Die viel gescholtenen Ferrari-Strategen sind nach dem sensationellen Sieg von Charles Leclerc in Italien plötzlich die größten Helden. Die aus der ersten Reihe losfahrenden McLaren ließen sich in fatale Zweistopp-Strategien locken, mit denen sie im Schluss-Sprint Leclerc nicht mehr abfangen konnten. Doch je genauer man hinschaut, desto größer werden die Fragezeichen. War es eine strategische Meisterleistung? Oder eine vom Fahrer gerettete Verzweiflungstat?

Von vornherein war der Formel 1 in Monza klargewesen, dass eine Gratwanderung bei der Reifenstrategie bevorstand. Ein neuer Asphalt führte das ganze Wochenende über zu starkem Graining auf der Reifenoberfläche. Sobald dieser Effekt einsetzte, würde ein gigantischer Pace-Einbruch folgen. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Irreversibel.

Die Pirelli-Simulationen spuckten am Samstagabend ein Szenario aus, in dem die Zweistopp-Strategie nur minimal und verkehrsbereinigt schneller wäre. Unter variablen realen Rennbedingungen bedeutet das eigentlich immer eine Einstopp. Erst recht in Monza, wo jeder Stopp 25 Sekunden kostet. Die bekommt man auf der Strecke nicht so schnell wieder.

Ferrari startet mit Vorteil in den Italien-GP: In Monza bestes Rennauto

McLaren hielt mit Lando Norris auf Pole und Oscar Piastri auf Startplatz sehr gute Karten in der Hand, während Charles Leclerc und Carlos Sainz nur auf den Plätzen vier und fünf loslegten. Doch auch ihr Blatt war nicht schlecht. "Unser Auto tendiert gut mit den Hinterreifen umzugehen, aber bei Graining vorne sind wir auf der aggressiveren Seite", hält McLaren-Teamchef Andrea Stella fest. Das ist eine Ferrari-Domäne.

"Am Morgen war schon klar, dass die Einstopp die beste Option war", so Ferrari-Teamchef Fred Vasseur. Und der SF-24 war sowieso nicht langsam. Im Qualifying ging Leclercs Chance auf Pole dadurch verloren, dass er in Pushrunden die Balance in den ersten Schikanen nicht auf die Reihe bekam. Das traf auf seine Longrun-Form nicht zu.

Polesetter Lando Norris führt nach dem Start vor McLaren-Teamkollege Oscar Piastri
McLaren stand ganz vorne in der Startaufstellung von Monza, Foto: LAT Images

Sehr zu Leclercs Freude öffnete ihm die Konkurrenz auf den ersten zwei Kilometern im Rennen Tür und Tor. Der drittplatzierte Mercedes von George Russell verabschiedete sich schon in der ersten Schikane. Piastri quetschte sich in der zweiten vorbei an Norris, dessen Zurückstecken ihm viel Tempo kostete. So konnte Leclerc ihm vor der ersten Lesmo den zweiten Platz abjagen.

Dann begann das Lauerspiel. Wann würde das Graining kommen? Es sollte nicht lange dauern. 10 Runden hielt der Start-Medium. Selbst der Führende Piastri, mit dem unbezahlbaren Vorteil der freien Fahrt ausgestattet, begann ab Runde 11 einzubrechen: "Wir hatten recht früh das Gefühl, dass es ein Zweistopp-Rennen werden würde."

Leclerc-Frust über fragwürdigen Ferrari-Call: Warum stoppen wir?

Der stärkste Fahrer im ersten Stint war Norris. Erstmals zeigte sich ein wesentlicher Faktor des Graining-Themas: Wer den Reifen zu schnell zu hart rannahm, bezahlte hintenraus einen hohen Preis. Norris hatte sich nach der Start-Niederlage früh auf dem dritten Platz eingerichtet. Leclerc pushte Piastri neun Runden lang, was seinen Einbruch beschleunigten.

So schloss Norris zu Leclerc auf. Die bereits auf eine Zweistopp schielenden McLaren-Strategen nutzten diese Chance und bliesen zum strategischen Angriff: Norris wurde in Runde 14 bereits zum Stopp gerufen, um Ferrari vor vollendete Tatsachen zu stellen: Entweder ihr stoppt und verliert den Platz per Undercut. Oder ihr fährt weiter und riskiert eine Einstopp.

Zu dem Zeitpunkt hatte McLaren einen strategischen Vorteil. Carlos Sainz im zweiten Ferrari hatte den Anschluss an die Spitze verloren. Falls Leclerc nicht auf Norris reagierte, wäre es ein Leichtes für McLaren, auch Piastri draußenzulassen. Ferrari aber holte Leclerc in Runde 15 zum Stopp. Das roch nach Zweistopp. Es machte keinen Sinn mehr für McLaren, Piastris Stint zu verlängern. Auch er wechselte.

Alle Boxenstopps bei der Formel 1 in Monza grafisch aufgeschlüsselt
Die Strategien in Monza, Foto: Pirelli Sport

Ferrari schien dieses strategische Gefecht verloren zu haben. Durch den Undercut fiel Leclerc hinter Norris zurück. Die Logik dahinter erschloss sich ihm am Funk nicht: "Warum stoppen wir, wenn sie uns undercutten?" Ferrari hatte zwar mit einer Einstopp kalkuliert - aber nicht mit einem 38-Runden-Stint. Leclerc hätte lieber noch fünf Runden gewartet. "Wir wollten gegen [Norris] abdecken, um im gleichen Rennen zu bleiben", verteidigt Fred Vasseur. Denn: "Wir hatten ein Gefühl, dass wir einen Reifenvorteil hatten."

Ferrari-Vorteil wird nach erstem Boxenstopp offensichtlich

McLaren fühlte sich währenddessen bestätigt: Bei Red Bull, die als einzige aus dem Spitzenfeld auf dem harten Reifen gestartet waren, setzte nach 15 Runden starkes Graining ein. Es war der einzige Anhaltspunkt, den man hatte. In den Trainings war man selbst nie mit dem harten Reifen gefahren. Ein 38-Runden-Stint erschien immer unwahrscheinlicher.

Der geschlagene Leclerc machte sich nach dem Stopp keinen Stress mehr. Er nutzte die Gelegenheit und brachte seine Reifen sachte ins Arbeitsfenster: "Das war mein einziger Fokus. Ich wusste, es würde kritisch sein, nicht zu viel Graining auszulösen." Das war komplett im Gegensatz zu Lando Norris: Der musste für den erfolgreichen Undercut aus der Box heraus pushen. Dass er hinter Esteban Ocon und Alex Albon auf die Strecke zurückkam, verlangte seinen Reifen noch mehr ab.

Die Rechnung bekam er 15 Runden später präsentiert. Als sich das Graining auf dem linken Vorderreifen festzusetzen begann, verbremste er sich in der zweiten Schikane. Es ist das Schlimmste, was man in dieser Situation tun kann. "Für uns ein Symptom, dass die Reifen Probleme machen würden", so Andrea Stella. Einmal verbremst, kollabierte Norris' linker Vorderreifen völlig. In Runde 32 musste er zum zweiten Stopp.

Nun stand McLaren vor der Piastri-Frage. Der hatte als Führender seine Reifen viel sorgfältiger einfahren können. Aktuell fuhr er ähnliche Zeiten wie Leclerc, aber beide wurden langsamer. Ein sich anbahnendes Desaster? Man checkte mit dem Fahrer: "Mein linker Vorderreifen hatte ziemlich starkes Graining, und ich wurde immer langsamer." Im Anbetracht des Norris-Falles holte man ihn daraufhin in Runde 38 rein. "Es schien wie eine vernünftige Entscheidung", so Piastri. Jeder kleine Fahrfehler hätte ihn in die gleiche Graining-Spirale wie Norris schicken können.

Leclerc streichelt Reifen mit Meisterleistung zum Sieg

Bei Ferrari aber wurde zu dem Zeitpunkt bereits seit einer guten Viertelstunde über das Durchfahren diskutiert. "Nach zehn Runden mit dem Hard war klar für uns, dass wir durchfahren können", meint Vasseur. Auch hier checkte man daraufhin mit dem Fahrer, der schließlich fünf Sekunden hinter Piastri den gleichen Durchhänger gehabt hatte wie der McLaren.

Vor Leclerc war gerade der strauchelnde Norris in die Box abgebogen. "Als er weg war, hatte die Vorderachse wieder etwas mehr Grip, und ich wusste, dass mir das helfen wird, diese Reifen durchzubringen", so Leclerc. Mangels Alternativen hatte er schon seit dem Boxenstopp in den Rechtskurven Tempo rausgenommen und Reifen geschont. Dort verlor er relativ zu Piastri Zeit, die er sich auf den Geraden teilweise zurückholte.

Als Piastri stoppte, wurde die Entscheidung finalisiert. "Sobald ich freie Fahrt hatte, konnte ich die Balance des Autos anpassen und die Hinterreifen mehr belasten, was genau das war, was ich wollte", beschreibt Leclerc. "Sobald ich das tat, kam die Pace zurück." Der Durchhänger verschwand. Die Box gab ihm eine Pace-Vorgabe, von der man ausging, dass sie reichen würde, um Piastris Comeback abzuwehren.

Die führte Leclerc mit einer für Piastri genickbrechenden Perfektion aus. "Du weißt nie, es kann an einem Punkt eine Klippe kommen, aber das war nicht der Fall", so Vasseur. 11 von Leclercs letzten 15 Runden lagen innerhalb eines drei Zehntel großen Bereichs um 1:23,5. Dabei machte er keinen einzigen Fahrfehler, der das Graining verschlimmert hätte.

Wer hat Monza gewonnen, wer verloren?

McLaren ist sich unter dem Strich nicht sicher, wie das Rennen verlaufen wäre, hätte man Piastri draußen gelassen. Man verweist auf die Tatsache, dass Leclerc am Start gleich neun Runden Druck machen hatte können. Und selbst als in der verwirbelten Luft seine Reifen einbrachen, so taten sie das nur unwesentlich früher als die von Piastri bei freier Fahrt.

"Es bleibt ein Fragezeichen", meint Andrea Stella, gesteht jedoch: "Sieht so aus, als wäre potenziell mehr im Reifen gewesen als angenommen." Bleibt nur die Frage nach Ferraris Entscheidungsprozess. Rückblickend betrachtet war die Reaktion auf Norris' ersten Stopp genau richtig. Sie stellte sicher, dass auch Piastri sofort reinkam und in einer Zweistopp-Strategie gefangen war. Danach traf die Strategie-Abteilung nur noch richtige Entscheidungen.

Die Logik, mit dem Reifenvorteil lieber an McLaren dranzubleiben als auf eine alternative Strategie zu schwenken, lässt sich schwer kritisieren. Da der Hard lange hielt, machte es auch Sinn, sich früh der viel schneller einbrechenden Start-Medium zu entledigen. Trotzdem sei angemerkt: Dass der Hard so gut sein würde, konnte da noch niemand wissen. Und es war Leclerc, der mit perfektem Reifenmanagement im zweiten Stint den Sieg holte. Carlos Sainz beendete das Rennen mit 15 Sekunden Rückstand dort, wo er aus Runde 1 zurückgekehrt war.