auto hat physikalische Grenzen

Deshalb habe ich mir genau den Helm angeschaut. Hätte der Vettel zuerst nach rechts geschaut in den Rückspiegel und dann rechts rüber gelenkt, dann hätte ich gewusst, dass er Herr der Kontrolle ist. Er weiß ganz genau, was passiert und er schneidet ihm den Weg ab. Dann hätte er die Strafe verdient. Er hat aber versucht, das Auto in dieser brenzligen Situation zu kontrollieren und erst nachher hat er in den Rückspiegel geschaut.

Ist es am Ende eigentlich nicht nur fair? Es ist ja ein Fehler.
Alexander Wurz: Ja, es ist ein Fehler.

Und dass dann Lewis für den Fehler einstehen muss, indem er den Crash irgendwie verhindert?
Alexander Wurz: Es wurde aber noch nie jemand für den Fehler an sich bestraft. Es ist auch der Lewis hier in Kanada vor zwei Jahren in der Schikane schon ein paar Mal geradeaus gefahren und hat sich vorne wieder eingeordnet. Das haben viele gemacht. Nur wenn du einen Vorteil durch deinen Fehler gewinnst, wirst du bestraft. Das ist das Reglement und das wird seit zehn Jahren genauso gehandhabt. Deshalb muss ich sagen, da muss man dann Konstanz sein und sagen, nur für einen Fehler wurde noch keiner bestraft.

Alexander Wurz ist seit 2014 Präsident der Fahrervereinigung GPDA. Seine Stellvertreter sind Romain Grosjean und Sebastian Vettel selbst.

Formel 1 Kanada: War die Strafe gegen Vettel berechtigt? (19:57 Min.)