Das letzte Formel-1-Rennen vor zwei Wochen in Monza erinnerte die Königsklasse an längst vergangen geglaubte Zeiten. Düstere Zeiten oder glorreiche Zeiten, je nachdem wie man es mit Max Verstappen hält. Der amtierende F1-Weltmeister dominierte beim Italien-GP nach der Pole Position und fuhr allen davon. Die eine Hälfte hat er nun auch in Baku geschafft, nämlich die Pole. Doch wird er erneut dem Feld enteilen? Wir werfen in unserem Favoritencheck einen Blick auf die Ausgangslage für den Aserbaidschan-GP.

Ganz nüchtern betrachtet geht Verstappen mit einem viel größeren Vorteil als noch in Monza in das Rennen. Dort starteten Norris und Piastri direkt neben bzw. hinter ihm. In Baku brachte er dank eines fehlerbehafteten Q3-Auftritts der beiden Papaya-Fahrer eine Reihe andere Piloten zwischen sich und seine größten Konkurrenten. Norris startet von Position 7, Piastri von 9.

So viel zur allgemeinen Ausgangslage. Allerdings ist Aserbaidschan alles andere als eine Kopie des Highspeed-Tempels im Königlichen Park. Red Bull spielte dort in die Karten, dass dort der Heckflügel mit dem absoluten Minimum an Abtrieb ausgestattet ist. Das mag der RB25 besonders gerne. So eine radikale Setup-Lösung ist in Baku nicht umsetzbar, weshalb das Abtriebsniveau wieder etwas ausdifferenzierter ist. Denn den langen Geraden gegenüber stehen auch die eckigen Abschnitte auf dem Weg in und durch die Altstadt.

Das Thema Reifen ist in Baku ein prägenderes und in Teilen unwägbareres. Denn Pirelli brachte zum erst vierten Mal in dieser Saison die weichste Variante nach Baku - also C4 bis C6. Um sich Mediums für das Qualifying zu sparen, verbrauchten die meisten Fahrer ihre Soft-Pneus also schon im Training und spulten damit auch kurze Longruns ab, deren Informationsgehalt zweifelhaft ist.

Red Bull Topfavorit: Wie viel Geheimnis steckt in den Reifen?

Bei Red Bull hielt man sich deshalb mit Prognosen zurück. Vorsichtiger Optimismus dominierte das Lager der Bullen, in dem sowohl Dr. Helmut Marko als auch Max Verstappen auf die guten Longrun-Daten aufmerksam machten. Die einzige Warnung, die Verstappen vermeldete: "Wir müssen unser eigenes Rennen fahren und auf unsere Reifen aufpassen, denn das ist hier mit den weichen Mischungen sehr hart."

Und McLaren gibt sich überzeugt davon, dass Verstappen der Topfavorit ist. Lando Norris sagte nach dem Qualifying: "Er [Verstappen, d. Red] war das ganze Wochenende schnell und sie können leicht an diesem Wochenende nochmal gewinnen." Teamchef Andrea Stella sprach sogar angesichts der zweiten Verstappen-Pole in Serie von einer Wiederauferstehung der Bullen und verortete den Niederländer als WM-Kandidaten.

Zweiteres sind Aussagen, die sich ohnehin erst in den nächsten Wochen und Monaten überprüfen lassen. Aber fest steht, dass Baku tatsächlich von ihrer Charakteristik her eine Strecke ist, die McLaren nicht unbedingt liegt. "Es war uns klar, dass aus Performance-Sicht dieses Wochenende und Las Vegas die zwei schwierigsten [im verbleibenden Kalender] sein könnten" erklärte Stella.

"Unser Auto ist in langen und mittelschnellen Kurven konkurrenzfähig. Von denen gibt es hier in Baku keine", so der Italiener, "Das Auto ist nicht besonders effizient in Bremsphasen auf der Geraden, wovon es hier viele gibt."

Dazu kommt noch, dass sich trotz der weicheren Reifenmischungen der Verschleiß in Baku in Grenzen hält. Pirelli rechnet mit einer 1-Stopp-Strategie. Vorzugsweise mit Medium und Hard – ähnlich wie in Monza. Der weiche Reifen ist in Baku rundenzeitmäßig nicht weit von der mittleren Mischung entfernt, er hat aber ein spitzeres Performance-Fenster und vermittelt ein instabileres Fahrgefühl. Doch auch mit Softs waren im Qualifying mehrere schnelle Runden pro Satz möglich, wie Pirellis F1-Chef Mario Isola betonte.

Unter normalen Bedingungen deutet alles auf eine Verstappen-Parade hin. Die beiden WM-Führenden Norris und Piastri visieren das Podium an. Das klingt angesichts der Startplätze zunächst nach einer schwierigen Aufgabe. Doch wie stark ist die Konkurrenz dazwischen tatsächlich? Da wäre einerseits Carlos Sainz im Williams, der zwar regelmäßig mit einer guten Rennpace punktet, aber dessen Topspeedwerte in Baku mehr als dürftig aussehen.

Der starke Topspeed der Racing Bulls könnte die Sache etwas erschweren, aber Stella betonte: "Der Speed auf der Geraden ist wichtig. Aber Pace ist noch viel wichtiger, denn wenn man mit wenig Abstand aus der letzten Kurve herauskommt, dann kann man mit Windschatten und DRS gut überholen." Lawson und Hadjar scheinen sich bewusst zu sein, dass ihr Kampf nicht mit McLaren sondern anderswo ausgetragen wird.

Fehlen nur noch die Mercedes-Piloten und Yuki Tsunoda, die unter Rennbedingungen auch in den letzten Monaten nur selten dem McLaren das Wasser reichen konnten. Die Papayas können wohl auch in Baku wieder auf ihren geringen Reifenabbau vertrauen, der ihnen im Laufe des Stints einen zunehmenden Vorteil einbringen sollte. Das war auch in Monza der Fall, allerdings war dort der Verschleiß so gering, dass es erst zu spät zu Tage trat - jedenfalls im Vergleich zu Verstappen.

Safety-Car-Chaos als einzige Lösung?

Der springende Punkt in Baku ist allerdings, dass die Wetterverhältnisse ähnlich stürmisch wie im Qualifying werden sollen. Der mancherorts vor diesem Wochenende prognostizierte Regen soll im Formel-1-Rennen zwar ausbleiben und laut derzeitigem Stand stattdessen schon am Vormittag vorübergehen, aber die Windbedingungen versprechen ähnlich starke Böen wie am Samstag.

Am Qualifikations-Tag sorgte dieser Umstand schon für viel Chaos. Im Rennen sind die meisten Teams in weiser Voraussicht zumindest in der Quantität der noch gelagerten Reifen gut darauf vorbereitet. Die Topteams haben noch pro Fahrer beide Hard-Sätze und mindestens zwei Sätze Mediums auf der hohen Kante.

Doch zu welchem Zeitpunkt ein potenzielles Safety Car, VSC oder gar eine rote Flagge kommt, ähnelt einem Glücksspiel. Falls denn dieser Fall eintritt. Vor allem für Verstappen erscheint es die sinnvollste Variante zu sein, sich dadurch abzusichern indem er so lange wie möglich draußen bleibt. Aber ungeachtet dessen könnte eine Rennneutralisierung zu einem späteren Zeitpunkt im Rennen McLaren so oder so zurück ins Spiel bringen.

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