Dieses Interview erschien in Ausgabe 85 unseres Print-Magazins. Am Ende des Jahres veröffentlichen wir traditionell einen kleinen Teil unserer Print-Artikel kostenfrei auf der Website. Viel Spaß beim Lesen!
Seine gesamte Formel-1-Karriere über verzichtete Lando Norris freiwillig auf eine Trinkflasche im Auto. Er mag es einfach nicht, wie ihm die Flüssigkeit in den Mund gespritzt wird. Am Sonntag des Spanien GP gab es auch für ihn keinen Weg mehr vorbei an dem gut einen Liter Elektrolytgetränk im Cockpit. Eine böse Mandelentzündung legte ihn das ganze Wochenende flach. Um ein Haar wäre Ersatzfahrer Oscar Piastri zum Einsatz gekommen.
Aber Aufgeben kam für Norris nicht in Frage. Bei 39,9 Grad Lufttemperatur quälte er sich 66 Runden lang um den Circuit de Barcelona-Catalunya. Nach jedem Umlauf drückte er den Trink-Knopf auf seinem Lenkrad für einen kurzen Augenblick mit seinem Daumen und bekam dafür jedes Mal einen Mini-Schluck aus der Trinkflasche in den Mund gespritzt. "Das war nicht schön, vor allem weil sich das Getränk auch so schnell erhitzte. Aber ohne hätte ich keine drei Runden geschafft", berichtete er im Nachhinein.
Obwohl es ihm das gesamte Wochenende über schlecht ging, kam es für ihn nicht in Frage, das abgemachte Interview mit dem Motorsport-Magazin abzusagen. Eine 66-Runden-Qual war das Gespräch für ihn hoffentlich nicht, der Lohn statt Platz acht und vier WM-Punkten immerhin das Cover dieser Ausgabe. Ausgerechnet sein großes Idol Valentino Rossi war dafür verantwortlich, dass es Norris nicht schon vor einem Jahr auf das Cover schaffte. Rossi hatte gerade sein Karriereende verkündet, als das letzte Interview mit dem Briten hier erschien.
Vor einem Jahr war Norris noch die große Sensation. 2019 und 2020 fuhr er seine ersten beiden Saisons in der Formel 1 an der Seite von Carlos Sainz bei McLaren. Während Norris in seiner Rookie-Saison noch im Schatten des Spaniers stand, fuhr er schon in seinem zweiten Jahr auf Augenhöhe. Der junge Brite hatte sich Respekt in der Königsklasse erarbeitet, für einen absoluten Überflieger hielten ihn aber nur wenige. Das sollte sich im vergangenen Jahr drastisch ändern.
Mit Daniel Ricciardo bekam er einen siebenfachen GP-Sieger an seine Seite. An ebenjener Seite hat der Honeybadger seither so wenig zu lachen, wie selten zuvor in seiner Formel-1-Karriere. Norris beherrscht Ricciardo nach allen Regeln der Kunst. Auch nach mehr als einem Jahr Eingewöhnungszeit fällt die Bilanz mehr als eindeutig aus. Heute ist Norris keine Sensation mehr, man hat sich an diese Leistungen gewöhnt. Er wird von den Experten in einem Atemzug mit Max Verstappen, Charles Leclerc und George Russell genannt.
Er ist nicht mehr der Pilot, der dem McLaren-Juniorprogramm entsprang. Er ist der Stützpfeiler McLarens, er ist McLaren. Bis mindestens 2025. Schon vor der Saison verlängerte er seinen Vertrag vorzeitig. Eigentlich wäre sein Kontrakt ohnehin bis einschließlich 2023 gelaufen, McLaren wollte das Supertalent aber unbedingt langfristig binden. Auch andere Teams hatten ihre Fühler in Richtung des Fanlieblings ausgestreckt.
Die Vertragsverlängerung war für Norris ein riskantes Unterfangen. Die Formel 1 startete 2022 in eine komplett neue Ära. Die Tinte unter dem Vertrag war noch nicht trocken, da erlebte McLaren in Bahrain ein absolutes Debakel. Zunächst der völlig verpatzte Test, bei dem die Briten aufgrund von Bremsproblemen nur wenige Runden am Stück fahren konnten. Am Rennwochenende das böse Erwachen: Ricciardo und Norris fuhren auf den Plätzen 14 und 15 ins Ziel. Hinter den beiden McLaren-Piloten landeten nur Nicholas Latifi und Aston-Ersatzfahrer Nico Hülkenberg.
Seither konnte sich der Traditionsrennstall aus Woking wieder einigermaßen rehabilitieren - dank Norris. Denn während Ricciardo weiter im hinteren Mittelfeld herumfährt, stellt Norris - selbst körperlich angeschlagen - den Kontakt zu den Top-Teams wieder her. Selbst wenn der McLaren der neuen Generation noch nicht so richtig will, der 22-Jährige beherrscht auch die neue Generation. Damit verstummen nun die letzten Kritiker - auch er selbst. Das Ziel für 2022 lautet einmal mehr Best of the Rest. Noch kann sich Norris damit begnügen. Noch, wie er im Interview verrät.
MSM: Du warst bislang nicht wirklich für besonders großes Selbstvertrauen bekannt - zumindest im Vergleich mit einigen deiner Kollegen. Du warst in deiner Formel-1-Karriere immer schnell, aber du bist auch immer nur eine Art von Auto gefahren. Dieses Jahr sind die Autos ganz anders und du bist weiterhin schnell. Sind nun alle Restzweifel ausgeräumt?
Lando Norris: Dieses Auto ist sehr anders im Vergleich zum Auto des Vorjahres. Dinge wie das Gefühl fürs Lenkrad und die Bremse bleiben allerdings dasselbe. Wenn du deinen Fahrstill verändern musst, bist du immer nervös. Wird es dir liegen oder passt es besser zu anderen Fahrern, wie deinem Teamkollegen? Wie viel musst du verändern? Wegen dem Selbstvertrauen, dass ich mir am Ende meiner dritten Formel-1-Saison erarbeitet hatte, und meinem Wissen, hatte ich Vertrauen, mich gut anzupassen und meinen Fahrstil den Anforderungen nach zu ändern. Ich hatte nicht allzu viele Zweifel über meine Leistungsfähigkeit in diesem Jahr.
Du hast sehr früh in deiner Karriere das Thema 'Mentale Gesundheit' öffentlich angesprochen. Warum?
Lando Norris: Ich weiß nicht, wie wichtig es für mich persönlich ist. Es ist wichtig für andere Menschen. Es ist nicht so sehr für mich, sondern vielmehr eine Chance, anderen Menschen zu helfen. Ich bin mittlerweile selbstbewusst und glücklich. Es geht mir mehr um den Einfluss, den ich auf andere, wie meine Fans, meine Follower oder auch Kinder, die der Formel 1 zusehen, haben kann. Als ich aufwuchs und 2007 Lewis, Fernando und Kimi zusah, hatte das einen gewaltigen Einfluss auf mich. Du hörst dir alles an, was sie zu sagen haben, denn du bist ein Kind und träumst davon, auch in der Formel 1 zu sein. Es geht also um meinen Einfluss auf die Heranwachsenden im jungen Alter. Ich versuche, ihnen zu helfen und ihnen gute Ratschläge zu geben. Deswegen war es wichtig und richtig. Nicht um selbst zu profitieren, sondern um anderen zu helfen. Außerdem hat es hoffentlich auch dem Sport geholfen. Seitdem haben sich einige Leute dazu geäußert. Im Team kümmern wir uns wesentlich mehr um wohltätige Zwecke in diesem Bereich.
Deine eigene Performance hat 2022 von Anfang an gepasst, bei der des Autos gab es aber nach dem Saisonstart erhebliche Zweifel. Wie ging es dir danach?
Lando Norris: Ich war damals sehr enttäuscht. Es gab große Erwartungen nach dem Test in Barcelona. Sobald wir aber ein paar Runden in Bahrain gedreht hatten, wussten wir, wie sehr der Schein trügt. Wir waren enttäuscht und stellten uns auf eine lange Saison ein, weil wir so große Probleme hatten und das Auto ehrlicherweise schwer zu fahren war. Es gab aber einige Dinge, die uns schlechter haben aussehen lassen, als wir eigentlich waren. Dazu gehörten die Probleme bei den Tests und die falsche Reifenwahl. Das alles hat es noch schlimmer aussehen lassen. Trotzdem hatte ich Vertrauen. Ich habe einen neuen Vertrag unterschrieben. Ich habe Vertrauen ins Team, dass wir die notwendigen Änderungen vornehmen können, um dieses Jahr wieder Podestplätze und vielleicht sogar Siege zu erreichen. Zumindest sollten wir wieder auf einen konstanten Punktekurs kommen. Ich war also enttäuscht, aber trotzdem voller Hoffnung darüber, was wir in den nächsten Monaten erreichen könnten.
Du hast den Vertrag angesprochen. Es ist ein langjähriger Vertrag, bis einschließlich 2025. Hand aufs Herz: Da musst du dich doch nach Bahrain gefragt haben, was du dir da angetan hast...
Lando Norris: Ehrlicherweise nein. Ich wusste, dass das neue Auto und die neuen Regeln eine Chance für uns bedeuten, etwas Besonderes zu erreichen und ein siegfähiges Auto zu haben. Der Grund, warum ich den langen Vertrag unterschrieben habe, war meine Hoffnung auf Rennsiege in der Saison 2024 oder 2025. Mir ist bewusst, dass dieses und nächstes Jahr wohl nur geringere Chancen als in den Folgejahren bestehen werden. Es gibt mit jedem Team in der Formel 1 die Möglichkeit, auch einmal ein schlechtes Jahr zu haben. Ich bin mir sicher, Mercedes hat nicht erwartet, in solchen Problemen zu sein. So sehr sich dieses Jahr vielleicht mies anfühlt und schlecht begonnen hat, muss man sehen, wie viel wir uns bereits jetzt verbessert haben. Wir haben vier Jahre Zeit, den Spieß umzudrehen und ich vertraue darauf, dass das Team dies schaffen wird.
Du bist zwar erst 22 Jahre alt, bist aber dennoch schon recht lange bei McLaren. Deinen ersten Vertrag hast du 2017 unterschrieben, als Ron Dennis und Fernando Alonso noch hier waren. Von außen betrachtet ist McLaren heute ein anderes Team. Wie hast du die Transformation - wenn es sie denn gab - von innen erlebt?
Lando Norris: Es gab eine Veränderung, aber es fällt mir schwer, die richtigen Worte dafür zu finden. Die langweilige Antwort ist, dass es wesentlich freundlicher zugeht und mehr Motivation da ist. Jeder versucht, dem anderen zu helfen. Es geht nicht mehr darum, wer individuell der Beste ist. Niemand muss beweisen, die größere Persönlichkeit oder das bessere Teammitglied zu sein. Alle arbeiten kooperierend als ein stark verbessertes Team zusammen. Deswegen kann man es genießen und die Stimmung ist fröhlicher. Es ist eine Familie und keine Gruppe von Individuen. Deswegen arbeiten wir besser zusammen. Wenn du bei McLaren zur Arbeit kommst, dann freust du dich auf den Tag und darauf, die Kollegen zu treffen. Man kann es wirklich genießen. Zuvor wurdest du von so einem großen Ort mit so vielen Mitarbeitern eher eingeschüchtert. 2017 damals, die ersten Tage dort, habe ich mich ein bisschen gefürchtet. Jetzt aber fühlt es sich vielmehr nach einem Zuhause an, in dem du zur Arbeit gehst.
Ich habe nie direkt mit Ron zusammengearbeitet. Ich kann also nicht beurteilen, wie es zuvor unter seiner Leitung war. Jetzt kann jeder frei seine Meinung äußern. Es wird als konstruktive Kritik aufgenommen, wenn man Dinge anspricht, die falsch laufen. Man begreift Kritik als Chance zu lernen und sich zu verbessern. Zuvor hatten die Mitarbeiter vermutlich etwas Angst zu sagen: 'Ich glaube nicht, dass du recht hast' oder "Ich glaube, das ist keine gute Idee'. Jetzt wird das akzeptiert. Es gibt größeren Willen, Kritik auszusprechen und die Kritisierten sind darüber glücklicher, denn sie wissen, es geschieht aus gutem Grund und es wird ihnen weiterhelfen. Es ist eine sehr wichtige Entwicklung innerhalb des Teams. Du musst den Leuten sagen, wann sie etwas gut oder schlecht machen, um ihnen zu besserer Arbeit zu verhelfen.
Wie groß ist der Anteil von Zak Brown und Andreas Seidl an der beschriebenen Transformation?
Lando Norris: Ich glaube, sie sind einer der Hauptgründe für die Veränderung. Zak macht für die Moral des Teams einen gewaltigen Unterschied. Er zeigt den Willen, mit jedem seiner Mitarbeiter zu sprechen, beispielsweise in den Besprechungen mit der ganzen Fabrikbelegschaft. Er will involviert werden. Er wird als Teammitglied und nicht als Chef wahrgenommen. Dasselbe gilt für Andreas. Sein Job ist es, Veränderungen am Team durchzuführen, um es als Ganzes zu verbessern. Er versteht es sehr gut, als Teil des Teams zu funktionieren und sich nicht als ein Ranghöherer gegenüber den Mechanikern und Ingenieuren zu sehen. Er will die Mitarbeiter bestmöglich kennenlernen und ihnen weiterhelfen. Alle Veränderungen, die er eingebracht hat, sind aus gutem Grund passiert. Die Leute akzeptieren, dass er das Beste für das Team will. Sie respektieren ihn dafür. Deswegen können sie sowohl das Lob als auch die Kritik von Andreas akzeptieren. Die Art und Weise wie sie das Team behandeln und sich einbringen, war sicher eine der größten Veränderungen.
Und wie steht es um deine Bewunderung für Valentino Rossi? Verfolgst du seine Auftritte im GT-Sport?
Lando Norris: Ja, aber es ist zurzeit nicht so einfach, das zu arrangieren, weil wir so viele Formel-1-Rennen haben. Ich verfolge seine Karriere weiterhin. Der GT-Sport gefällt mir zwar nicht so gut wie die MotoGP, aber ich versuche immer noch, es mir anzusehen. Er kämpft ja auch nicht um Rennsiege, deswegen ist es nicht ganz so spannend. Wir sind weiterhin in Kontakt. Erst gestern haben wir uns geschrieben. Er ist immer noch mein Held. Seit ich ein Kind war, sehe ich zu ihm auf. Hoffentlich können wir in Zukunft zusammen Rennen fahren.
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