Haben Sie Jordi Torres am 11. Oktober um 16:13 Uhr jubeln sehen? Nicht? Dann gehören Sie wohl zu den Fans, welche die MotoGP auf ServusTV verfolgen. Oder zu jenen, die im offiziellen MotoGP-Livestream oder bei DAZN aussteigen, sobald die MotoE die Bildfläche betritt. Die jüngste Klassen-Kreation der Dorna blieb auch in der zweiten Saison ihrer Geschichte das Stiefkind der Motorrad-WM. Die wenigsten TV-Sender übertrugen die Rennen der Elektro-Serie live, auch für Motorsport-Magazin.com sind die Artikel über die MotoE alles andere als ein Klickbringer und ablehnende Kommentare unserer Leser in den sozialen Medien sind an der Tagesordnung. Dass auch der Jubel an der Box des Pons Racing Teams, für das Torres an jenem Tag den Titel holte, eher verhalten war, zeigt die mangelnde Akzeptanz auch innerhalb der Paddock-Community. All die Kritik soll die Leistung der Piloten keineswegs schmälern, doch die MotoE sollte ihr Konzept gründlich hinterfragen, wenn man eines Tages tatsächlich ein WM-Prädikat erhalten und einen offiziellen Weltmeister krönen möchte.

Das Final-Doppel in Le Mans zeigte alle Schwächen der Serie hemmungslos klar auf: Das Qualifying, das im Einzelzeitfahren ausgetragen wird und bei Track-Limits-Vergehen zur Streichung der einzigen Rundenzeit führt, dauert drei- bis viermal so lange wie ein Rennen. Mehr als sieben Runden waren 2020 im Renntrimm auf keiner der nur drei befahrenen Strecken drin. Dabei hat man sich schon jene Kurse mit dem geringsten Vollgas-Anteil ausgesucht. Bei Roter Flagge muss die Renndistanz stets verkürzt werden, was den Zusehern im ersten der beiden Rennen in Frankreich einen Sprint von gerade einmal 21 Kilometern einbrachte.

Die Kürze der Rennen führt aber erst recht dazu, dass es in den ersten Kurven regelmäßig kracht. Den Fahrern darf man dafür aber gar keinen Vorwurf machen, denn aufgrund der kurzen Akku-Laufzeit und der langen Ladevorgänge ist die Fahrzeit an den Rennwochenenden äußerst beschränkt. So absolvierte Domi Aegerter in der gesamten MotoE-Saison 2020 exakt 107 Trainingsrunden. Hinzu kamen fünf fliegende Runden im Qualifying und eine maximale Renndistanz von 45 Runden. Zum Vergleich: MotoGP-Leader Fabio Quartararo absolvierte nur am Rennwochenende in Le Mans in allen Sessions inkl. Rennen 125 Runden. Die Erfahrung einer kompletten MotoE-Saison holt ein MotoGP-Fahrer somit beinahe an einem einzigen Wochenende herein.

Die Energica Ego Corsa mit ihren stolzen 260 Kilogramm auf der Bremse am Limit zu bewegen, fällt selbst ehemaligen Grand-Prix-Siegern wie Torres, Aegerter oder De Angelis schwer. Mit den geringen Trainingszeiten sind Unfälle im direkten Duell beinahe programmiert und führen nicht selten zu üblen Verletzungen. Lukas Tulovic kann ein Lied davon singen, als er in Misano von einem nachkommenden Fahrer touchiert und in einen Highsider gedrückt wurde, bei dem er sich einen Mittelhandbruch zuzog. Eine Besonderheit der Corona-Saison tat beim Final-Doppel ihr Übriges: Weil der straffe Zeitplan mit insgesamt vier Klassen keine Zeit für ein zweites der fast einstündigen Qualifyings ließ, entschloss man sich dazu, die Startaufstellung für das zweite Rennen über den Ausgang des ersten Laufs zu definieren. Da Aegerter dort abgeräumt wurde und Ferrari wenig später stürzte, hatte Torres freie Bahn und im darauffolgenden Rennen einen klaren Vorteil in der Startaufstellung.

Ursprünglich war der MotoE World Cup für drei Jahre angelegt. Eine Probezeit, in der die neue Rennklasse gegenüber der Dorna ihren Wert und gegenüber den Verbrenner-Klassen ihre Daseinsberechtigung beweisen sollte. Dass es 2022 weitergehen wird, ist bereits beschlossen. Am 12. Oktober verkündeten die Verantwortlichen, dass der Vertrag mit Monopolist Energica um ein Jahr verlängert wurde. Ob die FIM für die Chaos-Veranstaltungen dann ein offizielles WM-Prädikat herausrückt, darf stark bezweifelt werden. Zu viel am Konzept MotoE ist auch nach zwei Jahren Rennerfahrung noch unausgegoren.