Jetzt ist es soweit: Lewis Hamilton zappelt in der WM-Zwickmühle von Nico Rosberg. Nach dem Mercedes-Doppelsieg beim Mexiko GP hat der Deutsche gleich zwei ausgezeichnete Optionen, den WM-Titel der Formel 1 klar zu machen. Entweder, Rosberg gewinnt in Brasilien oder er fährt sowohl in Interlagos als auch Abu Dhabi einfach friedlich direkt hinter seinem Rivalen ins Ziel.

Sogar einen dritten Platz kann er sich leisten. Somit hat Hamilton die 'Schlacht um die Meisterschaft' trotz 'vernichtenden Sieges gegen Rosberg' in Mexiko, wie die britische Presse gewohnt martialisch geifert, nicht mehr unter Kontrolle.

Ein ziemlicher Vorteil für Rosberg, meint Toto Wolff. "Weil das ganze Gerede, dass er Zweiter werden muss, jetzt vorbei ist. Er hat es in seinen Händen. Wenn er das Rennen in Brasilien gewinnt, ist er Weltmeister. Das ist vielleicht ein bisschen einfacher für ihn und auch weniger Druck, weil er noch eine zweite Chance in Abu Dhabi hat", erklärt der Mercedes-Teamchef.

Hamilton: Defekte einziger Grund für Rückstand auf Rosberg

Für die andere Seite der Garage eine zutiefst unbefriedigende und unangenehme Ausgangslage. "Wäre ich jetzt gerne in einer anderen Situation? Na klar! Bin ich aber nicht. So ist es eben", hadert Lewis Hamilton. Für den amtierenden Doppel-Champion jedoch kein Grund, aufzugeben. Im Gegenteil. "Ich liebe die Herausforderung. Ich wollte nie einen Wettbewerb oder ein Rennen einfach haben. Ich will es schwierig. Wenn ich klettern gehe, gehe ich nicht zur leichtesten Stelle, sondern erst zur härtesten", sagt der Brite.

Die WM-Matrix zum Brasilien GP: Gelb = Rosberg holt den Titel (zum Vergrößern auf das Bild klicken), Foto: Motorsport-Magazin.com
Die WM-Matrix zum Brasilien GP: Gelb = Rosberg holt den Titel (zum Vergrößern auf das Bild klicken), Foto: Motorsport-Magazin.com

Wenn es jemals eine Zeit gegeben habe, sein Bestes zu zeigen, dann im bevorstehenden Saisonfinale. "Ich bin bereit zu kämpfen. Ich muss jetzt alle Rennen gewinnen, mit einer Super-Pace aufdrehen!" Doch wie manövrierte sich Hamilton überhaupt in diese Lage? Wie konnte es nach zwei am Ende doch recht deutlichen Siegen im WM-Duell gegen Rosberg 2016 so weit kommen? Hat sich der Deutsche schlicht derartig gesteigert? "Nope", winkt Hamilton verbal ab. "Ich hatte viele Defekte. Das ist der einzige Unterschied", meint der noch amtierende F1-Weltmeister. Doch ist das korrekt? Steht Rosberg nur wegen Hamiltons Pech kurz vor dem Gewinn seines ersten Weltmeistertitels? Ein alter Wegbegleiter des Mercedes-Duos widerspricht: 'F1-Superhirn' Ross Brawn.

Ross Brawn nennt weitere Gründe für Rosbergs klare Führung

Der Brite begleitete Nico Rosberg und Lewis Hamilton in deren erstem gemeinsamen Mercedes-Jahr 2013 noch als Hauptverantwortlicher bei Mercedes. Seit seinem Abschied von den Silberpfeilen beobachtet Brawn das Duell der Teamkollegen mit großem Interesse. Damals habe er als Teammitglied natürlich keinen der beiden präferiert, doch inzwischen sei das anders. Doch ist es nicht Landsmann Hamilton, dem Brawn 2016 den Titel wünscht.

"In vielerlei Hinsicht möchte ich, dass er [Nico] die Weltmeisterschaft gewinnt", sagt Brawn in einem Interview mit dem britischen 'Telegraph'. Vor allem zeigt sich der Brite von Rosbergs Qualitäten als Stehaufmännchen begeistert: "Weil er einen fabelhaften Job gemacht hat, geschlagen zu werden und zurückzukommen. Er ist sehr zäh. Er rutscht ein wenig zurück, dann findet er gut zu sich selbst und kommt zurück. Viele Fahrer, die seit ein paar Jahren von Lewis malträtiert worden sind, hätte das gebrochen."

Doch ist das allein kein Grund, warum Rosberg nun die Nase vorne hat. Kein Problem, Brawn hält gleich zwei Faktoren parat: Rosbergs Konstanz und Hamiltons Nebenkriegsschauplätze. “Nico bringt über das Jahr gesehen eine konstantere Performance, aber wird nie ganz die Höhen erreichen, die Lewis erreichen kann. Aber dann lässt Lewis ein bisschen nach. Er hat einen emotionaleren Ansatz. Die ganze Sache mit der Presse war eine unglückliche Ablenkung", beschreibt Brawn vor dem Hintergrund der Geschehnisse in Japan.

Brawn sieht Rosbergs Rundumbetreuung als Vorteil

Unglücklich, doch aus Sicht Brawns offensichtlich selbstverschuldet. Während sich Rosberg viel Support durch Betreuer und Ratgeber hole, verzichte Hamilton darauf fast vollständig. "Nico hat ein paar Leute in der Nähe, auf die er sich verlassen kann. Bei Lewis habe ich keine Anzeichen dafür gesehen, dass er eine solche Unterstützung hat", sagt Brawn. "Mitten in der Meisterschaft, die schon intensiv genug ist, brauchst du nicht noch solche Kämpfe [wie in Japan]. Aber manchmal machen die Leute ihrem Ärger Luft. Deshalb könnte er diese Frustrationen bei ihnen ablassen, würde es einen Mentor oder Vertrauten geben."

Doch reicht auch das als Grund allein? Macht nicht doch eher Brawns Argument der höheren Hamilton-Höhen - Stichwort Hammertime -, aber besseren Rosberg-Konstanz - Stichwort Rennen-für-Rennen-Mentalität - den Unterschied? Nein. Fakt ist: Das stimmt so überhaupt nicht. Die Saisonstatistik 2016 spricht sowohl bei den jeweiligen Höhen als auch der Konstanz weder klar für den einen noch für den anderen:

Ausfälle: Hamilton sah zwar zweimal nicht das Ziel, Rosberg nur einmal (beide erwischte es beim teaminternen Spanien-Crash). Doch resultiert Hamiltons zweiter Ausfall einzig aus einem Motorschaden in Malaysia, entzieht sich also seiner Verantwortung. Kein Indiz für schwächere Konstanz.

Punkteresultate bei Zielankunft: Bei beiden immer der Fall. Wieder kein Konstanz-Vorteil Rosbergs.

Podien: 14 für Rosberg, 15 für Hamilton - hier liegt der Brite in Sachen Konstanz sogar vorne.

Pole Positions: Auch hier liegt Hamilton vorne: 10:8.

Siege: Hier führt Rosberg zurzeit 9:8. Das spricht zwar für leicht bessere Konstanz, aber auch gegen das Argument, Hamilton erlebe die höheren Höhen.

Siege in Folge: Letzteres untermauert auch diese Statistik. Hier geht es vor allem um das oft bemühte Momentum, Oberwasser oder eben: Höhenluft. Wirklich besser sieht Hamilton hier nicht aus. Im Gegenteil. Während beide 2016 bereits über vier Siege in Folge jubeln durften, hat Rosberg zusätzlich dreimal am Stück gewonnen. Hamilton nicht - dafür aber noch zwei Doppelschläge auf dem Konto, die Rosberg fehlen. Insgesamt also auch hier ziemlich ausgeglichen.

Fazit

Bei Konstanz und den Höhen nehmen sich Rosberg und Hamilton 2016 wenig bis nichts. Die Bedeutung des Brawnschen Betreuer-Faktors darf zumindest in Frage gestellt werden. Bleibt schließlich also doch nur das Defekt-Argument Hamiltons? Größtenteils: Allein ohne den Motorschaden in Malaysia würde der Brite die WM mit neun Punkten Vorsprung anführen statt einem 19-Punkte-Rückstand hinterher zu hecheln. Nicht auszudenken und noch weniger exakt zu berechnen, was ohne die mannigfaltigen Probleme zu Saisonbeginn zusätzlich drin gewesen wäre.

Wenn er sie verliert: Hat Hamilton die WM also nur aufgrund von Pech herschenken müssen, sodass Rosberg als reiner Glücksweltmeister in die Geschichte eingehen wird? Nein, denn das wird dem Deutschen nicht gerecht, dessen Leistung war dafür schlicht zu gut. Rosberg war immerhin da, wenn er da sein musste. Immer. "Er hat einfach gepunktet, als es drauf ankam, und die Punkte spiegeln seine Performance", bestäigt Toto Wolff. Genau das macht einen Champion aus. Außerdem sind bislang neun Saisonsiege kein Pappenstiel. Wer das bestätigen kann? Zum Beispiel Keke Rosberg. Also: Sohnemann Rosberg, Champion aus Glück und Zufall? Im Leben nicht. Das befindet bislang auch die überwältigende Mehrheit der User von Motorsport-Magazin.com. Schon abgestimmt?