Es war das Ende einer Beziehung, die zwar über weite Strecken erfolgreich verlief, letztlich aber auf beiden Seiten bloß enttäuschte Hoffnungen hinterließ. Denn Ducati und Andrea Dovizioso hatten sich nichts weniger auf die gemeinsamen Fahnen geschrieben, als den WM-Titel in der MotoGP zu erobern. Am 15. August war das EKG des seit Monaten dahinsiechenden Verhältnisses endgültig an der Nulllinie angelangt, zum herbeigesehnten größten Erfolg kam es nicht mehr. Mit folgenden Worten trat Doviziosos Manager Simone Battistella damals vor die Kameras des italienischen Pay-TV: "Wir haben Ducati mitgeteilt, dass Andrea keine Intentionen hat, in Zukunft mit Ducati weiterzumachen." Es war der Schlusssatz unter einem monatelangen Hickhack zwischen großen Egos auf beiden Seiten, einem finanziellen Pokerspiel mit einem ganz besonderen Ass in der Hinterhand und den bereits erwähnten enttäuschten Hoffnungen. Wie konnte es so weit kommen, dass Ducati sein bestes Pferd im Stall einfach ziehen ließ? Einen Mann, der binnen acht Jahren sieben Mal stärkster Ducati-Fahrer in der WM war, der 40 Podien und 14 Siege holte und dreimal in Folge Vizeweltmeister wurde. Mangelte es der Chefetage der Roten an Respekt oder hat man einfach nur die Zeichen der Zeit erkannt?

Rückblick: 2013 übernimmt ein 27-jähriger Andrea Dovizioso einen Sattel mit Vorbelastung. Kein Geringerer als Valentino Rossi hatte den Platz des italienischen Lokalmatadoren in den vorangegangenen zwei Jahren inne. Doch die vermeintliche Traumehe in Grün-Weiß-Rot war gescheitert und Rossi hatte sich zurück in den vertrauten Schoß von Yamaha begeben. Die Zeiten waren stürmisch und so wurde Doviziosos erste Saison zur erfolglosesten in der MotoGP-Geschichte von Ducati. Nie zuvor oder danach hatte es ein volles Kalenderjahr ohne Podestplatz für die Roten gegeben, weshalb zum Ende der Saison mit Gigi Dall'Igna ein neuer starker Mann für die Entwicklung der heillos unterlegenen Desmosedici verpflichtet wurde. Bereits 2014 ging es aufwärts, man schaffte es zurück auf das Podest und hegte große Hoffnungen für 2015. Denn die Ducati dieses Jahrgangs war die erste, die komplett nach den Vorstellungen von Dall'Igna entworfen worden war. Mit der GP15 zogen die berühmt-berüchtigten Winglets in die MotoGP ein und prompt kamen auch die guten Ergebnisse zurück: Dovizioso belegte in den ersten drei Rennen jeweils den zweiten Platz. Doch im Laufe des Jahres geriet er gegen seinen neuen Teamkollegen Andrea Iannone ins Hintertreffen und beendete die Saison zum bislang einzigen Mal in seiner Ducati-Karriere hinter dem Mann auf der anderen Seite seiner Box. So war es auch 2016 nicht Dovizioso selbst vergönnt, Ducatis Comeback-Sieg nach fünfeinhalb Jahren zu holen, sondern Iannone, der in Spielberg seinen Stallrivalen im Rennen die Führung abluchsen und triumphieren konnte. Doviziosos Glück: Sein italienischer Rivale war unter anderem durch eine Harakiri-Aktion in der letzten Kurve des Rennens von Argentinien, die Ducati zwei Podestplätze kostete, bei den Granden in Bologna in Ungnade gefallen und hatte zu diesem Zeitpunkt bereits bei Suzuki unterschrieben. Da sich Iannone gegen Ende des Jahres auch noch verletzte, war Dovizioso schlussendlich doch wieder Ducatis Nummer eins in der Gesamtwertung.

Eine Position, um die er in der internen Hackordnung des Teams aber noch kämpfen musste, denn mit Jorge Lorenzo bekam Dall'Igna für 2017 seinen Musterschüler aus gemeinsamen Aprilia-Tagen. Der Spanier wurde nicht nur mit einem vielfachen des Gehalts von Dovizioso ausgestattet, sondern bekam auch Anpassungswünsche seiner Desmosedici rascher genehmigt als Dovizioso. Doch es dauerte, bis der Mallorquiner auf Touren kommen sollte, während Dovizioso nun regelmäßig Siege einfuhr und tatsächlich mit intakten Titelchancen zum Saisonfinale anreiste. Es sollte letztlich nicht zum ersten Titel reichen, doch für 2018 hatte sich Dovizioso endlich zum Top-Kandidaten bei Ducati aufgeschwungen. An Marc Marquez sollte es aber in den beiden Folgejahren kein Vorbeikommen geben. Dovis Sieganzahl sank von sechs auf vier, ehe sie im Vorjahr nur noch zwei erreichte. Der Sachsenring stellte im Sommer 2019 so etwas wie eine Zäsur da, als dem jahrelang als diplomatisch bekannten Dovizioso die Hutschnur platzte und er zu einer wahren Brandrede gegen seinen Arbeitgeber ausholte. "Wir brauchen dringend eine Strategie für die Zukunft! Etwas am Kurvenverhalten zu ändern, ist sehr schwierig, doch wir müssen endlich in die Gänge kommen, denn ich rede seit sechs Jahren über nichts anderes. Die letzten beiden Jahre waren gut, aber jetzt sind wir wieder an einem kritischen Punkt angelangt. Die Konkurrenz wird besser und besser. Man kann die Unterschiede sogar im Fernsehen sehen, wenn man uns mit den anderen Motorrädern in den Kurven vergleicht", tobte der Italiener damals im Beisein von Motorsport-Magazin.com in seiner Pressekonferenz nach dem Rennen.

So kam es bereits im Laufe des Vorjahres allmählich zum Bruch zwischen Dovizioso und Ducati. Ein Gefühl, dass auch die Dokumentation "Andrea Dovizioso: Undaunted" unterstützt, die den Italiener durch die Saison 2019 begleitete und just vor Saisonstart 2020 veröffentlich wurde. So lässt etwa Ducati-Boss Claudio Domenicali in einem Interview des Films folgende Aussage vom Stapel: "Er denkt mehr nach und das erlaubt ihm, viele gute Resultate nach Hause zu bringen. Aber vielleicht fehlt ihm der Hauch von Wahnsinn, den die Ducatisti vielleicht zu schätzen wüssten." Jener Domenicali sollte auch im Sommer 2020 über einen Tweet einen weiteren Seitenhieb gegen Dovizioso und dessen ewige Kritik gegen das Kurvenverhalten der Ducati loslassen. So schrieb der Italiener nach Francesco Bagnaias erstem Podestplatz in Misano Anfang September: "Ich freue mich sehr über das erste MotoGP-Podium von Pecco. Es war ein großartiges Comeback nach einer sehr schweren Verletzung. Sein fantastischer Fahrstil mit viel Hanging-Off hilft sehr, einen schnellen Kurvenspeed zu erzielen - damit hatte er oft Probleme. Kompliment auch an Dovi für Platz eins in der Weltmeisterschaft." Ein Tweet, der beinahe wie ein Fehdehandschuh gegen Doviziosos jahrelanges Feedback wirkte. Der Vizeweltmeister konterte umgehend: "Ich halte es für keine gute Idee von Domenicali, so etwas auf Twitter zu schreiben." Der Umgangston wurde seit der Ankündigung über das Aus sichtlich rauer. So auch auf Seiten von Doviziosos Fürsprechern, die Solidaritätsbekundungen in den sozialen Medien mit Angriffen auf den italienischen Herstellern paarten. Eine davon kam von höchster Stelle und niemand Geringerem als Casey Stoner, dem einzigen Fahrer, der je auf Ducati MotoGP-Weltmeister werden konnte: "Ich denke nicht, dass Ducati es sich leisten kann, jemanden wie Dovizioso zu verlieren. Sie müssen irgendwann draufkommen, dass die Fahrer die Resultate holen und nicht ein Windkanal. Also hört endlich auf sie."

MotoGP-Talk: Warum Ducati reihenweise Fahrer verprellt (20:01 Min.)

Eine Anspielung auf den technokratischen Ansatz, der seit jeher Ducatis Entwicklungsabteilung prägt. Die nackten Zahlen und Daten zählen für Dall'Igna mehr als die Aussagen der Fahrer über ihr Gefühl auf dem Motorrad. "Was Fahrer nicht in ihren Daten belegen können, das gilt für Ducati nicht als Input", erzählt man sich im MotoGP-Fahrerlager. Und tatsächlich verstrickten sich Dall'Ignas Mannen in den vergangenen Jahren in Detailfragen wie Winglets, Schwingen-Spoiler oder Felgenabdeckungen, ohne das von Dovizioso stets angesprochene Grundproblem in den Kurven lösen zu können. Die Argumente beider Seiten führen letztlich nur zu einer Henne-Ei-Debatte: War Dovizioso dank der Ducati so schnell oder trotz ihr? Ist die Ducati dank Dovizioso so schnell geworden oder dank Dall'Igna? Fragen, die man nie eindeutig beantworten können wird.

Ein anderer Charakterzug des Ducati-Konzerns kristallisierte sich hingegen in der Vergangenheit klar heraus: Ein unterkühlter Umgang mit seinen wichtigsten Mitarbeitern. Bereits Supertalent Stoner wurde einst zu Honda vergrault, die Weltmeister Nicky Hayden und Valentino Rossi bekamen ihre Wünsche nie in dem Ausmaß erfüllt, der sie zu Siegen auf der roten Rennmaschine geführt hätte und in die teure Investition Jorge Lorenzo wollte man erst zu einem Zeitpunkt wieder investieren, als diese in Geheimverhandlungen bereits in die Arme von Repsol Honda geflüchtet war. Legendär ist die Geschichte von Lorenzo, der nach seinem ersten Ducati-Sieg in Mugello 2018 von Domenicali um die Aufnahme von Vertragsgesprächen für die Folgesaison gebeten wurde, ihm aber absagen musste, da er sich bereits mit HRC einig war. Ganze vier Weltmeister (Stoner, Hayden, Rossi, Lorenzo) hat Ducati so in den vergangenen zehn Jahren zur Konkurrenz getrieben. Ausgerechnet Lorenzo könnte den entscheidenden Funken zum Dovi-Infarkt bei Ducati geliefert haben. Denn während des Lockdowns kontaktierte Dall'Igna seinen Musterschüler bezüglich eines Comebacks für 2021. "Im Lockdown hat mich Gigi an meinem Geburtstag angerufen. Wir haben über persönliche Dinge gesprochen und am Ende habe ich ihn aus Neugier gefragt, wie es mit der Zukunft des Teams und der Fahrer aussieht. Kurz darauf hat mir Michele Pirro eine Nachricht geschickt - sie war teilweise ernst, teilweise scherzhaft - ob ich nicht Lust hätte, wieder zu Ducati zu kommen. Ich dachte also, dass es ein gewisses Interesse von Ducati gibt und habe darüber nachgedacht, wieder Rennen zu fahren. Nach einigen Tagen Überlegung musste ich Gigi leider absagen. Ich habe mich wirklich schlecht gefühlt und es tut mir jetzt noch leid, dass ich ihn innerhalb von Ducati in so eine eigenartige Position gebracht habe. Das hätte ich vermeiden können. Wenn ich mir von Anfang an sicher gewesen wäre, dann hätte ich die Verhandlungen nie aufgenommen", sollte Lorenzo Monate später ausplaudern. In die Position von Dovizioso kann sich nun wohl jeder hineinversetzen: Dreimal in Folge nur vom begnadetsten Motorradfahrer der Gegenwart geschlagen, bei Ducati dennoch weder finanziell, noch im Hinblick auf die eigenen Verbesserungswünsche geschätzt, werden im Geheimen auch noch Gespräche mit der wohl teuersten Fehlinvestition in der Geschichte des Unternehmens geführt, die in der gemeinsamen Zeit immer wieder durch Verbalattacken auffiel. Eine Situation, aus der Dovizioso und Battistella Mitte August keinen Ausweg mehr sahen, als die Verhandlungen einseitig aufzukündigen.

Ausgerechnet im ersten Rennen nach dem offiziellen Abschied holte Dovizioso seinen einzigen Saisonsieg, Foto: MotoGP
Ausgerechnet im ersten Rennen nach dem offiziellen Abschied holte Dovizioso seinen einzigen Saisonsieg, Foto: MotoGP

2021 wird bei Ducati somit zum Jahr des Umbruchs, denn zum ersten Mal seit dem MotoGP-Einstieg 2003 tauscht man beide Piloten im Werksteam aus. Dort übernehmen nach dem Aus von Dovizioso und Danilo Petrucci nun Jack Miller (25) und Francesco Bagnaia (23) das Zepter. Beim Satellitenteam Pramac Racing kommt neben dem erfahrenen Johann Zarco (30) sogar ein Rookie auf einer vollwertigen Werksmaschine zum Einsatz: Jorge Martin (22). Mit Enea Bastianini (22) parkt man einen weiteren Neuling auf Altmaterial bei Avintia Racing, wo Ducati auch Veteran Tito Rabat durch Luca Marini (23) ersetzte. Der Altersschnitt in den Reihen der Roten Rennfraktion aus Bologna sinkt im kommenden Jahr erheblich und in Italien erhofft man sich dadurch eine junge Armada, welche Marc Marquez bei Honda, Fabio Quartararo und Maverick Vinales bei Yamaha oder das Duo Joan Mir/Alex Rins bei Suzuki in den kommenden Jahren um den Titel fordern kann. Zeuge dieses einsetzenden Generationenwechsels wurden wir bereits 2020: Nur in fünf der 14 Saisonrennen war Dovizioso bester Ducati-Fahrer. Wenn in Spielberg auch erster Saisonsieger der Roten, so zeichnete er nur noch für gut 20 Prozent der Podestplätze verantwortlich. "Wir müssen zunächst sicherstellen, dass wir wieder schnell sind. Gelingt uns das nicht, brauchen wir an die Weltmeisterschaft erst gar nicht denken", schrieb Dovizioso nach der ersten Nullnummer des Jahres in Barcelona den Titel bereits ab. Die folgenden Wochen sollten ihm rechtgeben. Ende November ging die Scheidungstortur mit Gesamtrang vier zu Ende. Nun erinnert kein Titel und kein Eintrag in den Geschichtsbüchern an die langjährige Zusammenarbeit, sondern nur noch die enttäuschten Hoffnungen und letztlich gebrochenen Herzen auf beiden Seiten.

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