Was haben die Debriefings nach Barcelona ergeben: Hätte man das Rennen gewinnen können?
Dr. Helmut Marko: Ja, die Lösung wäre gewesen, den Perez in unmittelbarer Nähe der ersten zwei zu haben. Dann hätte Hamilton auch noch an Perez vorbeikommen müssen und das wäre sicher kein leichtes Unterfangen gewesen. Aber wenn man in Barcelona in Führung liegt, dann gibt man diese mit einem zweiten Stopp nicht freiwillig her. Noch dazu - das hatten Sie ganz richtig analysiert - hatten wir keinen zweiten Satz Mediums mehr.
Es war nun schon das zweite Mal in dieser Saison, dass Red Bull im Rennen ein Satz Mediums gefehlt hat. Muss man da in Zukunft die Herangehensweise ändern?
Dr. Helmut Marko: Natürlich muss das berücksichtigt werden, aber wir hatten ja einen neuen Satz Softs. Das heißt, wenn wir den Stint hätten länger hinauszögern können, dann wären die eine eventuelle Alternative gewesen.
Inwiefern hat es mitreingespielt, dass Verstappen zu früh an die Box gekommen ist?
Dr. Helmut Marko: Naja, das hat das ganze illusorisch gemacht. Dadurch waren wir einfach an die längere zweite Phase gebunden.
Wurde auch analysiert, wie es zustande gekommen ist, dass er einfach an die Box kommt?
Dr. Helmut Marko: Das war einfach ein Missverständnis. Sowas kommt vor und hat eigentlich nichts mit der Systematik oder sowas zu tun - das war eine Unachtsamkeit.
Interessant ist 2021 auch, dass es in der Vergangenheit die Faustregel gab, dass Red Bull im Qualifying ein bisschen schwächer, im Rennen aber etwas schneller war. Jetzt ist es genau umgekehrt. Haben sie eine Erklärung dafür?
Dr. Helmut Marko: Das kann man nur relativ sagen, weil wir nicht wissen, inwieweit Mercedes in der Vergangenheit voll aufgedreht hat. Jetzt sind sie aber dazu gezwungen, voll aufzudrehen. Ich glaube, dass das eine realistische Erklärung ist.
Eine weitere interessante Beobachtung ist, dass Red Bull auf dem Medium-Reifen in Relation zu Mercedes verliert. Warum?
Dr. Helmut Marko: Wenn wir das wüssten, hätten wir das schon abgestellt. Es hängt sicher damit zusammen, dass der Max dazu gezwungen ist, am absoluten Limit zu fahren der Reifen dadurch mehr strapaziert wird. Perez, der nicht voll und dafür frei fahren konnte, hat deutlich weniger Reifenabbau. Die ganze Geschichte ist aber noch nicht schwarz-weiß.
Auf eine Runde sieht man aber auch, dass der Mercedes auf dem Medium deutlich besser funktioniert - zündet er da die Reifen besser an?
Dr. Helmut Marko: Auch nicht immer. Wir haben auch schon Qualifyings gehabt, wo wir auf dem Medium deutlich schneller waren.
Der Soft-Reifen scheint auf dem Red Bull aber ganz gut zu funktionieren und auch im Qualifying ist Red Bull stark. Bedeutet das für Monaco, dass Sie der Top-Favorit sind?
Dr. Helmut Marko: Wenn wir es umsetzten, dann ja. Ich muss aber auch sagen, dass wir darüber überrascht sind, wie Hamilton das angeht. Auch in psychologischer Hinsicht und wie er die sechs Sekunden Lücke schließen konnte. Der fährt optimale Rennen. Das bekommen wir ja auch alles mit und wissen, wie viel Speed im Mercedes steckt. Von dem Moment an war es irgendwo klar, dass er auf zwei Stopps geht, weil seine Reifen das nicht durchgehalten hätten. Da sind wir mit dem Rücken zur Wand gestanden.
Zum Thema Hamilton: Sehen Sie bei Verstappen einen kleinen Nachteil, weil er noch nicht so viel WM-Erfahrung wie Hamilton hat?
Dr. Helmut Marko: Naja, das ist nicht nur die WM-Erfahrung. Ich weiß nicht genau, wie viele Jahre er dem Max voraus ist. Von der Reifenbehandlung und Reifennutzung her ganz sicher. Da ist Hamilton vielleicht sogar der Beste.
Verstappen hat in dieser Saison schon Punkte verloren, weil er die Tracklimits nicht beachtet hat. Hat er ein Problem damit?
Dr. Helmut Marko: Jetzt kommen wir zu etwas richtig Ernstem: Man muss mit diesen Regelungen bezüglich der weißen Linien aufhören. Einmal darf man drüberfahren, einmal nicht. Wir sollten auf Rennstrecken mit Kiesbett und Gras fahren, da wirst du nämlich bestraft, wenn du neben die Strecke fährst. Sonst ist das für die Fahrer wie eine Einladung. Wir haben das jetzt schon überall.
Ist das jetzt ein Problem der Strecken oder ein Problem vom Renndirektor, dass der keine richtigen Regeln aufstellt?
Dr. Helmut Marko: Das ist eine Kombination vom Sicherheitsdenken und anderen Anforderungen beispielsweise der MotoGP. Auch die Auslaufzone der Parabolica hat man asphaltiert. Da könnte man eigentlich ein Kiesbett hinsetzen, wo sich der Fahrer dann langsam wieder herausarbeiten muss. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist. Irgendwann hat es geheißen, um die Sicherheit zu erhöhen. Das ist ein ganz fürchterliches Thema.
Aber auf dem Red Bull Ring sieht es ja auch nicht besser aus…
Dr. Helmut Marko: Ja, aber da haben wir jetzt auch eine Lösung gefunden. Wir hatten dort die Sausage-Kerbs - die haben Schäden in Millionenhöhe verursacht. Jetzt haben wir zusammen mit der FIA eine Lösung gefunden, die kompatibel für die MotoGP und auch Autos ist. Da wird dir nichts ruiniert, aber du wirst trotzdem bestraft, wenn du drüberfährst.
Kommen wir zurück auf die kleinen Fehler von Verstappen, die wir in der Saison schon gesehen haben: Liegt es am Druck des WM-Kampfs?
Marko: In Portimao war es wirklich eine Windböe. Das hat man an den Telemetriedaten gesehen. Das hohe Heck wurde ausgehoben und er hat korrigieren müssen.
Merkt man es ihm nicht an, dass die Anspannung durch den WM-Kampf etwas steigt?
Dr. Helmut Marko: Der Max ist so entspannt wie schon lange nicht mehr. Er war nur im Qualifying [in Portimao] nicht entspannt, weil er auf die Pole gefahren ist und sie ihm das wieder weggenommen haben. Das ist der reifste Max, den wir je hatten. In Imola hatte er ja [am Freitag] das Problem mit der Antriebswelle. Da hätte er früher geschimpft wie ein Rohrspatz. Also er ist deutlich reifer geworden.
Im WM-Kampf zu sein, ist nie blöd. Ein Entwicklungsduell mit Mercedes ist aber doch etwas schwierig in Bezug auf die Entscheidung, wann man endgültig auf 2021 umstellt, oder?
Dr. Helmut Marko: Also wir sind sicher nicht BMW, wo sie [2008] gesagt haben, dass es ihr Plan ist, erst im nächsten Jahr Weltmeister zu werden. Das Denken haben wir nicht. Wir haben bis zur Sommerpause geplant und dann werden wir schauen, wo wir stehen.
Das große Problem bei der richtigen Ressourcenaufteilung ist in diesem Jahr die Budgetobergrenze. Mercedes jammert, weil der Unfall von Valtteri Bottas und George Russell so teuer war. Haben sie Unfallschäden einkalkuliert?
Dr. Helmut Marko: Wir haben ein gewisses Unfallbudget. Wie viele Chassis hat Mercedes im letzten Jahr überhaupt gebaut? Zurzeit haben sie vier und davon ist keines im Museum gelandet. Wenn so etwas noch häufiger passiert, dann wird das natürlich schon schwierig.
Wie kalkulieren Sie ihr Unfallbudget?
Dr. Helmut Marko: Man schaut sich die letzten Jahre an.
Ist die WM auch wichtig für Max Verstappen? In Bezug auf seinen Vertrag, der möglicherweise nicht so ganz wasserdicht ist?
Dr. Helmut Marko: Da ist unter anderem der Zak Brown Spezialist [lacht]. Das spielt in der Vertragssituation keine Rolle, aber natürlich ist das wichtig. Der fährt schon relativ lange und ist immer mit unterlegenem Material gefahren. Jetzt ist es dank Honda besser geworden. Ferrari hatte ja auch ein Hoch, aber das hatte ja andere Gründe. In der Hybridära war der Mercedes-Motor sonst absolut dominant.
Jetzt müssen wir natürlich auch über die Heckflügel sprechen...
Dr. Helmut Marko: Das ist eine alte Geschichte. Wir haben während unserer WM-Jahre in einer Saison glaube ich zwei- oder dreimal die Frontflügel nachbessern müssen. Die FIA erstellt ein Reglement und die Teams versuchen das so optimal wie möglich zu nutzen. Das ist aber nicht nur eine Lex-Red-Bull - da sind andere Teams genauso betroffen.
Wenn sie sagen 'nicht nur': Bedeutet das, Sie müssen nachbessern?
Dr. Helmut Marko: Wir gehen davon aus, dass wir in Bezug auf die Auslegung, die jetzt kommt, vielleicht minimal nachbessern müssen. Das ist ja eine andere Auslegung wie die vorherige.
Das sollte man kurz erklären: Der Red Bull war nicht illegal. Er hat nur die Grenzen des bis dato gültigen Reglements ausgenutzt…
Dr. Helmut Marko: Ja genau. Ich glaube, da gibt es andere Autos, die stärker betroffen sind.
Wie viel Performance kostet Sie die Änderung in etwa?
Dr. Helmut Marko: Das berechnen wir gerade. Es ist aber nicht so, dass das irgendwie WM-entscheidend wäre.
Die Auslegung zählt ab 15. Juni mit einer Toleranz von 20 Prozent. Ab 15. Juli dann komplett. Können Sie sich vorstellen, dass da zwei Varianten entwickelt werden? Einmal, dass man die Toleranz genau nutzt für ein paar Rennen und dann erst komplett?
Dr. Helmut Marko: Da müssen wir überprüfen, inwieweit wir nicht eh schon in dieser Toleranz liegen. Das ist gerade erst jetzt herausgekommen.
Sie klingen beruhigt, was diese Thematik angeht…
Dr. Helmut Marko: Ich würde sagen, dass das nicht WM-entscheidend ist. Das haben wir schon häufiger erlebt. Ich weiß nicht, wie viele technische Leute die FIA hat, aber sicher bei weitem weniger als bei jedem Formel-1-Team. Die stehen einer Armada von technisch hochqualifizierten Ingenieuren gegenüber. Die einen versuchen, das Reglement so konform wie möglich zu machen und die anderen versuchen, es innerhalb der Regeln so optimal wie möglich zu umgehen. Da gibt es in diesem Sinne von beiden Seiten keine böse Absicht.
Teile des Interviews wurden bereits beim Portugal GP geführt
diese Formel 1 Interview