Die Formel-1-Saison 2022 ist schon vor dem Start in Bahrain Wahnsinn. Die angeblich restriktivsten Regeln der Geschichte bringen die unterschiedlichsten Fahrzeuge seit Ewigkeiten hervor. Die bislang vorgestellten Boliden unterscheiden sich allesamt deutlich voneinander. Der Ferrari F1-75 reiht sich da nahtlos an Aston Martin AMR22, McLaren MCL36 und Co.

"Aggressiv und mutig", so bezeichnete Ferrari-Teamchef Mattia Binotto die neue Rote Göttin. Und tatsächlich, schon der erste Blick auf den Boliden zeigt, dass die Ingenieure der Marschroute ihres Anführers, auch einmal quer zu denken, gefolgt sind. "Das zeigt, dass wir unvoreingenommen sein können", freut sich Binotto.

"Alles an diesem Auto ist von der Aerodynamik getrieben", erklärt der ehemalige Motoren-Mann. Fahrwerks- und Motoren-Ingenieure mussten Kompromisse für ihre Kollegen im Windkanal eingehen. "Das Ergebnis ist ein unkonventionelles Projekt. Es ist extrem bei der Installation, dem Layout und bei vielen Innereien", sagt der heutige Motorenchef Enrico Gualtieri.

Dabei hatte die Motorenabteilung auch an einer anderen Front zu kämpfen. 2021 lief man noch immer einem PS-Defizit nach der Regelklarstellung 2020 hinterher. Dazu musste der Brennraum auf das neue E10-Benzin adaptiert werden. Immerhin beim Energierückgewinnungssystem konnte man sich etwas Luft verschaffen: Das feierte schon in der vergangenen Saison Debüt. Man hatte sich die Ausbaustufe für den Schlussspurt 2021 extra aufgehoben, um schon für 2022 testen zu können.

Die Nase besteht aus zwei größeren Segmenten, Foto: Ferrari
Die Nase besteht aus zwei größeren Segmenten, Foto: Ferrari

Die Innovationen am F1-75 beginnen aber nicht erst am Heck - dazu später noch mehr. Schon die Nase wirkt interessant. An der schmalen Spitze gibt es einen Lufteinlass in Naca-Form. Der soll Frischluft für die Fahrer einsammeln, alles andere ist an dieser Stelle verboten.

Ferrari-Nase aus zwei Crash-Strukturen?

Bei genauerem Hinsehen lassen sich an der langen Nase zwei Segmente erkennen. Die Nase sitzt direkt vor dem Monocoque und ist die vordere Crash-Struktur. Offenbar ist die bei Ferrari nun zweigeteilt. Möglicherweise, um schneller Updates bringen zu können. Denn die Pylonen, die zuletzt den Frontflügel mit der Nase verbunden haben, gibt es 2022 nicht mehr.

Stattdessen ist der Frontflügel direkt mit der Nase verbunden. Wer also am Frontflügel Updates bringen will, ist variabler, wenn er auch die Nase verändern kann. Die Ingenieure rechnen - trotz restriktiver Regeln dort - mit viel Entwicklung am Frontflügel in Saison eins dieses Regelwerks.

Pushrods auch am Ferrari F1-75, Foto: Ferrari
Pushrods auch am Ferrari F1-75, Foto: Ferrari

Um die Vorderradaufhängung gab es im Vorfeld schon viele Spekulationen. Angeblich würde Ferrari hier wieder zu Pullrods zurückkehren. Nichts da: Der F1-75 setzt an der Vorderachse wie schon seine Vorgänger auf Druckstreben, also Pushrods. Aus aerodynamischen Gründen, wie Binotto eingangs erklärte.

Dahinter wird es aber richtig spannend. Die Seitenkasteneinlässe liegen hoch. Sie sind außergewöhnlich breit und schließen nicht mit der Kante, die das Reglement ergibt. Bei Aston Martin und Toro Rosso schließen die Öffnung jeweils mit der Kante. Bei Ferrari ziehen sich die Öffnungen stattdessen ums Eck.

Die Seitenkästeneinlässe sind stark geschwungen, Foto: Ferrari
Die Seitenkästeneinlässe sind stark geschwungen, Foto: Ferrari

Dahinter der möglicherweise große Coup: In der Mitte fallen die Seitenkästen plötzlich ein. Einschnitt statt Unterschnitt. Zwischen Motor und Außenseite der Seitenkästen entsteht ein Flussbett, das geschwungen nach hinten in Richtung der beiden Beamwings führt.

Soll über das Flussbett der Beamwing angeströmt werden, Foto: Ferrari
Soll über das Flussbett der Beamwing angeströmt werden, Foto: Ferrari

Mitten in diesem Flussbett öffnen sich Kiemen. Die Schlitze sind 2022 wieder erlaubt. Die Kiemen ragen quer vom Flussbett in die Motorabdeckung. Die Abluft folgt dem Flussverlauf offenbar nach hinten zum Beamwing.

An der Außenseite sind die Seitenkästen hoch, Foto: Ferrari
An der Außenseite sind die Seitenkästen hoch, Foto: Ferrari

An der Außenseite sind die Seitenkästen hoch. So ergibt sich ein extremerer Strömungskanal. Eigenartig: Der Undercut zwischen Seitenkasten und Unterboden fällt sehr klein aus. Opfert Ferrari hier Abtrieb am Unterboden für Abtrieb über den Beamwing? Normalerweise ist Abtrieb durch den Unterboden deutlich effizienter, also kostet weniger Luftwiderstand.

Die Ferrari-Seitenkästen sind nur schwach unterschnitten, Foto: Ferrari
Die Ferrari-Seitenkästen sind nur schwach unterschnitten, Foto: Ferrari

Binotto: Haben noch Platz und Spielraum

Nervös macht Teamchef Binotto die bislang einzigartige Lösung nicht. Zumal sich die Ingenieure auch noch genug Spielraum gelassen haben, wie er Motorsport-Magazin.com verriet: "Unsere Form ist ziemlich breit. Wir haben nicht den ganzen Platz darunter ausgefüllt. Wir haben in der Mitte des Fahrzeugs sicherlich noch etwas Flexibilität. Dort bieten die Regeln am meisten Freiheiten."

Deshalb war Binotto ein aggressives Packaging bei der Power Unit auch extrem wichtig. Die Motoren sind bis 2025 eingefroren. Wer hier zu konservativ agiert, verliert möglicherweise nicht nur vier Jahre lang Motorleistung, sondern auch Aerodynamik-Potential.

Die Finne spannt eine vergleichsweise große Fläche über dem Ferrari-V6 auf, Foto: Ferrari
Die Finne spannt eine vergleichsweise große Fläche über dem Ferrari-V6 auf, Foto: Ferrari

Wie kompakt der intern 066/7 genannte Turbo-V6 baut, lässt sich auch an der Finne über der Motorabdeckung erahnen. Die Fläche, die sich zwischen Motorabdeckung und Finne ergibt, ist recht groß im Vergleich mit anderen Autos. Die Abmessungen der Finne sind vom Reglement festgelegt.

Pullrods an der Hinterachse: Aber deutlich weiter vorne, Foto: Ferrari
Pullrods an der Hinterachse: Aber deutlich weiter vorne, Foto: Ferrari

An der Hinterachse vertraut Ferrari weiterhin auf Pullrods. Allerdings beschreiten die Ingenieure hier für Maranello neue Wege. Das Feder-Dämpfer-System wandert am Getriebegehäuse weit nach vorne. Das ist an der Zugstrebe zu erkennen, die nun weit nach vorne ragt. Das Konzept ist aber nicht gänzlich neu. Red Bull exerziert dieses Packgaing seit Jahren zum Beispiel sehr extrem.

Ferrari: Demorun vor Filmtag und Test

Ein kleiner Coup ist Ferrari auch beim Sportlichen Reglement gelungen. Ein Tag nach der Präsentation fährt der F1-75 zum ersten Mal. Dafür muss die Scuderia nicht einmal einen der beiden Filmtage opfern. Stattdessen hat man sich eine Demofahrt genehmigen lassen. 15 Kilometer sind dabei erlaubt. Das reicht immerhin für erste Systemchecks. Beim Filmtag einen Tag vor dem offiziellen Testbeginn in Barcelona könnten die ersten Fehler damit schon behoben sein.