Das Formel-1-Wochenende in Montreal verläuft bislang eigenartig. Vor dem Kanada GP dachten alle, der Circuit Gilles Villeneuve wäre Ferraris einzige Chance. Die Streckencharakteristik kommt dem SF90 entgegen. Nach den Trainings am Freitag war die Euphorie schon wieder dahin. Auch bei Ferrari selbst war man nicht gerade optimistisch. Und dann holte Sebastian Vettel im Qualifying die Pole Position. Ist er damit auch Favorit für das Rennen heute Abend (deutscher Zeit, Rennstart um 20:10 Uhr, RTL und Sky übertragen live)?

Sicherlich fuhr Ferrari schon am Freitag Bestzeit, aber das gab es 2019 schon öfter. Und trotzdem steht Ferrari bislang ohne Sieg da. "In den letzten Qualifyings haben wir an Boden verloren", weiß auch Vettel. "Deshalb hatten wir gehofft, dass wir näher dran sind, denn der Abstand war ziemlich groß. Wir hatten die letzten Rennen so viele Sessions, in denen es gut aussah: Baku oder Monaco beispielsweise. Aber dann im Qualifying sah es immer so aus, als würden Lewis und Mercedes noch etwas holen können, deshalb war es nicht zu erwarten."

Und plötzlich steht Vettel heute beim Formel-1-Rennen in Kanada zum ersten Mal seit dem Deutschland GP 2018 wieder auf der Pole. Auch weil die Konkurrenz das gesamte Wochenende über das machte, was Ferrari bislang selbst bis zur Perfektion beherrschte: Sich selbst zerstören.

Ferrari-Konkurrenz zerstört sich in Kanada selbst

Valtteri Bottas verlor im 1. Training Zeit wegen eines Problems am Benzinsystem. Lewis Hamilton konnte im 2. Training wegen eines Mauerkusses nicht mehr fahren. Bottas verpatzte Q3 dermaßen, dass nur Startplatz sechs steht. Max Verstappen konnte im FP2 nach einer Mauerberührung ebenfalls kaum Runden drehen. Im Qualifying schied der Niederländer im Q2 aus, weil er sich auf den Medium-Reifen nicht qualifizieren und seinen Versuch auf Softs wegen des Crashs von Kevin Magnussen nicht beenden konnte.

Nur Ferrari kam ohne größere Missgeschicke durch das bisherige Kanada-Wochenende. Das alleine hätte aber noch immer nicht für Pole gereicht. "Der Schlüssel war, dass wir das Auto über Nacht verbessern konnten und uns die Streckenentwicklung entgegengekommen ist", sagte Vettel zu Motorsport-Magazin.com.

Formel 1 Kanada GP 2019 Topspeeds Qualifying

TopspeedSektor 1Sektor 2Ziellinie
Vettel333,3Vettel306,0Leclerc268,9Vettel291,5
Perez330,9Leclerc304,4Vettel268,9Leclerc290,4
Ricciardo330,7Hulkenberg303,4Ricciardo267,0Ricciardo289,9
Giovinazzi329,8Norris303,1Hulkenberg266,2Hulkenberg288,7
Raikkonen329,7Ricciardo302,6Hamilton266,2Bottas288,6
Leclerc329,3Giovinazzi301,6Giovinazzi265,8Norris288,5
Sainz328,9Raikkonen301,1Norris265,5Perez288,3
Stroll328,8Sainz301,0Sainz265,5Giovinazzi288,1
Hulkenberg328,5Hamilton301,0Grosjean265,4Hamilton287,6
Albon328,4Verstappen300,4Stroll265,4Sainz287,5
Norris327,8Grosjean299,6Magnussen265,0Magnussen287,3
Bottas327,7Bottas298,5Gasly264,3Stroll287,1
Russell326,8Albon298,4Bottas264,3Raikkonen287,0
Kubica326,6Kvyat298,3Raikkonen264,2Verstappen286,7
Verstappen326,5Perez298,3Verstappen263,6Grosjean284,8
Grosjean326,4Gasly297,2Perez263,6Gasly284,5
Magnussen326,3Magnussen297,1Kvyat262,6Albon284,4
Hamilton326,1Russell296,7Albon262,0Russell283,3
Kvyat325,9Kubica295,6Russell261,4Kvyat282,9
Gasly324,4Stroll295,3Kubica257,4Kubica281,5

Obwohl Mercedes einen neuen Motor einsetzte reichte der Qualifyingmodus nicht, um Ferrari auf den Geraden Paroli zu bieten. Sechs Zehntel verloren die Silberpfeile bei der Geradeausfahrt. Dabei zählt auch der Motorschaden von Lance Stroll im 3. Training nicht als Ausrede. Mercedes ging anschließend nicht auf Nummer Sicher.

Ferrari war trotzdem an allen Messstellen nicht nur Klassenprimus, sondern vor allem deutlich vor Mercedes. Das aerodynamische Konzept, das vor allem auf Effizienz ausgelegt ist, macht sich hier bezahlt.

Ferrari hat die Zeit gegenüber Mercedes auf den Geraden gewonnen, doch gegenüber Freitag verbesserten sich die Roten auch in den Kurven. Im Power-Sektor drei nahm Vettel Hamilton zweieinhalb Zehntel ab, aber auch in den beiden anderen Sektoren war Ferrari fast gleichauf.

Formel 1 Kanada GP 2019 Sektorzeiten Qualifying

Sektor 1Sektor 2Sektor 3
Hamilton19,323Hamilton22,369Vettel28,449
Vettel19,357Leclerc22,418Leclerc28,633
Bottas19,449Vettel22,427Hamilton28,683
Leclerc19,483Gasly22,569Ricciardo28,766
Gasly19,530Ricciardo22,613Sainz28,780
Ricciardo19,591Bottas22,618Hulkenberg28,838
Verstappen19,613Hulkenberg22,701Norris28,880
Magnussen19,683Verstappen22,727Bottas28,903
Hulkenberg19,741Sainz22,871Gasly28,906
Sainz19,757Albon22,885Stroll28,937
Albon19,778Norris22,897Magnussen28,954
Norris19,792Kvyat22,903Giovinazzi28,958
Grosjean19,806Magnussen22,910Kvyat29,021
Kvyat19,828Giovinazzi22,927Verstappen29,043
Giovinazzi20,038Perez22,945Grosjean29,076
Perez20,055Raikkonen22,961Raikkonen29,084
Stroll20,082Grosjean22,995Albon29,085
Raikkonen20,102Stroll23,062Perez29,148
Russell20,493Russell23,386Russell29,624
Kubica20,708Kubica23,772Kubica29,913

Doch die beste Nachricht für Ferrari gab es im Q2. Mercedes und Ferrari schafften es, sich auf den Medium-Reifen zu qualifizieren. Für Vettel und Leclerc ein wahrer Befreiungsschlag. "Darüber bin ich sehr glücklich", freute sich Vettel. "Denn der Soft war gestern ziemlich schlecht und hatte starkes Graining."

Tatsächlich war Vettels Longrun auf den Soft-Pneus katastrophal. Valtteri Bottas fuhr rundenbereinigt noch immer 1,3 Sekunden pro Runden schneller. Doch auch auf den anderen Mischungen ist Mercedes klarer Favorit.

Die Frage ist, wie sehr sich Ferrari auch im Longrun von Freitag auf Samstag verbesserte. Selbst Berufspessimist Toto Wolff gab sich gegenüber Motorsport-Magazin.com ausgesprochen angriffslustig. "Unsere Longruns sahen sehr gut aus, vor allem wenn man sie mit denen von unseren Gegner vergleicht, denen die Reifen regelrecht weggeschmolzen sind."

Mercedes: Sind schneller, aber müssen überholen

Aber Wolff weiß auch: "Es geht darum, vorbeizukommen. Wenn man nicht vorbeikommt, wird es schwierig. Trotzdem bin ich optimistisch, dass uns die Longrunperformance heute im Rennen einen gewissen Vorteil bringt."

Wer Wolff kennt, der weiß, wie offensiv diese Aussagen sind. Selbst wenn Ferrari auf Pole steht, Mercedes ist der klare Favorit. Der Österreicher zerbricht sich aber den Kopf darüber, wie Hamilton vorbeikommen soll. "Der Start ist eine Möglichkeit", meint er. Hamilton schränkt ein: "Der Weg zu Kurve eins ist sehr, sehr kurz. Es ist nicht einfach, da einen Platz gutzumachen."

Und dann könnte es schwierig werden. Denn der Ferrari-Topspeed wird Vettel beim verteidigen helfen. Allerdings ist Überholen in Montreal möglich, zumal es drei DRS-Zonen gibt und der DRS-Effekt 2019 deutlich größer ist.

Bottas fehlt Mercedes-Strategen: 2:1 für Ferrari

Strategisch wird es nicht besonders viel Variabilität geben. Durch den Start auf Medium sind die Weichen für eine Einstopp-Strategie gestellt. Allerdings ist Mercedes eingeschränkt, weil Valtteri Bottas nur auf Rang sechs startet. Mit dem Finnen fällt ein strategisches Element weg, mit dem man Ferrari unter Druck setzen könnte. "Das tut uns sehr weh", glaubt Wolff. Ferrari hingegen hat mit Leclerc auf Rang drei ein weiteres heißes Eisen im Feuer, mit dem man im Zweifel auch Hamilton unter Druck setzen kann.

Für Bottas wird entscheidend, wie schnell er an Daniel Ricciardo und Pierre Gasly vorbeikommt. Im Gegensatz zum Mercedes-Piloten starten die beiden auf den Soft-Reifen. Fluch und Segen zugleich für Bottas. Dadurch ist sicher, dass er früher oder später an beiden vorbeikommen wird. Aber es wird eher später, weil sie in den ersten Runden noch einen Grip-Vorteil haben. "Ab Runde fünf sollte dann mein Medium-Reifen besser sein", glaubt Bottas. Dann ist die Frage, ob vorne nicht schon der Zug abgefahren ist.

Ferrari ist nicht in der Favoritenrolle, aber in einer guten Ausgangsposition. Vettel sieht seine Siegchance jedenfalls: "Sicherlich können wir gewinnen: Es gibt einen Grund, warum wir das Auto heute auf Pole stellen konnten. Es wird ein enger Kampf, wir brauchen ein perfektes Rennen, damit wir um den Sieg kämpfen können."