Es ist noch gar nicht lange her, da standen Andrea Iannone in der MotoGP praktisch alle Türen offen. Ein talentierter Pilot ist der Italiener ohne Zweifel immer gewesen und als Teil des Ducati-Werksteams ließ er die Ergebnisse für sich sprechen. Heute hat sich die Situation geändert - und das leider nicht zu seinem Vorteil. Denn wo ihm seine schwierige Persönlichkeit vor ein paar Jahren "nur" den Platz in Borgo Panigale gekostet hat, ist nun wohl seine gesamte Karriere zu Ende.
Das war die Ausgangslage
Am 17. Dezember des vergangenen Jahres gab der Motorradweltverband FIM bekannt, dass Iannone am Rennsonntag des Malaysia GP auf dem Sepang International Circuit eine Urinprobe abgegeben hatte, die als positiv aus dem Testlabor zurückkam. Bei den Untersuchungen wurde in Iannones Probe ein anaboles Steroid namens Nandrolon gefunden. Daraufhin suspendierte die FIM den Italiener noch am selben Tag, wenn auch nur vorläufig. Mit einer B-Probe gab man Iannone die Chance, seine Unschuld zu beweisen. Aber auch dieser Test fiel nicht zu Gunsten des Aprilia-Piloten aus. Einziger Lichtblick für ihn: Es konnte nachgewiesen werden, dass sich nur eine verschwindend geringe Menge des Dopingmittels im Körper befand. Iannones Anwalt sprach deshalb von einer möglichen Lebensmittelkontamination, schließlich war der Italiener aufgrund der mehrwöchigen Asien-Tour der MotoGP zur Zeit der Kontrolle lange nicht zu Hause und in seinem gewohnten Umfeld gewesen. Auf diese Argumentation stützte sich seine Verteidigung bei der Anhörung am 4. Februar, doch das Urteil fällte die internationale Disziplinarkommission der FIM. Bis es dazu kam, dauerte es eine ganze Weile. Erst am 1. April verkündete die FIM das Urteil im Fall Iannone: Eine Sperre von 18 Monaten sollte auf den Italiener zukommen. Dabei erkannte die Kommission Iannones Verteidigung der Lebensmittelkontaminierung als durchaus realistisch an, weshalb er statt der Höchststrafe von vier Jahren nur einen relativ geringen Strafsatz aufgedrückt bekam. Doch auch damit waren Iannone und seine Verteidigung nicht einverstanden und legten deshalb beim Internationalen Sportgerichtshof CAS Berufung ein. Gleichzeitig forderte die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA eine Erhöhung der Sperre auf vier Jahre. Der CAS wies Iannones Berufung ab und kam der Forderung der WADA nach, was gleichbedeutend mit dem Ende von Iannones Karriere in der Königsklasse sein dürfte.
Was ist Nandrolon und wie wirkt es?
Nandrolon ist in der Welt des Dopings keinesfalls unbekannt. Ganz im Gegenteil, es ist sogar eines der meistverwendeten Anabolika überhaupt. Es gehört zur Gruppe der anabolen Steroide, die synthetisch erzeugte Abkömmlinge des männlichen Sexualhormons Testosteron sind. Ihre Wirkung ist simpel: Sie wirken sich auf den Proteinstoffwechsel des Körpers aus. Durch sie wird also der Aufbau von Eiweiß in der Muskulatur gesteigert. In anderen Worten, in kurzer Zeit und ohne eine Menge zusätzliche Arbeit baut der Anwender viel Muskelmasse auf. Darüber hinaus kann es auch schon nach Aufnahme von geringen Mengen zu gesteigerter Aggressivität führen, die Leistungsfähigkeit der Muskeln erhöhen und auch die Regenerationszeit verbessern. Nandrolon sowie alle seine Prohormone stehen auf der Verbotsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) und dürfen damit weder im Wettkampf noch außerhalb davon eingesetzt werden.
Entscheidet sich ein Sportler dennoch dafür, seine Karriere mit der Einnahme eines illegalen Dopingmittels aufs Spiel zu setzen, so gibt es zwei Aufnahmemöglichkeiten. Zum einen kann Nandrolon via Injektion direkt in den Muskeln aufgenommen werden, während auch die Einnahme über den Mund möglich ist. Jede der beiden Alternativen hat jedoch eine Kehrseite. Durch die Injektion ist das Dopingmittel noch lange Zeit nach der Einnahme im Körper nachzuweisen, nach Angaben der Deutschen Sporthochschule Köln unter Umständen sogar noch nach einem Jahr. Bei einem Mittel, das offiziell als verbotene Substanz eingestuft wurde, keine gute Idee. Nimmt man das Steroid oral ein, so verkürzt sich die Nachweisbarkeit nach der letzten Einnahme im Vergleich zur Injektion deutlich, da die Wirkstoffe schneller wieder ausgeschieden werden. Allerdings lässt dabei auch die Wirksamkeit zu wünschen übrig, denn durch die orale Aufnahme wird das Mittel direkt in die Leber transportiert, wo es so gut wie vollständig in unwirksame Stoffe umgewandelt wird. So oder so, die beste Alternative ist mit Sicherheit, gleich ganz darauf zu verzichten.
Passt das Mittel überhaupt zu Iannones Anforderungen?
Im Motorradrennsport müssen die Sportler besonderen Anforderungen gerecht werden. Um eine MotoGP-Maschine zu steuern, wird den Piloten neben einem hohen Maß an Fitness auch viel Muskelkraft abverlangt, ohne aber dabei zu schwer zu sein. Ein Balanceakt, der im Fall Iannone noch durch die Tatsache erschwert wird, dass der Italiener einer der größeren und damit auch der schwersten Piloten im Fahrerfeld ist. Somit muss Iannone noch mehr auf sein Gewicht achten als seine Konkurrenten. So sehr sogar, dass sein Arbeitgeber Aprilia ihm vor dem Doping-Zwischenfall noch riet, etwas Gewicht zu verlieren. Folgt man also der Annahme, Iannone habe das Nandrolon freiwillig zu sich genommen - wäre das überhaupt eine logische Entscheidung gewesen? Darauf lässt sich keine einfache Antwort geben. Nandrolon baut zwar Muskelmasse auf, kann aber auch dabei helfen, den Fettabbau des Körpers zu fördern. Damit wäre die Einnahme des Steroids also schon sinnvoll. Es ist jedoch auch zu bedenken, dass der Körperfettanteil eines MotoGP-Piloten ohnehin schon sehr gering ist und Muskelmasse zudem mehr wiegt als Fett. Wollte Iannone also Gewicht verlieren, wäre Nandrolon vielleicht doch nicht die richtige Wahl gewesen. Hinzu kommt, dass der gezielte Einsatz des Steroids aufgrund seiner guten Nachweisbarkeit in einem Leistungssport wie der MotoGP viel zu riskant wäre. Man kann also wohl davon ausgehen, dass der Aprilia-Pilot das Steroid nicht wissentlich zu sich genommen hat, da sich der tatsächliche Nutzen schlussendlich in Grenzen hält und das Risiko den Nutzen gewiss nicht rechtfertigen würde.
Kann Nandrolon süchtig machen?
Auch diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Grundsätzlich sind alle anabolen Steroide Medikamente und können damit auch süchtig machen. Allerdings ist es bei Nandrolon und anderen Dopingmitteln schwer zu beurteilen, ob Suchtpotenzial besteht oder nicht. Denn der Grund, aus dem ein Mensch zu Steroiden greift, ist ein anderer als bei Menschen, die andere Substanzen missbrauchen. Bei Steroid-Nutzern geht es nicht darum, high zu werden, sondern durch die Aufnahme von Wirkstoffen ihre sportliche Leistung zu erhöhen oder mehr Muskelmasse aufzubauen. Die Motivation hinter der Entscheidung zum Steroid-Konsum ist viel komplexer und damit schwerer zu erklären. Im Rahmen eines Forschungsprojektes stellten Wissenschaftler an der Universität von Südkalifornien jedoch fest, dass Steroide wie Nandrolon von den Testobjekten, in diesem Falle Hamstern, durchaus als "Belohnung" wahrgenommen wurden und verstärkt konsumiert wurden, sobald sie dem Mittel einmal ausgesetzt waren. Dies spricht deutlich für eine süchtig machende Wirkung von Steroiden, auch ohne die sportliche Komponente, wie die Forscher in ihrem Abschlussurteil des Tests erklärten.
Lebensmittelkontamination: Realistisch oder nicht?
Die Argumentation von Iannone und seinem Anwalt Antonio De Rensis fußte darauf, dass der Italiener das Dopingmittel nicht wissentlich oder willentlich aufgenommen hat, sondern es aufgrund von kontaminiertem Essen zur Aufnahme des Wirkstoffes kam. Wie realistisch ist diese These? Eine hundertprozentige Antwort darauf, ob er das Steroid nun freiwillig oder unfreiwillig zu sich genommen hat, kennt am Ende wahrscheinlich nur Iannone selbst. Von der Hand zu weisen ist die Theorie des kontaminierten Lebensmittels jedoch nicht. Das gab auch die Disziplinarkommission der FIM zu, weshalb man Iannone ja statt der Höchststrafe zunächst einen deutlich abgemilderten Strafsatz verpasste. In der Untersuchung der B-Probe stellte sich im Labor heraus, dass sich nur 1,150 Nanogramm pro Milliliter in Iannones Körper befanden - eine sehr geringe Menge. Diese Tatsache spricht für die Unschuld Iannones, denn um tatsächlich Wirkung zu zeigen, müssen anabole Steroide über einen längeren Zeitraum eingenommen werden. Wäre dies der Fall gewesen, wäre die Dosierung des Dopingmittels in Iannones Körper wohl deutlich größer gewesen. Außerdem bleibt auch der Zeitpunkt des Tests zu bedenken: Iannone musste die Probe am Rennsonntag des Malaysia GP abgeben. Er war also, genau wie alle seine Kollegen, schon seit mehreren Wochen in Asien unterwegs und musste sich vermutlich in Sachen Verpflegung auf Hotels, Restaurants oder die Versorgung im Paddock verlassen, die mit Sicherheit nicht mit dem restlichen MotoGP-Zirkus eingeflogen wurde. Die genauen Inhaltsstoffe und mögliche Verunreinigungen von allen zu sich genommenen Nahrungsmitteln auf einer mehrwöchigen Reise im Blick zu behalten, ist zweifelsfrei deutlich schwerer als während des Sommers in Europa, wo die Piloten jeweils nur einige Tage an der Rennstrecke verbringen. Dementsprechend ist die Argumentation des kontaminierten Essens durchaus realistisch, bewiesen werden konnte sie aber letztendlich nicht.
Weshalb der lange Entscheidungsprozess?
Von der Bekanntmachung der positiven Dopingprobe Iannones bis hin zur ersten Urteilsverkündung durch die FIM in diesem Fall hat es knapp dreieinhalb Monate gedauert. Die FIM machte den positiven Test des Italieners im vergangenen Dezember publik, während erst Ende März ein Urteil gefällt wurde. Für Medien, Fans, seinen Arbeitgeber Aprilia, aber natürlich vor allem für Iannone selbst, eine lange Wartezeit voller Ungewissheit. Aber ist dieses knappe Vierteljahr für einen Prozess wie diesen wirklich eine lange Wartezeit? Eigentlich nicht, denn neben der medizinischen Analyse der Probe, die nur einen Bruchteil der Zeit des ganzen Prozedere benötigt, ist es vor allem die Bürokratie eines Gerichtsverfahrens, die sehr zeitaufwendig ist. Bei Dopingfällen in anderen Sportarten dauerte es mitunter sogar Jahre, bis ein endgültiges Ergebnis vorlag. In diesem Sinne ist der Fall Iannone also noch recht schnell über die Bühne gegangen.
Was bringt Doping im Motorsport?
Es kommt nicht häufig vor, dass sich der Motorradrennsport, oder auch der Motorsport allgemein, mit dem Thema Doping auseinandersetzen muss. Ein prominentes Beispiel für einen Dopingfall aus der Motorradweltmeisterschaft ist Anthony West. Der Australier wurde 2012 und 2018 sogar gleich zweimal aufgrund von positiven Dopingtests von der FIM gesperrt. Grundsätzlich halten sich die Fälle im Motorsport aber in Grenzen, vor allem im Vergleich mit anderen Sportarten. Die Nationale Anti Doping Agentur Deutschland (NADA) teilt alle Sportarten in drei Risikogruppen ein, von wenig, über mittleres, bis zu hohem Doping-Risiko. Während der Radsport oder Gewichtheben in der Gruppe mit dem höchsten Risiko zu finden sind, besteht laut der NADA im Motorsport nur ein geringes Risiko. Bei der Kategorisierung der einzelnen sportlichen Disziplinen spielen mehrere Schlüsselfaktoren eine Rolle, unter anderem finanzielle oder auch kulturelle Aspekte. Formel-1-Piloten wie Daniel Ricciardo und Jenson Button merkten in der Vergangenheit an, in ihrer Sportart keinen Nutzen für Dopingmittel zu sehen, da es vor allem auf das Auto ankäme und anders als beispielsweise beim Gewichtheben die körperliche Kraft des Piloten nicht so sehr ausschlaggebend für ein gutes Ergebnis ist. Das ist eine Sichtweise. MotoGP-Pilot Cal Crutchlow hingegen forderte bereits bei mehreren Gelegenheiten häufigere Kontrollen in der Zweirad-Königsklasse. Laut dem Briten gibt es mehr Fälle als die Verantwortlichen aktuell annehmen, die durch zu wenige Kontrollen damit davonkommen würden. Denn als Gegenthese zu Ricciardo und Button gibt es auch einige Experten, die überzeugt davon sind, dass es in jeder einzelnen Sportart möglich ist, durch Dopingmittel eine bessere Leistung zu erzielen, beispielsweise durch Substanzen, die die Gefahren-Hemmschwelle senken oder die Konzentrationsfähigkeit steigern.
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