Einen solchen Favoriten-Check gab es noch nie: Eigentlich bräuchten wir an dieser Stelle einen Mediziner. Doch auch mit Arzt würde der Favoriten-Check zum Formel-1-Rennen in Silverstone schwer fallen. Denn bekannt ist nur eine Sache: Sebastian Vettel hat Nacken. Was genau beim Ferrari-Star los ist, will aber niemand so recht sagen. Aber natürlich geht es im Favoriten-Check um mehr als 'nur' Vettels Nacken.

Doch von vorne: Im 3. Freien Training verzichtete Sebastian Vettel mehr oder weniger freiwillig auf die letzten Runden. Er beendete die Session vorzeitig und ließ sich von seinem Physiotherapeuten Antti Kontsas behandeln. Wegen eines steifen Nackens, wie er Motorsport-Magazin.com später erklärte.

Doch viel mehr war aus Vettel nicht mehr herauszubekommen. Nur, dass er ernsthaft um die Teilnahme am Qualifying fürchtete. Ansonsten zeigte sich der Weltmeisterschaftsführende erstaunlich wortkarg in der Pressekonferenz.

Vettel spielt Nacken-Probleme herunter

Im Qualifying selbst will er zwar keine großen Probleme gehabt haben, daran glaubt aber nicht jeder. Dabei drehte Vettel im Zeittraining lediglich 17 Runden - im Rennen werden es im Normalfall 51.

"Ich glaube, die Nacht wird helfen", spielt Vettel die Probleme herunter. "Und auch die Geschwindigkeit: Im Rennen fahren wir wegen des zusätzlichen Gewichts deutlich langsamer als im Qualifying, dann sollte es passen."

Das sehen längst nicht alle so. "Es ist hier das schlimmste Rennen, um solche Probleme zu haben", meint beispielsweise Esteban Ocon. Nicht nur die hohen lateralen Kräfte sind für die Piloten eine Herausforderung, auch die Bodenwellen. "Es ist nun die welligste Strecke im ganzen Kalender", meint Valtteri Bottas. Lewis Hamilton vergleicht Silverstone gar schon mit der Nordschleife.

Kein Medizincheck für Vettel vor dem Rennen heute

Ein Startverbot muss Vettel heute übrigens nicht fürchten: Die FIA agiert hier nicht proaktiv, will den 31-Jährigen nicht zum Medizincheck vorladen. Man vertraut der medizinischen Betreuung des vierfachen Formel-1-Weltmeisters. Vettel fährt auf Eigenverantwortung.

Der Nacken der Nation: Sebastian Vettel fährt mit Tape am Hals, Foto: Sutton
Der Nacken der Nation: Sebastian Vettel fährt mit Tape am Hals, Foto: Sutton

Vettels Physiotherapeut Antti Kontsas gehört zum Team von Hintsa Performance, dem Unternehmen des inzwischen verstorbenen McLaren Teamarztes. Nicht zufällig dürfte wohl auch Dr. Luke Bennett, Medzinchef von Hintsa Performance und Teamarzt von Mercedes und McLaren, zwischen FP3 und Qualifying bei Ferrari zu Gast gewesen ein.

Schmerzmittel und 'Fitspritzen' ist übrigens nicht uneingeschränkt möglich, schließlich unterliegen auch Formel-1-Piloten den Regeln der Weltantidopingbehörde WADA. Die Liste nicht erlaubter Substanzen ist acht Seiten lang.

Mercedes und Ferrari in Silverstone gleichauf

Doch wie sieht es beim Großbritannien GP abseits der Nacken-Thematik aus? Im Qualifying passte zwischen Mercedes und Ferrari kein Blatt Papier. 0,044 Sekunden langen Lewis Hamilton und Sebastian Vettel am Ende auseinander. Kimi Räikkönen landete nur weitere 0,054 Sekunden dahinter.

Der entscheidende Faktor war im Qualifying wohl nicht das Auto, sondern Lewis Hamilton. Der Brite ist einfach ein Spezialist auf heimischen Terrain. Teamkollege Valtteri Bottas brummte er schon satte drei Zehntelsekunden auf - obwohl der Finne zuletzt auf Hamilton-Niveau oder sogar darüber fuhr.

Es war die sechste Pole für Hamilton in Silverstone, es könnte heute auch sein sechster Sieg werden. Vettel hingegen steht bei lediglich zwei Poles und einem Sieg. "Lewis ist in Silverstone eine Macht", meint Mercedes Motorsportchef Toto Wolff. "Aber wenn du am Start überholt werden solltest macht es das natürlich kniffliger", fürchtet Wolff.

"Wir haben unsere Starts angeschaut, denn das ist ein Bereich, in dem wir nicht so gut performt haben", so Wolff, der umgehend anfügt: "Eigentlich waren unsere Starts okay, aber Ferraris Starts waren herausragend. Insofern ist das für uns momentan immer ein Risiko."

Doch bei den letzten Rennen ging Ferrari auf einer weicheren Reifenmischung ins Rennen - vor allem bei der Traktion am Start ein Vorteil. Bottas erwischte in Österreich beispielsweise einen schlechten Start, weil Mercedes den Grip-Nachteil der Supersoft-Reifen unterschätzt hatte. Die Probestarts wurden allesamt mit Ultrasoft durchgeführt. "Das war ein Fehler", meint Bottas rückblickend. In Silverstone probte Mercedes die Starts auf Soft und startet wie auch Ferrari auf Soft.

Vettel hat frischen Soft-Reifen, Hamilton nicht

Auch abseits des Starts könnte der GP heute spannend werden. Zwar ist Silverstone nicht unbedingt die überholfreundlichste Strecke im Formel-1-Kalender, doch die Reifen könnten für größere Unterschiede sorgen.

Weil der Performance-Unterschied zwischen Mercedes und Ferrari so gering ist, sollte es unter normalen Umständen eher wenige Überholchancen geben. Die Reifen könnten hier dem Rennverlauf in die Karten spielen. Zwar kommen in Großbritannien die speziellen Pirelli-Pneus mit 0,4 Millimeter dünnerer Lauffläche zum Einsatz, doch ganz so einfach wie in Barcelona und Le Castellet scheint es nicht zu werden.

Bei Asphalttemperaturen von über 50 Grad neigen auch die dünnen Pirelli-Pneus stark zum Überhitzen. Dadurch entsteht Blistering. Pirelli konnte zwar am Freitag keine gröberen Probleme feststellen, doch Mercedes will bei der roten Konkurrenz Blistering erkannt haben. Eine interessante Beobachtung, weil Ferrari noch in Österreich das Topteam war, das mit diesem Phänomen am wenigsten Probleme hatte.

"Wir hatten kein Blistering", freut sich Bottas. Vettel hält dagegen: "Unsere Longruns waren stark. Dazu haben wir auf heute noch einmal einen Schritt gemacht und normalerweise sind wir im Rennen noch stärker."

Formel 1 Silverstone: Longrun auf Soft-Reifen

FahrerGefahren gegenStint-LängeReifen-AlterDurchschntl. Zeit
VettelEnde4111:31,454
HamiltonAnfang8171:33,222
BottasAnfang7131:33,608
RäikkönenAnfang13221:33,901
RicciardoAnfang6131:34,242

Der direkte Longrun-Vergleich zwischen Vettel und Hamilton vom Freitag entfällt leider, weil Vettel die Reifen antizyklisch fuhr. Aber der Ferrari-Pilot war auf den Medium-Pneus fast genauso schnell wie Hamilton auf den Soft. Große Unterschiede scheint es auch hier nicht zu geben.

Formel 1 Silverstone: Longrun auf Medium-Reifen

FahrerGefahren gegenStint-LängeReifen-AlterDurchschntl. Zeit
RäikkönenEnde3121:32,020
HamiltonEnde3121:32,631
RicciardoEnde5181:33,366
VettelAnfang17241:33,477

Einen Unterschied gibt es aber bei den verfügbaren Reifen: Im Gegensatz zu Hamilton und Bottas haben Vettel und Räikkönen noch einen frischen Satz Soft-Reifen übrig. Obwohl Pirelli anfangs von einem Einstopp-Rennen ausging, rechnen nun einige mit zwei Stopps. Viel wird auch davon abhängen, ob Ferrari Mercedes mit einem frühen Stopp unter Druck setzt. Als Jäger können die Roten auf jeden Fall mehr Risiko gehen. Allerdings hat Mercedes mit Bottas auf Rang vier auch noch ein Eisen im Feuer.

Red Bull wieder nur Außenseiter

Ein klarer Favorit lässt sich heute tatsächlich nicht ausmachen. Und was ist mit Red Bull? Das Team des Brauseherstellers kam schon in Österreich im Favoriten-Check nicht vor und gewann am Ende das Rennen. In Großbritannien sieht es noch ein wenig schlechter aus.

Im Qualifying fehlten Max Verstappen rund sieben Zehntelsekunden auf die Pole. Das ist verhältnismäßig sogar weniger als noch in Österreich. Und trotzdem ist Red Bull weniger Favorit. Denn beim Heimspiel auf dem Red Bull Ring profitierte man nicht nur von Fehlern der Konkurrenz, sondern auch von den Bedingungen. Am Sonntag stieg die Asphalttemperatur plötzlich um 20 Grad.

Das ist in Silverstone nicht möglich - schließlich wurden schon am Freitag und Samstag über 50 Grad Asphalttemperatur gemessen. "Wir haben unser Auto so abgestimmt, dass es besonders schonend zu den Hinterreifen ist", erklärt Daniel Ricciardo. Der Honigdachs glaubt trotzdem nicht an eine realistische Siegchance. Teamkollege Max Verstappen stimmt fast zu: "Sag niemals nie, aber es wird hart."

Ein wenig besser sollte es im Rennen trotzdem werden: Red Bull verliert an diesem Wochenende besonders viel, weil viele Passagen vollgas gehen. Durch den neuen Asphalt und mehr Abtrieb hat sich der Charakter von Silverstone verändert. Highspeed-Kurven gibt es kaum mehr weil sie nun Vollgas gehen.

Im Rennen könnte es dann tatsächlich wieder eher Richtung Red Bull gehen: Mit vollen Tanks geht weniger Vollgas, die Reifen werden härter rangenommen und die Unterschiede bei den Motoren sind geringer. Übrigens hat Red Bull ebenfalls noch einen frischen Satz Soft auf Lager. Doch an realistische Chancen auf Sieg glaubt niemand.