'Gschmäckle': Im schwäbischen Dialekt ein schöner Ausdruck, der wohl exakt das begleiten dürfte, was auch immer am heutigen Tage bei der Urteilsfindung der FIA in Sachen Mercedes' Pirelli-Test herauskommt. Gehen die Silberpfeile straffrei aus, wird manch Konkurrent die Welt nicht mehr verstehen. Richtet sich die wie auch immer geartete und ausgesprochene Strafe lediglich gegen einen einzelnen Verantwortlichen und wird diese Person dann zum alleinigen Sündenbock gemacht, begleitet das ebenso jener schale Beigeschmack. An eine große Strafe im Stile von McLaren 2007 mag derzeit hingegen sowieso niemand so recht glauben - und erst recht nicht an astronomische Strafsummen im Bereich von 100 Millionen Dollar wie damals. Die Daimler-Aktionäre fordern ja jetzt schon einen Ausstieg - keiner mag sich vorstellen, was los ist, wenn der Konzern eine derartige Unsumme berappen müsste.

Sieht so eine Hinrichtungsstätte aus?, Foto: Sutton
Sieht so eine Hinrichtungsstätte aus?, Foto: Sutton

Die F1 ist derzeit viel zu instabil um sich das Wegbrechen ihrer Big Player zu leisten... zu denen zählt Mercedes, aber auch Pirelli, die ziemlich sicher ohne ernstzunehmende Sanktionen ausgehen werden. Für den italienischen Reifenhersteller ist die Belieferung der Königsklasse ohnehin schon ein teures Unterfangen, das man mit dem großen Werbewert rechtfertig. Da Letzterer zur Zeit aber sowieso negativ ausfällt, würde man Zusatzausgaben in Form einer Strafe niemals akzeptieren und sich gemäß den vorangegangen Drohungen sofort zurückziehen - das kann sich wiederum die F1 nicht leisten. Insofern steht eigentlich nur eines fest: Schiefgehen darf beim Tribunal nichts und wird ein mögliches Fingerklopfen zu hart ausfallen, könnte das für den ganzen Sport weitreichende Konsequenzen haben. Für uns Journalisten ist das natürlich ein gefundenes Fressen, denn es ist mehr noch als sonst an der Zeit für Gedankenspiele... und das liebt die schreibende Zunft nun einmal.

Entscheidung am Place de la Concorde

Dass der D-Day traditionell in Frankreich stattfindet, dürfen Sie, werte Leser, dabei als wirre Randnotiz eines Motorsportredakteurs mit zu viel Phantasie erachten... dass die Guillotine schon zu Zeiten der Französischen Revolution in den Straßen von Paris Köpfe rollen ließ, ebenso. Und doch wird nur wenige Straßen von eben jenen historischen Orten auch in der ach so modernen F1 dieser Tage ein Tribunal abgehalten, das den ein oder anderen Angeklagten erzittern lassen dürfte, ihn aber in jedem Fall vor unschöne Aussichten stellt. Für Leute, die an ihrem Job hängen, ist der heutige 20. Juni 2013 nichts - deutet man den Eindruck der letzten Tage und versucht man, detailliert zwischen den Zeilen zu lesen, stellt sich schnell heraus: Besonders Ross Brawn und Charlie Whiting sollten den Place de la Concorde vielleicht lieber meiden.

Ruhe vor dem Sturm: Der Ort der Entscheidung wirkt friedlich, Foto: Sutton
Ruhe vor dem Sturm: Der Ort der Entscheidung wirkt friedlich, Foto: Sutton

Angefangen mit Brawn, bleibt festzuhalten, dass dieser bei den Silberpfeilen gerade in den letzten Tagen ziemlich geradlinig zum Alleinverantwortlichen aufgebaut wurde - und damit im Fall der Fälle auch zum Alleinschuldigen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Umstand, dass Brawn Mercedes in Paris mehr oder weniger solo vertritt - von den übrigen Machthabern Lauda, Wolff und Co. ist nichts zu sehen. Aber warum auch? Schließlich sollen sie in absehbarer Zeit nicht weichen - Brawn schon. Spätestens seit der Verpflichtung von McLaren-Mann Paddy Lowe ist das ganz klar. Der designierte Nachfolger steht in den Startlöchern und darum weiß auch Brawn, der sich wohl auch aus diesem Grund in jüngerer Vergangenheit immer deutlicher hinlänglich eines bevorstehenden Abschieds äußerte.

Schwarzer Peter mit Legitimation

Warum nun also die gerade neu eingeführte österreichische Doppelspitze Lauda/Wolff noch mehr in die öffentliche Wahrnehmung rücken und dafür sorgen, dass sie mit der zweifelsfrei unangenehmen Angelegenheit zusätzlich assoziiert werden? Brawn gab bei Mercedes intern das grüne Licht für den Test mit Pirelli, seine Karriere bei den Stuttgartern schien sich aber auch schon vor dieser Begebenheit dem Ende zuzuneigen. Nun soll das keineswegs heißen, dass man dem Briten grundlos den schwarzen Peter zugeschoben hat. In der Tat ist Brawn als Teamchef der Verantwortliche, der bei derlei Kontroversen als Erster den Kopf hinhalten muss - das wäre auch in allen anderen Teams so. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass es für Mercedes Schlimmeres gäbe, als Brawn nun opfern zu müssen. Vielmehr ist die Pirelli-Causa der letzte große Dominostein am Ende einer längeren Kette, der wohl fallen und den gefeierten Helden von 2009 mit sich umreißen wird.

Blickt man auf die andere Seite hinüber, namentlich auf die der FIA, lässt sich ein ähnliches Muster erkennen, dass das Prinzip 'Gelegenheit macht Diebe' mit Blick auf eine mögliche Absetzung doch mindestens genauso deutlich erscheinen lassen dürfte, wie im Falle von Brawn, der Platz für Lowe schaffen soll - bei der Behörde geht es um Charlie Whiting. In Bezug auf diesen muss man wissen: Nominell ein FIA-Mann, darf das Urgestein weit mehr dem Clan der Vertrauten von Bernie Ecclestone zugerechnet werden als dem des Automobilweltverbandes, zumindest dem der FIA 2013. Früher war das einmal anders, denn da schwang in Paris noch Max Mosley das Zepter... und nicht die Lederpeitsche. Zu dessen Nachfolger Jean Todt hat Whiting aber längst nicht so gute Bande wie einst zu seinem britischen Landsmann. Wiederrum andere Gerüchte besagen, dass Whiting als Relikt aus der Mosley-Zeit Todt ohnehin schon länger ein Dorn im Auge ist.

Die einfachste Lösung...

Und so wie sich wahrscheinliche jeder große politische Machthaber Frankreichs in den letzten Jahrzehnten in Paris ein Denkmals setzte, das seine Zeit überdauerte - sei es durch einen Gebäudekomplex wie La Défense oder etwas kulturelles à la Centre Pompidou - so scheint es, als wolle auch Todt der F1-Nachwelt etwas hinterlassen und bei der FIA endlich den Umbruch umsetzen, den sich viele von seiner Amtsübernahme erhofften... und auf den sie bis heute warten. Im Hintergrund, so munkelt man, hat Todt mit Giorgio Ascanelli längst einen alten Freund und engen Vertrauten aus seiner Ferrari-Zeit in Position gebracht. Er ist der Mann, der Whiting beerben soll, denn irgendjemand wird wohl seinen Hut nehmen müssen - allein schon, um die verprellte Konkurrenz von Red Bull und Co., genauso aber auch uns, die gefräßige Presse, ruhigzustellen.

Aus drei mach zwei: War Monaco 2013 Brawns teuerster und letzter Sieg?, Foto: Mercedes-Benz
Aus drei mach zwei: War Monaco 2013 Brawns teuerster und letzter Sieg?, Foto: Mercedes-Benz

Erneut sieht man sich vor die Komplexität der Angelegenheit gestellt, mit all ihren politischen Machtspielchen und Zusammenhängen. Ein Ausweg scheint schwierig... Pirelli kann man nicht bestrafen, Mercedes eigentlich auch nicht... Moment einmal. Ha! Sehr wohl aber Entscheider Brawn! Das ist doch die Lösung. Bleibt nur noch die Frage, wie man mit sich selbst umgeht. Will die FIA gegen die FIA eine Strafe verhängen? Wohl kaum... in Anbetracht der Tatsache, wie schlecht die ganze Angelegenheit erst abgelaufen ist und dann gehandelt wurde, wird man aber wohl nicht umhinkommen, eine teilweise vorhandene Mitschuld einzuräumen. Diese wird nach jetzigem Wissensstand direkt proportional auf Whitings dafür viel zu schmale Schultern umgelenkt. Das Wohl des Einzelnen steht schließlich hinter dem der Mehrheit - oder wie in diesem Fall, hinter dem der ganzen Behörde. Und Sinn macht es auch - wofür gibt es sie schließlich sonst... all die Bauernopfer und Sündenböcke?