Verliert Mercedes allmählich die Kontrolle, die Souveränität, die Dominanz? Ein wenig scheint es so. Trotz der souveränen Führung in Fahrer- wie Konstrukteurswertung und einer starken Siegesserie Nico Rosbergs zum Saisonauftakt präsentieren sich die Silberpfeile bislang nicht in völlig streifenfreiem Glanz. Zu oft hat der Defektteufel 2016 bereits jetzt schon zugeschlagen. Bis dato gelang es Mercedes jedoch, ihn im letzten Moment immer noch zu besiegen. Manchmal, wie in Monaco, half allerdings auch Glück (verpatzter Boxenstopp bei Red Bull) kräftig mit.

"Wir haben in der Weltmeisterschaft keinen Spielraum. Es ist ein kontinuierlicher Kampf, in dem der Druck stetig steigt", räumt Motorsportchef Toto Wolff ein. Inzwischen klopft nämlich nicht nur Ferrari von hinten an. Auch Red Bull Racing hat sich im Konzert der ganz großen nachhaltig zurückgemeldet. Nicht nur wegen des Sieges in Spanien, wo sich Mercedes zuvor ohnehin per teaminterner Kollision selbst geschlagen hatte, sondern vielmehr wegen der besseren Pace zuletzt in Monaco. Noch dazu gibt es jetzt für beide Autos ein Motoren-Update von Renault, das zusätzlich Flügel verleihen soll. Und auch Ferrari hat für den ersten transatlantischen F1-Trip des Jahres nach Kanada ein Update angekündigt.

"Unsere Gegner setzen uns so sehr unter Druck wie noch nie zuvor", warnt deshalb Lewis Hamilton. Kann sich Mercedes selbst auf einer Power-Strecke wie jener beim unmittelbar bevorstehenden Kanada GP also nicht mehr des Sieges sicher sein? Noch dazu geht es teamintern wieder enger zu. Hamilton konnte in Monaco seinen Rückstand auf Rosberg deutlich verkürzen. Die große Vorschau auf den GP in Montreal.

In Monaco erwies sich Daniel Ricciardo als knallharter Gegner für Mercedes, Foto: Sutton
In Monaco erwies sich Daniel Ricciardo als knallharter Gegner für Mercedes, Foto: Sutton

Die Favoriten: Alles Mercedes, oder?

Auf den ersten Blick erscheint die Sachlage klar: In Kanada kann es nur einen Favoriten geben - und der heißt Mercedes. Immerhin hatten die Silberpfeile das Rennen auf der Île Notre Dame im Vorjahr nach Belieben dominiert. 40 Sekunden trennten das Doppelsieg-Duo Hamilton/Rosberg von seinem ersten Verfolger Valtteri Bottas. Und ja: Auch 2016 sind die Voraussetzungen grundsätzlich nicht dramatisch andere. Der Power Unit von Mercedes ist noch immer klar die beste und es gibt nichts, was in Montreal wichtiger wäre.

Allerdings holt die Konkurrenz auf. Bei Red Bull bekommt nach Daniel Ricciardo nun auch Max Verstappen die große Ausbaustufe von Renault ins Heck des RB12 gebastelt. Und die sei ein guter Schritt nach vorne, versichert Renaults Nick Chester. "In Monaco haben wir vor allem von der besseren Fahrbarkeit profitiert während Montreal viel mehr eine Power-Strecke ist. Das heißt, wir werden wirklich sehen, was die Power Unit zu leisten im Stande ist", verspricht der Technikdirektor viel.

Mercedes wird solche Aussagen aufmerksam verfolgen. "Die größte Lehre für uns war jedoch, wie gefährlich uns Red Bull werden kann", kommentiert Toto Wolff den Monaco GP. "Wir haben noch Verbesserungsspielraum bei der Zuverlässigkeit. Gleichzeitig wird der Drang nach mehr Performance immer wichtiger", sagt der Motorsportchef. "Es wird interessant sein, zu beobachten, wie gut Red Bull diesmal ist. Wir hoffen natürlich, dass wir wieder etwas vor ihnen liegen werden", ergänzt Rosberg. Doch ist es eben nicht nur Red Bull allein.

Nachdem Ferrari, vor allem im Qualifying, zuletzt leicht ins Hintertreffen geriet, legt nun auch die Scuderia nach. In Kanada soll ein neuer Turbolader Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen wieder in eine bessere Position manövrieren. "Wir arbeiten weiter und auch nach einem schwierigen Wochenende, wissen wir, dass wir es im nächsten Rennen ganz sicher viel besser machen können", sagt Räikkönen.

Ein Dreikampf also mit leichten Vorteilen für Mercedes? Alles deutet darauf hin. Jedoch dürfen wegen der Streckencharakteristik in Kanada auch zwei andere Mercedes-Kunden nicht außer Acht gelassen werden. Force India war bereits in Monaco richtig gut in Schuss, sollte dank Mercedes-Power in Kanada nur noch stärker auftrumpfen und vielleicht ein oder zwei Teams des Top-Trios ärgern können. Vor Selbstvertrauen strotzt das Team jedenfalls extrem.

Noch dazu wird Williams alles daran setzen, endlich noch einmal für positive Schlagzeilen zu sorgen. Die Vollgasstrecke Kanada kommt da gerade recht. "Das Team sollte hier also zu seiner Form zurückfinden", sagt Technikchef Pat Symonds erwartungsvoll. Schon im Vorjahr konnte man dort beide Ferrari in die Knie zwingen. Die besten Außenseiterchancen liegen also ganz klar im Feld des Traditionsteams aus Grove sowie der indisch-britischen Truppe um Nico Hülkenberg.

Die Strategie: Mehr Vielfalt dank Ultrasofts?

In der Regel zählt der Kanada GP zu den Einstopp-Rennen des Kalenders. So wechselte auch im Vorjahr das Top-Trio geschlossen nur ein Mal die Reifen. Dabei ist die Boxengasse in Montreal mit knapp 400 Metern nur kurz, der Zeitverlust entsprechend gering. Gerade einmal 18 Sekunden beträgt die Durchfahrtszeit. Dieser Faktor allein schien bislang jedoch nicht zu genügen, einen zweiten Stopp zu wagen, zumal der Track Position wegen der relativ hohen Wahrscheinlichkeit eines Safety Cars (40 Prozent) ein besonderer Stellwert zukommt.

2016 könnte jedoch ein neuer Faktor an diesem Einstopp-Standard rütteln: die Reifenwahl. Zum zweiten Mal nach Monaco vor gut einer Woche bringt Pirelli den neuen Ultrasoft mit zum Rennwochenende. Der Hersteller verspricht sich davon endlich mal einen strategischen Leckerbissen auf der Île Notre Dame. "Die von uns nominierten Mischungen eröffnen ein breites Strategie-Spektrum", versichert Paul Hembery. Pirellis Motorsport-Direktor hält auch die passende Erklärung parat: "Die neue ultrasofte Mischung hat in Monaco überzeugt, doch die Strecke in Kanada ist ein ganz anderes Kaliber und stellt die Reifen vor größere Herausforderungen. Das könnte zu einer Vielzahl unterschiedlicher Taktiken führen."

Die Reifenwahl der Teams gibt Hembery bereits jetzt recht: Mit Haas und Renault verschmähten zwei Team die mittlere Mischung, den Supersoft, komplett. Sie setzen also voll auf Ultrasoft und Soft. Letzterem räumt Pirelli für das Rennen ohnehin einen großen Stellenwert ein. Das wiederum spricht jedoch eher für einen weiteren Einstopper. Allerdings gibt es zumindest für die Top-10 hier eine große Schwierigkeit: Weil sie vermutlich zum Großteil auf dem Ultrasoft starten müssen, wird ein früher erster Stopp kaum zu vermeiden sein. Wegen der hohen Kerbs und extremen Längs-, Quer- und Bremskräfte auf dem Kurs in Kanada dürfte der ultraweiche Reifen gerade mit vollen Tanks rasant verschleißen. Der Soft müsste im Resultat - bei einem Einstopper - anschließend fast 60 Runden durchhalten.

"Eine sehr knifflige Situation", bestätigt Mercedes-Technikchef Paddy Lowe. "Die Strecke fordert die Reifen viel mehr als Monaco. Deshalb wird es eine der größten Herausforderungen sein, den Ultrasoft bestmöglich im Rennen zu nutzen." Eine Lösung präsentierte Daniel Ricciardo bereits in Monaco, als er einfach mit dem Supersofts in Q3 einzog. Ob das auch in Kanada möglich sein wird, ist allerdings fraglich. Lowe jedenfalls erwartet einen extremen Performance-Unterschied zum Utrasoft. Ein weiterer Grund, im Rennen vielleicht einen Zwischensprint auf dieser Mischung einzulegen. Abwegig ist die Hoffnung auf einen Strategie-Leckerbissen also ganz und gar nicht.

Das Wetter: Kühle Nässe

Sonderlich angenehm wird das Rennwochenende in Kanada nach aktuellen Prognosen nicht. Normalerweise geht das Rennen in Montreal bei durchschnittlich 25 Grad Celsius über die Bühne. Dieses Mal sind jedoch lediglich 14 Grad vorhergesagt - und das für das gesamte Wochenende, also vom ersten Training zum bis Rennen selbst. Während es bereits am Freitag und Samstag schon zu vereinzelten Schauern kommen soll, steigt das Regenrisiko für den Sonntag nochmals an. Exakte Vorhersagen sind aktuell jedoch noch nicht möglich. Dennoch schaut die Tendenz weniger gut aus.

So dramatisch wie 2011 als in Montreal die Welt unterging, das blanke Regenchaos ausbrach, sollte es allerdings in keinem Fall zugehen. Generell ist die Regenwahrscheinlichkeit im historischen Schnitt der vergangenen Jahre mit nur 16 Prozent Regensessions ohnehin eher gering.

2011 ging in Kanada die Welt unter - bis in die späten Abendstunden wurde gefahren, Foto: Sutton
2011 ging in Kanada die Welt unter - bis in die späten Abendstunden wurde gefahren, Foto: Sutton

Kanada GP: Fakten zum Rennen

  • Nur in Spielberg und Monaco fährt die Formel 1 mehr Runden als in Kanada (70)
  • Bremsen wegen Stop&Go-Charakters der Strecke extrem belastet
  • Extrem hoher Benzinverbrauch
  • Knapp 60 Prozent Vollgasanteil, knapp 20 Prozent Bremsanteil
  • Rundenrekord Rennen: 1:13.622 Min. (Barrichello, 2004)
  • Rundenrekord absolut: 1:12.275 Min. (R. Schumacher, 2004)
  • Hamilton vor 5. Sieg in Kanada
  • Rekordsieger M. Schumacher (7 Erfolge)
  • Erzielt Massa erneut Punkte (einzig verbliebener Dauergast 2016)?

Wusstest Du schon, dass...

... das gesamte Areal ursprünglich für die Expo 1967 angelegt wurde, die Insel also künstlich ist?

... 1978 der erste Kanada GP in Montreal stattgefunden hat und Lokalmatador Gilles Villeneuve gleich mal seinen ersten GP-Sieg (im Ferrari) feierte?

... Nigel Mansell1991 in Führung liegend erst in der letzten Runde ausschied und Nelson Piquet den Sieg erbte?

... 2011 in 4:04:38,537 Stunden der längste Grand Prix der Formel-1-Geschichte in Kanada stattgefunden hat?

... 2001 in Kanada mit Ralf und Michael Schumacher zum ersten Mal ein Brüder-Doppelsieg in der Formel 1 erzielt wurde?

... Kanada seit 2011 den F1-Rekord für Safety-Car-Einsätze in einem GP (6 an der Zahl) hält?

... 1999 im Rennen gleich drei Weltmeister (Schumacher, Hill, Villeneuve) in der letzten Schikane in die Mauer krachten und so der Titel "Wall of Champions" geboren wurde?

... Jenson Button 2011 gewann nachdem er zwischenzeitlich auf dem letzten Platz gelegen hatte?

... Robert Kubica 2008 in Kanada genau ein Jahr nach seinem Horror-Crash seinen einzigen F1-Sieg errungen hat?

... der Kanadier Al Pease 1969 beim Kanada GP als erster F1-Pilot disqualifiziert wurde, weil er zu langsam gefahren ist?