Dieser Singapur GP ist ein wahrer Leckerbissen für die Rennanalyse. Deshalb gibt es diesmal sogar zwei davon! In Teil eins wollen wir uns auf Ferrari konzentrieren, Teil zwei beleuchtet Mercedes' Strategie genauer - insbesondere natürlich den Aufruf an Valtteri Bottas, langsamer zu machen, damit Lewis Hamilton vorne bleibt.

Doch nun zu Ferrari: Die Scuderia feierte ihren ersten Doppelsieg seit dem Ungarn GP 2017 und muss sich dennoch Kritik gefallen lassen. Eigentlich hätte Charles Leclerc seinen dritten Sieg in Folge einfahren sollen, ja sogar müssen. Doch es war Sebastian Vettel, der völlig überraschend seinen ersten Sieg in der Formel-1-Saison 2019 holte.

Dabei war es Leclerc, der Pole Position holte und den Grand Prix vorne an der Spitze kontrollierte. Nur durch einen früheren Stopp gewann Vettel gleich zwei Plätze und zog dabei an seinem monegassischen Teamkollegen vorbei. "Ich habe mich nur an den Plan gehalten", beschwerte sich Leclerc nach dem Rennen, das er nicht gewinnen sollte oder durfte.

Leclerc hält sich an Plan: Bummelzug durch Singapur

War der Unmut des 21-Jährigen gerechtfertigt? Warum durfte Vettel seinen Teamkollegen mit einem Undercut überholen? Und was meint Leclerc mit seinem Plan, an den er sich hielt? Singapur Rennanalyse Teil eins liefert Antworten.

Ferraris Plan war einfach zu durchschauen. Es galt, das Tempo vorne an der Spitze so niedrig wie möglich zu halten. Dafür gab es zwei Gründe: Einerseits hatte Ferrari den höchsten Reifenverschleiß aller Top-Teams. Je niedriger das Tempo, desto weniger der Reifenverschleiß, so die einfache Rechnung. Weil Überholen in Singapur nahezu unmöglich ist, konnte Leclerc fast beliebig langsam fahren.

Auf der anderen Seite hatte Ferrari Interesse daran, keine Lücke aufzufahren. Unter normalen Umständen setzen sich die drei Top-Teams schnell vom Rest des Feldes ab. Die Lücke auf den Best of the Rest ist schnell so groß, dass die Top-Leute zum Boxenstopp kommen können, ohne ins Mittelfeld zurückzufallen. Das berühmte Boxenstopp-Fenster öffnet sich recht schnell.

Top 10 nach erstem Renndrittel innerhalb von 10 Sekunden

Weil Leclerc vorne an der Spitze aber 13 Sekunden langsamer als im Qualifying fuhr, konnten auch die McLaren und Co. gut an der Spitzengruppe dran bleiben. In Runde 19 lag Lando Norris nur 10,5 Sekunden hinter Leader Leclerc. Auf Alex Albon im Red Bull vor ihm fehlten ihm nicht einmal zwei Sekunden. Zum Vergleich: In Ungarn beispielsweise betrug der Rückstand von Carlos Sainz als Best of the Rest nach ebenfalls 19 (dazu noch etwas kürzeren) Runden satte 42,5 Sekunden auf die Spitze.

Dadurch, dass das gesamte Feld so eng zusammenlag, traute sich Mercedes mit Hamilton keinen Undercut zu machen. Das Risiko, mit den frischen Reifen mitten im Verkehr rauszukommen, war den Mercedes-Strategen zu groß. Genau das wollte Ferrari mit der Schleichfahrt erreichen.

Dazu kostet ein Boxenstopp auf dem Marina Bay Street Circuit besonders viel Zeit. Das Geschwindigkeitslimit beträgt dort nur 60 statt der sonst üblichen 80 Stundenkilometer. Rund 25 Sekunden muss man für einen Boxenstopp zusätzlich einkalkulieren.

Formel 1 Singapur GP 2019, Zwischenstand nach Runde 13

POSFahrerRückstand
1Leclerc
2Hamilton0,807
3Vettel2,125
4Verstappen3,134
5Bottas4,278
6Albon5,220
7Norris8,372
8Giovinazzi10,490
9Magnussen13,710
10Gasly15,151
11Räikkönen16,048
12Ricciardo17,293
13Stroll20,003
14Grosjean27,840

Allerdings tat sich in Runde 13 im Mittelfeld etwas. Weil Sergio Perez auf Rang 14 an die Box ging, gab es eine kleine Lücke zwischen Lance Stroll auf Rang 13 und Romain Grosjean auf Rang 14. Grosjean konnte in seinem Haas selbst die langsame Pace nicht mitgehen und hielt das Feld hinter sich auf.

28 Sekunden lag Grosjean in Runde 13 hinter Leclerc, Stroll 20 Sekunden. Das Boxenstopp-Fenster hatte sich geöffnet, allerdings mit der Einschränkung, dass man nach dem Stopp auf den frischen Reifen wohl bald auf Stroll auflaufen würde.

Formel 1 Singapur GP 2019, Zwischenstand nach Runde 19

POSFahrerRückstand
1Leclerc
2Hamilton1,054
3Vettel3,577
4Verstappen5,623
5Bottas6,504
6Albon8,521
7Norris10,692
8Giovinazzi13,32
9Gasly18,801
10Ricciardo19,594
11Stroll20,764
12Grosjean34,242

Deshalb traute dem Braten erstmal niemand so recht. In Runde 19 wurde es dann plötzlich ernst. Sebastian Vettel und Max Verstappen eröffneten die Boxenstopp-Saison. Verstappens Reifen waren zuvor schon erkennbar eingebrochen. Beide kamen deutlich vor Grosjean und deutlich hinter Stroll wieder auf die Strecke.

Eine Runde später kam auch Leclerc. Schon in der Boxengasse funkte ihm der Ferrari-Kommandostand: "Es wird eng mit Sebastian am Boxenausgang." Leclerc sortierte sich direkt hinter Vettel wieder ein.

Warum durfte Vettel vor Leclerc stoppen?

Die Frage lautet, warum Vettel als Erster zum Stopp kommen durfte und so das Rennen drehte. "Normalerweise hat bei uns auch das vordere Auto Vorrang", gesteht Binotto und erklärt: "Das sind unsere normalen Regeln. Aber in diesem Fall wollten wir Charles nicht zuerst stoppen, denn er hat das Rennen angeführt und wäre im Verkehr rausgekommen."

Doch Leclerc wäre eine Runde zuvor auch nicht anders im Verkehr steckengeblieben. Ferrari musste aber Vettel in Runde 19 holen. Weil Verstappens Reifen einbrachen, war es klar, dass der Niederländer zum Stopp kommen würde. Vettel musste den Undercut verhindern. Gleichzeitig war es Ferraris einzige Chance, Vettel seinerseits mit einem Undercut an Hamilton vorbeizubekommen.

Ferrari war zu Vettels Stopp in Runde 19 gezwungen. Dass Vettel damit auch noch an Leclerc vorbeigehen würde, hatten die Strategen weder geplant noch erwartet. "Der Undercut war stärker, als wir ihn erwartet hatten", erklärt Binotto. "Es waren 3,9 Sekunden. So einen großen Unterschied hatten wir nicht erwartet. Wir dachten, dass Charles vorne bleibt, wenn er eine Runde später kommt."

Ferrari informiert Leclerc nicht über Vettel-Stopp

Während Leclerc vorne an der Spitze weiter im Schleichtempo durch Singapur cruiste, legte Vettel in seiner Outlap los wie die Feuerwehr. "Wir hatten nicht über diesen Plan gesprochen", klagte Leclerc später. Der Monegasse störte sich daran, dass ihn niemand vor der Vettel-Gefahr gewarnt hatte.

Teamchef Mattia Binotto versuchte sich nach dem Rennen herauszureden: "Ich dachte, wir hätten Charles am Funk gesagt, dass Sebastian an die Box kommt. Haben wir es nicht?" Sie hatten es nicht. Leclerc bekam vom Ferrari-Kommandostand bis zur Boxenausfahrt, als er gewarnt wurde, dass es eng mit Vettel werden könnte, keinerlei Informationen über den Vettel-Stopp.

Charles Leclerc wurde nicht über Sebastian Vettels Boxenstopp informiert, Foto: LAT Images
Charles Leclerc wurde nicht über Sebastian Vettels Boxenstopp informiert, Foto: LAT Images

Nun ist die Frage, ob Leclerc hätte reagieren können. Aus seiner Sicht gab es keinen Grund, in der Inlap groß zu pushen. Lewis Hamilton, sein eigentlicher Konkurrent, war direkt hinter ihm. Erst nach dem Boxenstopp würde es für ihn ernst werden, dachte sich Leclerc.

Hätte Leclerc auf seiner Inlap Gas geben können, um nicht die dramatischen 3,9 Sekunden auf Vettel zu verlieren? "Zu dieser Zeit waren meine Reifen ziemlich tot", gesteht Leclerc. Der 21-Jährige fügt aber an: "Zuvor hatte ich ziemlich viel Luft. In den ersten paar Runden wollten wir so langsam wie möglich fahren, damit die Jungs hinten nicht das Fenster hatten, um stoppen zu können. In dieser Phase hätte ich einen viel besseren Job machen können, aber ich habe mich an den Plan gehalten."

Ferrari hätte Leclerc zumindest über Vettels Strategie informieren müssen. Bleibt noch die Frage, ob Leclerc nicht schon hätte früher zum Stopp kommen müssen, also schon vor Vettel. Schließlich hatte sich das kleine Boxenstoppfenster schon in Runde 13 geöffnet.

Ferrari im Glück: Mercedes hätte gewinnen können

Mercedes ärgerte sich nach dem Rennen, dass man die Möglichkeit nicht wahrgenommen hatte. Tatsächlich hätte Lewis Hamilton das Rennen höchstwahrscheinlich gewonnen, wäre er vor Leclerc an die Box gekommen. Ferrari hätte sich mit einem früheren Leclerc-Stopp eigentlich auch gegen Mercedes wehren müssen.

Ein früherer Stopp brachte aber auch Risiken mit sich: Einerseits den Verkehr. Wie lange würde es dauern, auf Stroll aufzulaufen? Vor Stroll fuhren auch noch Lando Norris, Antonio Giovinazzi, Pierre Gasly und Daniel Ricciardo. Wie viel Zeit verliert man in dieser Gruppe? Dazu ist auch das Safety Car ein großes Problem. Wenn die Konkurrenz unter Safety Car stoppen kann, verliert sie weniger Zeit und geht vorbei.

Mercedes scheute das Risiko genauso wie Ferrari bei Leclerc. Bei Vettel mussten die Ferrari-Strategen dann wegen Verstappen handeln. So kam eins zum anderen. Vettel war aber in Folge auch sein Glückes eigener Schmied. Denn Ferrari dachte durchaus darüber nach, die Positionen nach dem Boxenstopp zu tauschen.

Weil Vettel mit aller Entschlossenheit überholte und schneller an Stroll und Co. vorbeigehen konnte als Leclerc und Verstappen, erübrigte sich die Frage nach einem Platztausch.

Fazit: Hätte Ferrari Leclerc früher reinholen müssen? Im Nachhinein ja, aber es gab diverse Risiken, die man mit dem Führenden nicht eingehen wollte. Bei Vettel konnte und musste man das Risiko eingehen. Man hätte Leclerc im Cockpit aber besser informieren müssen. Hätte man die Positionen später tauschen sollen? Fairer wäre der Leclerc-Sieg gewesen, doch Vettel verschaffte sich mit seinen entschlossenen Überholmanövern im Mittelfeld Luft.