Der Reifensektor der MotoGP war in den vergangenen Jahren so etwas wie ein rechtsfreier Raum. Einheitslieferant Michelin gab zwar stets Mindestdrücke von 1,9 bar an der Front und 1,7 bar am Hinterrad vor, allerdings wurden Unterschreitungen nicht geahndet, weil Reifendrucksensoren unterschiedlicher Hersteller zum Einsatz kamen und so keine einheitliche Messung möglich war.

Das ändert sich 2023. Nun werden Einheitssensoren von LDL Technologies verwendet und somit sind nun auch Strafen für Verstöße gegen die Reifendruckregelung möglich. Die ersten drei Rennwochenenden des Jahres in Portugal, Argentinien und den USA werden als Übergangsphase verwendet, in der es noch nicht zu Bestrafungen kommen wird. Beginnend mit dem Spanien-Grand-Prix in Jerez sollen dann aber Rundenzeiten gestrichen und Piloten auch disqualifiziert werden können.

MotoGP droht Strafenflut: Die neuen Reifenregeln 2023 (06:56 Min.)

Bei den ersten MotoGP-Testfahrten 2023 in Sepang nahmen Teams und Fahrer die Arbeit mit dem neuen System auf. Der Erstkontakt verlief alles anders als vielversprechend. Wie befürchtet schwankte der Druck der Michelin-Reifen massiv, abhängig vor allem auch davon ob ein Pilot freie Fahrt hat oder die Hitze vorausfahrender Maschinen abbekommt. Somit ist es fast unmöglich, den Reifendruck vor Rennbeginn so zu wählen, dass er einerseits nicht die Vorgaben unterschreitet, andererseits aber auch nicht zu hoch wird und das Motorrad so unkontrollierbar macht - vor allem am Vorderrad.

Deshalb regt sich im MotoGP-Feld immer mehr Widerstand gegen die Einführung dieser Regelung. "Wir Fahrer haben in der Safety-Commission darüber gesprochen und jeder einzelne von uns war gegen diese Regel", verrät Luca Marini. "Es ist einfach ein Sicherheitsrisiko, wenn der Reifen einen Druck von etwa 2,2 bar erreicht. Dann kannst du extrem leicht stürzen. Es ist aber unmöglich vorauszusagen, wie sich der Druck in einem Rennen entwickelt. Wenn du alleine bist, kann alles in Ordnung sein, aber mit zwei Fahrern vor dir kommst du plötzlich auf 2,3 bar und riskierst einen Sturz."

Die Mindestdrücke sollen 2023 mehr als eine Empfehlung sein, Foto: LAT Images
Die Mindestdrücke sollen 2023 mehr als eine Empfehlung sein, Foto: LAT Images

Zustimmung erhält Marini vom amtierenden MotoGP-Weltmeister Francesco Bagnaia: "Diese Regelung kann für alle Fahrer zum Problem werden. Wenn du einem Gegner folgst, ist es gefährlicher." Marco Bezzecchi macht klar, wie schmal der Grat mit den Michelin-Reifen ist. "0,02 bar zu viel können dich in Probleme bringen", so der VR46-Pilot. Bezzecchi war in Sepang einer von mehreren Fahrern, die zu Protokoll gaben, dass sie eine Abschaffung der Regelung noch vor dren Inkrafttreten begrüßen würden. Alex Marquez brachte eine geteilte Regelung ins Spiel: "Ich glaube, dass sie diese Strafen für Vergehen am Vorderrad nicht einführen werden. Da macht es für mich auch keinen. Am Hinterrad sind Strafen für zu geringen Druck aber absolut in Ordnung."

Marquez' Ansatz mag auf den ersten Blick etwas kurios wirken, ergibt aber durchaus Sinn. Denn das Risiko eines durch zu geringen Druck hervorgerufenen Reifenschadens am Vorderrad ist verschwindend gering. Die Gefahr am Hinterrad ist hingegen um ein vielfaches höher, wie die MotoGP 2016 auf brutale Weise erfahren musste, als Loris Baz bei den Sepang-Tests mit knapp 300 km/h sein Hinterreifen um die Ohren flog. Grund für den Defekt damals: Zu geringer Druck.