Sebastian Vettel hat sich lange mit dem Gedanken herumgeschlagen. Am Mittwoch, 27. Juli 2022, nur wenige Tage vor dem Großen Preis von Ungarn, fiel die finale Entscheidung. In einem Gespräch mit Lawrence Stroll teilte er mit: Vettel wird das Vertragsangebot von Aston Martin ausschlagen und seine Formel-1-Karriere zum Saisonende beenden.

"Es ist keine Entscheidung, die ich über Nacht getroffen habe", betonte Vettel. "Ich habe viel darüber nachgedacht." Auf gewisse Weise vielleicht sogar zu viel, wie er selbst eingesteht. "Diese Entscheidung war schon sehr lange in meinem Hinterkopf und hat so viel Energie aufgebraucht, vielleicht hat es mich zeitweise sogar etwas abgelenkt."

Vettel tritt zurück! Formel 1 passt nicht mehr zu mir! (09:38 Min.)

Jeder Sportler und jede Sportlerin sieht sich gegen Ende der aktiven Karriere der großen Herausforderung gegenüber, sich zu entscheiden, etwas anderes zu tun. "Jetzt bin ich an diesem Punkt angekommen", gibt Vettel zu. "Ich gebe ehrlich zu, dass ich auch Angst davor habe, was jetzt kommt. Es könnte ein Loch sein, ich weiß nicht, wie tief es ist und ob ich jemals herauskommen werde, aber ich habe viel Unterstützung, viele Menschen, die mir bis hierhin geholfen haben und das auch weiterhin tun werden."

Vettels Formel-1-Rücktritt: Ziel war immer zu gewinnen

Dennoch sieht er es als den richtigen Zeitpunkt an, um sich anderen Dinge zu widmen. Zum Beispiel seiner Familie, seiner Ehefrau und seinen Kindern, die ihn im Laufe einer langen anstrengenden Formel-1-Saison immer wieder entbehren mussten. "Ich weiß, wie intensiv dieser Job ist und wie viel Engagement nötig ist", nannte Vettel einen von vielen Einflussfaktoren. "Wenn man es macht, muss man es richtig machen. Es motiviert mich nicht, nur hier zu sein und Teil des Ganzen zu sein. Das Ziel war immer, zu gewinnen und vorne mitzufahren."

Seit seiner ersten vollen Formel-1-Saison 2008 mit Toro Rosso (wir erinnern uns: gleich ein Sieg im Regenrennen von Monza) hatte er öfter als nicht das Privileg, in einem konkurrenzfähigen Rennwagen zu sitzen. 53 GP-Siege und 4 WM-Titel sprechen eine klare Sprache. "Dieses Team [Aston Martin] steht den anderen davor in nichts nach, aber das Paket war nicht so stark, wie wir es gerne gehabt hätten", verrät Vettel. Deshalb seien in den vergangenen eineinhalb Jahren in Grün die erhofften Erfolge ausgeblieben.

Nachdem Vettel am Mittwoch seine Chefs informiert hatte, war es ihm am wichtigsten, am Donnerstag direkt seine Crew in der Box über seine Entscheidung zu informieren. "Es ist mein Team. Nein, es ist natürlich nicht mein Team, es ist das Team, für das ich fahre", verbesserte er sich direkt selbst. "Aber die Leute, die Tag und Nacht alles geben, sollten es wissen und von mir erfahren. Ich war schon in Situationen, in denen ich Dinge durch die Medien erfahren habe, das finde ich nicht unbedingt stilvoll."

Vettels Formel-1-Rücktritt: Ich hasse Racing nicht

Zukünftig will Vettel mehr Zeit mit seiner Familie verbringen. Doch das ist nicht der einzige Grund für seine Entscheidung. Er habe auch andere Interessen entwickelt, denen er sich in Zukunft mehr widmen möchte: "Diese Stimmen kann ich nicht ignorieren." Gemeint sind unter anderem sein Engagement im Umweltschutz oder sozialen Bereich. Je mehr er sich damit beschäftigte, desto lauter wurden die Stimmen in seinem Kopf und drängten das Thema mehr und mehr in den Mittelpunkt, bis er endlich die Entscheidung traf.

Aber: "Es ist nicht so, dass ich Racing ab sofort hassen würde", betonte Vettel. "Ich liebe es immer noch. Aber es zieht mich in eine andere Richtung und ich bin froh, diesen Weg einzuschlagen." Sein Einsatz für den Umweltschutz und gegen den Klimawandel sind aber nur einige der Faktoren, die eine Rolle gespielt haben. "Ich kann es nicht in Prozenten ausdrücken. Das wäre lächerlich", so Vettel. "Aber ich sehe, wie sich die Welt verändert und ich sehe die Zukunft, die für uns alle bedrohlich ist, ganz besonders für die kommenden Generationen."

Die öffentliche Kritik, die er in den vergangenen Wochen und Monaten teilweise einstecken musste, als er von verschiedenen Seiten als Heuchler bezeichnet wurde, störte ihn jedoch nicht und stellte keinen Grund für seinen Rücktritt dar. Im Gegenteil. "Ich weiß, dass ein Teil meines Jobs mit Dingen verbunden ist, von denen ich kein Fan bin", räumte Vettel ein. "Ich reise um die Welt, fahre Autos, verbrenne Ressourcen, das sind Dinge, die ich nicht ignorieren kann. Ich sehe das und sobald man sich dessen bewusst ist, kann man das nicht mehr verdrängen. Es ist aber nicht der Hauptgrund, es ist eine Kombination aus vielen Faktoren."

Vettels Formel-1-Rücktritt: Musste mir etwas beweisen

Statt der Jagd nach den letzten Tausendstelsekunden widmet er sich jetzt lieber seinen Kindern oder Umweltthemen. "Erfüllt mich das genug? Ich weiß es nicht. Warten wir es ab. Man weiß nie, was einen um die Ecke erwartet. Aber ich möchte es gerne herausfinden."

Die Pandemie und die drei Monate Zuhause mit der Familie haben übrigens nichts an seiner Entscheidung verändert. Schon vorher hegte er Gedanken über einen Rücktritt, aber Ende 2020 entschied er sich noch einmal dazu, eine neue Herausforderung anzunehmen. Er wechselte von Ferrari zu Aston Martin, um vor allem sich selbst einige brennende Fragen zu beantworten.

"Ich hatte damals noch einige offene Fragen, die ich beantworten wollte", verriet er. "Heute habe ich ein klares Bild davon. Ich habe seitdem zwar keine Rennen gewonnen, aber ich denke nicht, dass ich das musste. Es ging mehr darum, es selbst zu lösen. Ich weiß, was ich kann. Ich weiß, dass ich zu den Besten gehören kann und was es dafür braucht. Ich freue mich auf die verbleibenden Rennen, um das zu zeigen und ich werde es auf meine Weise machen. Die Rennen mit dem Team genießen und dann geht es weiter."

Vettels Formel-1-Rücktritt: Alter kein Rücktrittsgrund

Motivationsprobleme erwartet er für seine letzten zehn Formel-1-Rennen nicht. Wie es danach weitergeht, weiß er selbst noch nicht. Natürlich werde er das Fahren der schnellen Autos, das Adrenalin, die Zweikämpfe auf der Rennstrecke vermissen. "Ich habe darüber nachgedacht und es gibt wahrscheinlich keinen Ersatz dafür", gibt er zu. Andere Sportler suchen sich eine Art Ersatzdroge, die ihnen diesen Adrenalin-Rausch beschert. Vettel macht sich darüber aktuell keine Gedanken. "Wenn ich ein Rennen haben will, dann sind meine Kinder da, sie wollen das jeden Tag. Es wäre falsch, zurückzutreten, wenn man weiß, dass man noch Rennen fahren will."

Nichtsdestotrotz möchte er nicht ausschließen, dass er irgendwann in der Zukunft wieder an einem Rennen teilnimmt. Vielleicht sogar bei den 24h auf dem Nürburgring in einem Fahrzeug mit nachhaltigem Kraftstoff? "Ich kann dazu nicht ja oder nein sagen, weil die Entscheidung, die ich jetzt getroffen habe, ist, dass dieses Kapitel endet", erklärte Vettel auf Nachfrage von Motorsport-Magazin.com. "Ich sage nicht, dass dieses Kapitel endet, weil ein anderes direkt beginnt und ich nächstes Jahr andere Autos fahre. Das ist nicht die Entscheidung, die ich getroffen habe. Wie ich mit dieser großen Veränderung umgehen werde, weiß ich nicht. Die Zeit wird es zeigen. Mehr kann ich nicht dazu sagen."

Das Alter und die körperliche Fitness sind für ihn kein Hindernis. "Vom Alter her ist es kein Problem, etwas anderes zu machen und weiter in der Formel 1 zu fahren", betont er. "Das ist nicht das Limit. Ich bin körperlich in einer tollen Verfassung, ich habe keine Probleme, diese Autos zu fahren. An dieser Front hält mich nichts zurück."

Genauso wenig hält Vettel eine etwaige Angst zurück, mit dem Formel-1-Ausstieg möglicherweise eine große Plattform für die Verbreitung seiner Botschaft zu verlieren. "Das wäre die falsche Motivation, um weiterzumachen", so der Vettel. Sein Antrieb, um in der Formel 1 zu fahren, war stets, konkurrenzfähig zu sein und zu gewinnen. "[Weiterzumachen], nur um deine Meinung zu manchen Themen zum Ausdruck zu bringen - das wäre falsch."