369,5 zu 369,5: Lewis Hamilton und Max Verstappen reisten 2021 punktgleich zum Saisonfinale in Abu Dhabi. Das gab es in der Formel-1-Geschichte zuvor erst einmal: 1974 im WM-Kampf zwischen Emerson Fittipaldi und Clay Regazzoni. Ich war 1974 nicht dabei, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es damals ähnlich zuging wie heute vor einem Jahr.

Um die Eskalation vor einem Jahr zu verstehen, muss man kurz auf die Saison zurückblicken. Es war eine lange Saison. Die Formel 1 startete erst Ende März in das zweite Corona-Jahr. Noch immer erschwerten die Auflagen das Reisen und die GP-Veranstaltungen. Entsprechend fand Lauf 22 erst Mitte Dezember statt.

Politisch ging es schon das ganze Jahr über rund. Als Red Bull wider Erwarten stark in die Saison startete, ließ Mercedes keinen Zweifel daran, dass man von den Regeländerungen benachteiligt wurde. Weil die neue Formel-1-Ära wegen der Pandemie um ein Jahr auf 2022 verschoben wurde, waren die Autos zu einem Großteil eingefroren.

Trotzdem schaffte es Red Bull über den Winter, einen gigantischen Rückstand aufzuholen. Mercedes konnte sich das nur mit dem beschnittenen Unterboden erklären, der das eigene Konzept angeblich stärker traf. Um die Reifen zu schonen, wurde der Unterboden beschnitten. Aber Pirelli brachte trotzdem neue Pneus, die mehr aushielten. Also war Mercedes schon vor Saisonbeginn auf 180.

Richtig eskalierte der Zweikampf erstmals in Silverstone, als Hamilton und Verstappen in Copse kollidierten. Hamilton beendete den GP feiernd auf dem Siegertreppchen, Verstappen im Krankenhaus. Von da an herrschte Krieg zwischen Mercedes und Red Bull, zwischen Verstappen und Hamilton.

In Monza landete Verstappen auf dem Halo von Hamilton, Foto: LAT Images
In Monza landete Verstappen auf dem Halo von Hamilton, Foto: LAT Images

Über die ganze Saison hinweg gab es immer wieder neue Eskalationsstufen. In Monza landete Verstappen auf dem Helm von Hamilton - nur das Halo verhinderte Schlimmeres. Spätestens in Brasilien drehten alle am Rad, als der Hamilton-Mercedes in der Qualifikation aus der Wertung genommen wurde und Verstappen 50.000 Euro Strafe aufgebrummt bekam, weil er den Silberpfeil im Parc ferme berührte.

Die Stimmung war da bereits so aufgeheizt, dass Teamverantwortliche uns Journalisten anschrien, weil sie unsere Berichterstattung als einseitig empfanden. Im Umgang mit den Medien nahmen sich Red Bull und Mercedes nicht viel. Beide witterten bei jeder Kleinigkeit einen Putschversuch.

Danner Interview: Greift Verstappen in die unterste Schublade? (25:59 Min.)

In Abu Dhabi angekommen, wollte Dr. Helmut Marko nicht mehr mit mir sprechen, weil er sich an einem Interview nach Saudi Arabien störte. Über 200.000 Zuseher hatten sich die Ausführungen von Christian Danner auf unserem Youtube-Kanal zu Verstappens Verhalten in Jeddah angesehen - darunter auch der Doktor.

Verstappen und Hamilton aber mussten sprechen - schon am Donnerstag in der FIA-Pressekonferenz. Hamilton links, der WM-Pokal in der Mitte, Verstappen rechts. Beide würdigen sich keines Blickes, große Verbalattacken bleiben diesmal aus.

Hamilton und Verstappen würdigten sich keines Blickes, Foto: LAT Images
Hamilton und Verstappen würdigten sich keines Blickes, Foto: LAT Images

Weil die FIA aber Attacken auf der Strecke fürchtet, warnt sie vor dem WM-Finale: Bei unsportlichem Verhalten droht Punktabzug! Eine klare Ansage in Richtung Red Bull und Verstappen: Im Falle eines Crashs zwischen den beiden WM-Kontrahenten wäre Verstappen aufgrund der meisten Siege Weltmeister. Der Niederländer könnte also ein Interesse daran haben, Hamilton abzuschießen.

Am Rennsonntag war die Spannung zum Greifen. Überall war auf Plakaten zu lesen: "Max vs. Lewis - Winner takes all." In der linken Ecke: Red Bull und Max Verstappen. In der rechten Ecke: Mercedes und Lewis Hamilton.

Schon vor dem Rennen ein Finale für die Formel-1-Geschichtsbücher, Foto: Motorsport-Magazin.com
Schon vor dem Rennen ein Finale für die Formel-1-Geschichtsbücher, Foto: Motorsport-Magazin.com

Hochspannung und Explosionsgefahr vor dem GP, doch dann schien die Sache nach wenigen Minuten bereits durch zu sein. Hamilton überholte Verstappen am Start und ließ nicht die geringsten Zweifel darüber aufkommen, dass er den WM-Titel holen würde. Auch der verzweifelte Versuch, Hamilton mit Sergio Perez einzubremsen, schien zunächst keinen Unterschied zu machen.

Red Bull und Mercedes bedrängen Rennleiter

Erst als Nicholas Latifi seines Amtes waltete, wurde das Media Center, in dem wir Journalisten das Rennen verfolgen, zum Public Viewing Event. Sofort war allen klar, dass das späte Safety Car den Rennverlauf auf den Kopf stellen könnte. Erst recht, als Verstappen zum Reifenwechsel kam und Hamilton nicht.

Als wäre das Rennen nicht schon dramatisch genug gewesen, bekam die Weltöffentlichkeit auch noch den Funkverkehr zwischen Rennleitung und den Teams zu hören. Diese Tatsache sollte wohl der Anfang vom Ende von Rennleiter Michael Masi sein. Auch deshalb ist der Funkverkehr heute nicht mehr im TV zu hören.

Red Bull drängte Masi dazu, das Rennen so schnell wie möglich freizugeben. Gleichzeitig lobbyierte man dafür, die überrundeten Piloten aus dem Weg zu schaffen. Mercedes wollte genau das Gegenteil. Die ganze Welt hörte dabei dazu, wie die WM und die Zukunft des Rennleiters entschieden wurden.

Zwischen Fassungslosigkeit und Euphorie

Als das Rennen eine Runde vor Rennende wieder freigegeben wurde, hielt es im Media Center nur noch wenige auf den Stühlen. Beim Überholmanöver mischte sich der Jubel der niederländischen Kollegen mit der Fassungslosigkeit der britischen Journaille.

Weil sich die Kollegen im Büro um den Rennbericht kümmern, kann ich mit dem Fallen der Zielflagge direkt ins Fahrerlager stürmen und auf Stimmenjagd gehen. Vielen Piloten war gar nicht genau klar, was da soeben passiert war. Von Lewis Hamilton und Toto Wolff gibt es gar keine Stimmen. Der Brite schwänzt sogar die FIA-Pressekonferenz, zu der er eigentlich erscheinen muss, weil er immerhin Zweiter wurde.

Mercedes ging gegen die Wertung des Rennens vor, Foto: Motorsport-Magazin.com
Mercedes ging gegen die Wertung des Rennens vor, Foto: Motorsport-Magazin.com

Langsam sickert im Fahrerlager durch, dass es das wohl nicht war. Mit einem Spitzenanwalt, der schon für Chelsea gegen die UEFA in den Ring stieg, wurden die Mercedes-Teamverantwortlichen bei der FIA vorstellig. Gleich zwei Protestete hatte man nach Rennende eingelegt.

Einerseits soll Verstappen beim Safety-Car-Restart schon vor der Freigabe des Rennens an Hamilton vorbeigefahren sein. Andererseits legte Mercedes Protest gegen das Rennergebnis ein, weil gleich gegen zwei Regeln verstoßen wurde: Nicht alle Fahrer durften sich zurückrunden und das Rennen wurde eine Runde zu früh wieder freigegeben.

Protest Nummer eins war unkompliziert. Um 22:15 Uhr verkündeten die Stewards, dass Verstappen keine Strafe für ein Vergehen beim Restart bekommt. Doch der zweite Teil war komplizierter. Die ganze Welt wusste, dass die Regeln nicht astrein eingehalten wurden. Aber die ganze Welt wusste auch, dass der Ausgang der WM nicht am Grünen Tisch entschieden werden sollte.

Teilweise wurde bei Red Bull schon gefeiert, Foto: Motorsport-Magazin.com
Teilweise wurde bei Red Bull schon gefeiert, Foto: Motorsport-Magazin.com

Die Stimmung im Fahrerlager war noch angespannter als vor dem Rennen. Bei Red Bull wusste man nicht so recht, ob man nun feiern sollte oder nicht. Nur das Verstappen-Lager wusste offenbar was zu tun war und ließ die Sektkorken frühzeitig knallen, während Teamchef Christian Horner, Teammanager Jonathan Wheatley und Technik-Genie Adrian Newey bei der FIA vorsprachen.

Red-Bull-Delegation auf dem Weg zur FIA, Foto: Motorsport-Magazin.com
Red-Bull-Delegation auf dem Weg zur FIA, Foto: Motorsport-Magazin.com

Bei Mercedes schwieg man nach außen hin eisern. Teammanager Ron Meadows, Chef-Ingenieur Andrew Shovlin und Star-Anwalt Paul Harris sprachen zur FIA. Auch Rennleiter Michael Masi äußerte sich nicht öffentlich. Schon in Saudi Arabien hatte die FIA nach den kontroversen Szenen die eigentlich übliche Medienrunde abgesagt. Masi sollte sich als Formel-1-Rennleiter nie wieder äußern dürfen.

Als um 23:03 Uhr Ortszeit der zweite Mercedes-Protest abgeschmettert wurde, war allen klar, dass es damit wohl nicht getan war. Für diesen Abend vorerst schon, aber Mercedes kündigte bald darauf eine Berufung an, die man dann wieder zurückzog. Doch die Saison und der Abend von Abu Dhabi hatten Spuren hinterlassen, wie man an Toto Wolffs Zoom-Call im Stile eines Bond-Bösewichts erkennen konnte. Mercedes boykottierte die FIA-Gala, Hamilton tauchte bis zur Fahrzeugpräsentation 2022 unter.

Abu Dhabi stürzte die FIA in eine tiefe Krise. Neu-Präsident Mohammed Ben Sulayem stand vor einer Mammut-Aufgabe. Als Reaktion führte er nicht nur eine virtuelle Rennleitung ein, sondern zog auch personelle Konsequenzen. Michael Masi musste für Niels Wittich und Eduardo Freitas Platz machen. Medial wurde der Rennleiter aus der Schusslinie gezogen. Medien-Briefings gibt es seit letztem Jahr nicht mehr.

Um 23:24 Uhr verließ Hamilton das Fahrerlager - und tauchte bis Februar 2022 ab, Foto: Motorsport-Magazin.com
Um 23:24 Uhr verließ Hamilton das Fahrerlager - und tauchte bis Februar 2022 ab, Foto: Motorsport-Magazin.com

Auch wenn sich die Wogen seit Abu Dhabi zwischen Red Bull und Mercedes etwas geglättet haben, Spannungen zwischen den Beteiligten gibt es weiterhin. Das wurde beim Streit rund um Red Bulls Verstoß beim Budget Cap und der Kollision zwischen Hamilton und Verstappen in Brasilien 2022 wieder offensichtlich.

Mein Abu Dhabi 2021 endete übrigens ähnlich, wie es begann: Spät am Sonntagabend, vielleicht war es auch schon Montagmorgen, traf ich beim Verlassen des Fahrerlagers auf Dr. Helmut Marko. Trotz WM-Laune und dem ein oder anderen alkoholischen Kaltgetränk hatte er unsere Meinungsverschiedenheit nicht ganz vergessen. "Fragen Sie doch den Danner", ließ er mich zunächst wissen, um dann doch noch auf meine Fragen zu antworten. Die Antworten sprachen Bände: Nach dem Titelgewinn gab es Ausstiegsdrohungen. So gesehen ein passender Abschluss einer verrückten Saison.

Hamilton vs. Verstappen - 1 Jahr danach: Was hat sich geändert? (13:09 Min.)