Sehr viel besser hätte die Formel 1 sich den Start in ihre neue Ära mit dem Saisonstart 2022 in Bahrain kaum vorstellen können. Ferrari zurück an der Spitze, ein enges Duell mit Red Bull, Mercedes mit ordentlich Nachholbedarf und viele weitere kräftige Verschiebungen dahinter, ob nach vorne durch Haas und Alfa Romeo oder nach hinten in Form McLarens. Damit nicht genug: Noch dazu bot der Auftakt enges Racing und ein dichter gestaffeltes Feld.

Die Feuertaufe hat die Formel 1 anno 2022 damit bestanden. Doch besteht sie auch ihre erste Bewährungsprobe? Die steht bereits an diesem Wochenende mit dem Großen Preis von Saudi-Arabien und mit dem Jeddah Corniche Circuit auf einer völlig anderen Strecke im F1-Kalender. Der Start ins Wochenende? Macht Mut - zumindest abseits der erschütternden Bilder des Raketenangriffs jemenitischer Huthi-Rebellen auf eine Ölförderanlage in der Nähe der Strecke. Das zeigt die Trainingsanalyse von Motorsport-Magazin.com zum Freitag in Dschidda, so der deutsche Name der zweitgrößten Stadt des Königreichs.

Formel 1: Feld in Jeddah extrem eng zusammen

Zum einen, weil sich das gesamte Feld im einzig relevanten zweiten Training - nur diese Session steigt wie Qualifying und Rennen nach Sonnenuntergang - diesmal sogar innerhalb von nur 2,3 Sekunden tummelte. In Bahrain waren es noch 2,8 Sekunden gewesen. Zum anderen, weil sich an der Spitze abermals keine klare Dominanz abzeichnet. So fuhr Charles Leclerc, wie zuvor schon im FP1, zwar eine recht klare Bestzeit mit 0,140 Sekunden Vorsprung auf Max Verstappen, allerdings hatte der Ferrari-Pilot dabei die weichen Reifen aufgezogen, der Weltmeister hingegen die Medium-Pneus. Bis zu 0,6 Sekunden langsamer pro Runde soll diese etwas härtere Mischung den Angaben des Reifenherstellers zufolge sein.

Um diesen Faktor bereinigt würde Verstappen also deutlich vor dem Auftaktsieger klassieren. Dasselbe gilt für Carlos Sainz und Sergio Perez, die ähnlich wie Verstappen unfreiwillig ebenfalls keine saubere Runde auf weichen Reifen in den Asphalt brannten. Mit den Medium-Walzen lagen sowohl der Spanier als auch der Mexikaner weniger als drei Zehntel hinter Leclerc. Doch fällt der Unterschied der Mischungen tatsächlich so gewaltig aus?

Saudi-Arabien: Verstappen im Qualifying auf Leclerc-Level?

Eine hohe 1:29er Zeit wäre mit dem weichen Reifen drin gewesen, so Red Bulls Motorsportberater Dr. Helmut Marko. Das würde den Spieß nicht unbedingt deutlich zugunsten Verstappens umdrehen, sondern dem Niederländer eher einen ähnlichen Vorteil bescheren, wie ihn nun Leclerc im Tagesergebnis hält - und der hatte auf seiner schnellsten Runde ohnehin noch Verkehr.

Zuversichtlich kann Red Bull dem restlichen Wochenende nach dem Training dennoch entgegenblicken. "Max hatte keine Runde, auch am Vormittag, keine Runde mit neuen Reifen", verweist Marko im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com auf den geplatzten Soft-Run. "Wir sind, glaube ich, sicher auf Ferrari-Niveau", ergänzt der Grazer. Und damit gemeinsam mit den Roten erneut in einer eigenen Liga, so Marko.

Ferrari und Red Bull in eigener Liga: Mercedes weit abgeschlagen

Das zeigt sich deutlich anhand der Bestzeiten. Trotz weicher Reifen liegen Lewis Hamilton und George Russell in ihren auch in Jeddah noch extrem springenden Mercedes-Boliden deutlich zurück. Gut vier Zehntel fehlten dem Platzhirsch, sogar knappe sechs dem Neuzugang im silbernen Lager.

Genauso bestätigt sich dieses Bild bei den Dauerläufen - zumindest im Vergleich mit Red Bull. Ferrari fuhr am Freitag selbstverschuldet keine Longruns. Sowohl Leclerc als auch Sainz touchierten im zweiten Training nach ihren Qualifying-Runs die Streckenbegrenzung, beschädigten ihre Ferrari dabei zwar nicht massiv, aber fahruntüchtig. So brach am F1-75 Leclercs vorne links die Spurstange. Für beide war die Session beendet bevor die erste Longrun-Runde gefahren war - eine gewaltige Hypothek in Sachen Erfahrung. Zumal die Reifen in Saudi-Arabien alles andere als leicht zu handhaben sind.

Reifen Thema in Saudi-Arabien: Großer Abbau und Verschleiß

"Wir haben den ganzen Tag über Graining gesehen, besonders auf der weicheren Mischung", berichtet Pirellis F1-Leiter Mario Isola. Sowohl Verschleiß als auch Abbau waren hoch. Das zeigt sich bei seltenen Longrun-Versuchen auf den weichen Reifen deutlich. Fast alle fallen gegen Ende der Stints deutlich ab, im Schnitt sind die Soft-Longruns somit auf deutlich dürftigerem Niveau als jene auf den harten oder den besonders beliebten Medium-Reifen. "Den halten die Teams womöglich für einen starken Rennreifen, gemeinsam mit dem Hard, der sehr gute Konstanz gezeigt hat", vermutet Isola. Dank der Entwicklung der Strecke erwartet Pirelli am Samstag jedoch Besserung auch auf den anderen Mischungen, auch wenn der Soft offenbar nicht sonderlich gut für die Strecke geeignet sei. Dank der 2022 neuen freien Reifenwahl auch für die Top-10 werden die Teams hier zumindest im Qualifying in keine Zwickmühle geraten.

Formel 1 Saudi-Arabien: Longruns auf Soft

FahrerReifenalterStintlängeSchnitt
Tsunoda1581:36.988
Zhou1891:37.180
Norris1031:37.261
Hülkenberg1241:37.335
Schumacher1551:38.302

Fahrfehler von Leclerc und Sainz: Ferrari verpasst Longruns

Ferrari hingegen hat sich durch die Flüchtigkeitsfehler seiner Fahrer selbst in eine solche manövriert. Erfahrung ist Mangelware. "Das war ein unglückliches Ende eines sonst guten Tages", ärgert sich Leclerc. "Ich denke, die Pace ist da. Aber es ist schade, dass wir keine Runden mit viel Sprit drehen konnten. Dennoch sollten wir morgen bei der Musik sein." Auch Sainz ärgert sich über die verpasste Gelegenheit, mehr jedoch über auch am Ferrari heftiges Bouncing. "Aber Sorgen mache ich mir da noch nicht", sagt der Spanier. In Sachen Rennpace kann Ferrari nun einzig noch das FP3 bei nicht repräsentativen Bedingungen für Nachholarbeit nutzen, ansonsten geht man ahnungslos ins Rennen.

Bei Red Bull gilt hier das genaue Gegenteil. Sowohl Verstappen als auch Perez drehten Longruns auf der Medium-Mischung - beide deutlich schneller als die ersten Verfolger. Mangels Ferrari-Daten sind das die Mercedes von Hamilton und Russell. Acht Zehntel schneller als der Rekordsieger war Verstappen, Perez noch immer eine halbe Sekunde. Russell lag nochmals zweieinhalb Zehntel mehr zurück. Das ist längst keine Konkurrenz für die Bullen. Deshalb ärgert man sich dort fast über die Ferrari-Flaute. "Die sind leider keine Longruns gefahren, weil beide in der Mauer waren", stichelt Marko. So fehlt auch Red Bull zumindest eine Referenz.

Formel 1 Saudi-Arabien: Longruns auf Medium

FahrerReifenalterStintlängeSchnitt
Verstappen1871:35.197
Perez1771:35.449
Hamilton1891:35.966
Russell23141.36.202
Gasly1761:36.276
Ocon1581:36.485
Norris1681:36.553
Ricciardo1671:36.763
Latifi1991:37.649
Stroll2081:38.236

Nicht nur deshalb ist Red Bull nicht vollends zufrieden. "Wir haben Schwierigkeiten beim Aufwärmen der Soft-Reifen gehabt", mahnt Marko. "Aber das haben eigentlich alle und die Longruns waren ja sehr zufriedenstellend." Verstappen sieht sich dennoch - noch - im Hintertreffen. "Ferrari scheint wieder ziemlich konkurrenzfähig zu sein, wir müssen noch etwas arbeiten, um sie einzuholen, aber es gibt viel Raum für Verbesserungen", sagt der Weltmeister.

Red Bull erneut Topspeed-Könige

Nicht zu den nötigen Verbesserungen zählt der Topspeed. Auch in Jeddah ist Red Bull bei der Endgeschwindigkeit wieder überlegen - so gut sich das mit zahlreichen verzerrenden Faktoren im Training (Windschatten, DRS ...) eben darstellen lässt. Die FP2-Wertung toppte jedenfalls Perez vor Verstappen. Fast sieben Stundenkilometer fehlten Leclerc auf den schnelleren Bullen, zumindest drei auf den Niederländer. Erneut zeigt sich auch: Mercedes-Motoren tummeln sich vor allem am Ende der Tabelle. Fünf der sechs Letzten fahren mit Mercedes-Power. Die Top-8 dagegen sind fest in Händen Hondas und Ferraris.

Formel 1 Saudi-Arabien: Topspeeds im zweiten Training

FahrerTeamMotorkm/h
PerezRed BullHonda327.8
VerstappenRed BullHonda324.5
MagnussenHaasFerrari322.0
GaslyAlphaTauriHonda321.5
LeclercFerrariFerrari321.3
TsunodaAlphaTauriHonda321.1
SchumacherHaasFerrari320.8
SainzFerrariFerrari320.3
LatifiWilliamsMercedes320.0
AlonsoAlpineRenault320.0
StrollAston MartinMercedes320.0
BottasAlfa RomeoFerrari319.9
HülkenbergAston MartinMercedes319.7
ZhouAlfa RomeoFerrari319.5
RussellMercedesMercedes318.7
HamiltonMercedesMercedes317.8
OconAlpineRenault317.3
AlbonWilliamsMercedes317.1
NorrisMcLarenMercedes314.8
RicciardoMcLarenMercedes310.7

Ob Motor oder Abtrieb dafür verantwortlich sind, einmal dahingestellt. Hamilton fordert speziell hier Nachbesserungen. "Der heutige Trainings-Tag war okay. Wir haben immer noch viele der Probleme, die wir im letzten Rennen hatten, aber wir arbeiten daran, sie zu lösen", sagt der Brite. "Aufgrund der schnellen Kurven ist das hier definitiv etwas schwieriger, aber der Grip auf der Strecke ist wirklich gut und wir müssen nur noch etwas Geschwindigkeit auf den Geraden finden."

Mercedes kämpft und experimentiert

Grundsätzlich besteht bei Mercedes Nachholbedarf. "Wir haben immer noch die gleichen Probleme, die wir am letzten Wochenende in Bahrain hatten", bestätigt Russell. "Wir wissen, dass wir noch eine Menge Arbeit vor uns haben, um den Rückstand auf Red Bull und Ferrari aufzuholen." Insbesondere an den Bouncing-Problemen arbeitete Mercedes im Training erneut mit diversen Experimenten: "Einige davon haben es verschlimmert, andere haben geholfen, aber wir haben noch keine Lösung, um das Problem zu beseitigen", gesteht der leitende Strecken-Ingenieur Andrew Shovlin. "Wir können es für morgen aber leicht verringern, denn es beeinträchtigt die Fahrer in einigen Kurven und kostet sie Zeit."

Im Mittelfeld erlebte unterdessen Haas einen Rückschlag. Kevin Magnussen kam nach einem erneuten Hydraulik-Leck im ersten Training und mechanischen Problemen im zweiten nur auf ein gutes Dutzend Runden und keine Dauerläufe - während Mick Schumachers Longruns auf weichen und harten Reifen alles andere als überzeugten. Dafür verzeichnete McLaren zumindest leichte Besserung. "Ein anständiger Tag", sagt Norris. Allein die Strecke helfe dem Paket. "Das erlaubt uns, etwas mehr Potenzial aus dem Auto zu quetschen. Wir fühlen uns etwas zuversichtlicher." Auf den Medium-Longruns schüttelten Norris und Ricciardo so immerhin Williams und Aston Martin ab und stellten zumindest Tuchfühlung zu Alpine her.

Formel 1 Saudi-Arabien: Longruns auf Hard

FahrerReifenalterStintlängeSchnitt
Alonso1881:35.802
Albon1781:35.834
Hülkenberg1881:36.445
Schumacher1731:37.350

Fazit: Wie in Bahrain läuft in Saudi-Arabien alles auf ein Duell Ferrari gegen Red Bull hinaus. Auf eine Runde scheinen sich Leclerc und Verstappen kaum etwas zu nehmen, ob diesmal auch Sainz und Perez eingreifen, erscheint fraglich. Im Renntrimm sind Prognosen unmöglich. Wenn, dann liegt die Favoritenrolle wegen Ferraris Erfahrungsrückstand im Dauerlauf auf in Jeddah sensiblen Pirellis-Pneus eher bei Red Bull. Doch das dachten wir auch in Bahrain ...