Ein gesunder, junger Mann kann sein Bein nach einem Knochenbruch innerhalb von sechs bis acht Wochen wieder leicht belasten. Nach der Abnahme des Gipses muss der Patient etwa vier Wochen mit Krücken gehen. Eine volle Heilung dauert in etwa drei bis sechs Monate.

Diese medizinischen Fakten treffen auf Valentino Rossi nicht zu. Nur zwei Tage nach der Operation an seinem beim Enduro-Training gebrochenen Bein verlässt der Mann, der den Beinamen 'Il Dottore' offensichtlich nicht zu Unrecht trägt, das Krankenhaus von Ancona. Kurz darauf beginnt er mit leichten Übungen, exakt 21 Tage später steht er im Fahrerlager des Motorland Aragon. Weitere 24 Stunden später fährt er auf seiner Yamaha M1 wieder MotoGP, rast im samstäglichen Qualifying in Reihe eins und kämpft sich im Sonntagsrennen zu einem heroischen fünften Platz. Ein Heilungsverlauf, der einen rätseln lässt: Woraus ist dieser Mann gemacht? Kommt er von einem anderen Planeten? Und wie zur Hölle ist das alles möglich?

Also, eins nach dem anderen. Die Antworten auf die ersten beiden Fragen sind einfach: Valentino Rossi besteht wie jeder Mensch aus Fleisch, Blut und Knochen, die auch bei ihm brechen können. Und er kommt aus einer kleinen Stadt namens Tavullia an der italienischen Adria-Küste. Nichts Besonderes soweit. Die Besonderheit ist in der Antwort auf Frage Nummer drei zu finden. Denn eine Verletzung wie die von Valentino Rossi, vor allem wenn sie wie in dieser Saison eine verlorene Chance auf den WM-Titel zur Folge hat, würde fast jedem Menschen erst einmal den Boden unter den Füßen wegziehen.

Nun sind Motorradpiloten ohnehin keine ganz normalen Menschen, Rossi sticht aus dieser speziellen Gruppe aber noch einmal hervor. "Wenn man mitten im WM-Kampf liegt, noch dazu nach einem wirklich großartigen Rennen in Silverstone gerade in Topform ist, super getestet hat und der große Heim-Grand-Prix direkt vor der Tür steht, dann ist das wirklich das schlimmstmögliche Szenario. Das Timing war furchtbar", verdeutlichte Yamahas Motorsportchef Lin Jarvis in Misano. Doch anstatt in ein tiefes Loch zu fallen, nahm Rossi die Verletzung als das an, was ihn in seiner mittlerweile weit über zwei Jahrzehnte dauernden Profi-Karriere am meisten antrieb: eine Herausforderung.

Valentino Rossis Rückkehr ins Paddock von Aragon wurde von vielen Augen beobachtet, Foto: Motorsport-Magazin.com
Valentino Rossis Rückkehr ins Paddock von Aragon wurde von vielen Augen beobachtet, Foto: Motorsport-Magazin.com

"Motivation ist in diesem Fall alles", weiß Rossi selbst. "Eine Reha kann dann die Dynamik einer schnellen Runde im Qualifying entwickeln. Wenn es im ersten Sektor gut läuft, dann pusht du im zweiten noch einmal mehr, und im dritten noch mehr." Sieht man Rossis Reha als eine Qualifying-Runde, dann ist er definitiv auf Kurs Richtung Pole-Rekord. Nicht nur, dass er in Aragon schon wieder ohne allzu große Schmerzen und Probleme fahren konnte, er hat auch die verpasste Chance auf seinen so herbeigesehnten zehnten Weltmeistertitel weggesteckt und konnte darüber nach dem Rennen sogar schon wieder lachen.

Ein Lachen war meist auch die erste Reaktion, wenn Rossis Rivalen an diesem Wochenende auf dessen unglaubliche Rückkehr angesprochen wurden. Ob dieses Lachen auch tatsächlich aus tiefstem Herzen kam, darf aber bezweifelt werden. Nicht, dass die Herren Vinales, Dovizioso oder Marquez an Rossis Verletzung Freude gehabt hätten - auf eine derart problemlose Rückkehr des MotoGP-Superstars, die ihre eigenen Leistungen an diesem Wochenende überstrahlt und Rossi auch in Zukunft zu einem knallharten Rivalen macht, hätten sie aber wohl verzichten können. "Diese Strecke ist nicht eine seiner liebsten. Da ist so eine Leistung schon sehr beeindruckend", musste Erzrivale Jorge Lorenzo gestehen.

Auch Marc Marquez konnte sich nur anschließen: "Diese Rückkehr ist sensationell. Er ist ja eigentlich noch immer verletzt." Und Maverick Vinales, der nur knapp der Blamage entging, von seinem rekonvaleszenten Teamkollegen geschlagen zu werden, war regelrecht schockiert von Rossis Performance: "Er war in der Startphase so stark, dass ich geglaubt habe, er gewinnt das Rennen. Valentino ist super zurückgekommen. So wie immer." Man darf auch davon ausgehen, dass Rossis überraschend frühes Comeback seinen Grund in einer psychischen Machtdemonstration hat.

Der Weltmeistertitel 2017 ist für ihn verloren. Das weiß Rossi selbst. Natürlich, eine frühere Rückkehr bringt ihn schneller wieder auf die Siegerstraße. Allerdings auch nur, wenn sie problemfrei, sprich sturzfrei, verläuft. Rossi ist dieses Risiko also wohl vor allem eingegangen, um seinen Gegnern zu zeigen: Egal was passiert, ich bin immer da. In einem Sport, in dem laut Ex-Weltmeister und MotoGP-Legende Kevin Schwantz 90 Prozent zwischen den Ohren passiert, ist nichts wichtiger, als vor den Gegnern Stärke zu beweisen. Oder Schwäche zu verbergen. Das ist Rossi in Aragon perfekt gelungen.

Und ganz nebenbei hat er einmal mehr sogar den drei Fahrern, die sich in einer der spannendsten MotoGP-Saisons der Geschichte um den Weltmeistertitel streiten, die Show gestohlen. Beginnend mit Rossis Ankunft an der Strecke am Donnerstag war das Motorland Aragon seine Bühne, auf der er die Hauptrolle spielt und sich Marc Marquez, Maverick Vinales oder Andrea Dovizioso unabhängig ihrer sportlichen Leistungen in der Position einer Nebenfigur wiederfinden. Operation geglückt!

Krankenakte - Valentino Rossi

31. August 2017: Valentino Rossi trainiert in den Hügeln um seine Heimatgemeinde Tavullia mit einem Enduro-Motorrad. In einer Bergab-Passage verliert er durch einen großen Stein die Kontrolle über seine Maschine und versucht, sich mit dem rechten Bein abzustützen. Dabei positioniert er es genau in einer Mulde. Schien- und Wadenbein brechen unter dem großen Druck. Rossi lässt sich noch in der Nacht im Krankenhaus von Ancona operieren. Bei dem Eingriff wird wie schon bei seinem ersten Beinbruch 2010 eine Marknagelung durchgeführt, also ein langer Metallstift von oben in das Knocheninnere getrieben. Dadurch wird der Bruch stabilisiert und die Heilung beschleunigt.

2. September 2017: Nur etwas mehr als einen Tag nach der positiv verlaufenen Operation kann Rossi das Krankenhaus verlassen. Er wird mit Gipsverband im Rollstuhl aus der Klinik gebracht, wo er bereits von seinen Freunden erwartet wird. Rossi beginnt umgehend mit leichter Physiotherapie.

18. September 2017: Rossi ist zurück auf dem Motorrad. Auf dem unweit seiner Heimatgemeinde gelegenen Misano World Circuit Marco Simoncelli dreht er einige Runden auf einer Yamaha R1. Der Versuch wird aber durch einsetzenden Regen vorzeitig beendet. Am nächsten Tag hat Rossi mehr Glück mit dem Wetter und dreht 20 Runden in Misano. Er beschließt den Comeback-Versuch in Aragon, muss aber noch um die Freigabe der Ärzte vor Ort in Spanien bangen.

21. September 2017: Rossi wird von den Rennärzten im Motorland Aragon untersucht. Dabei muss er unterschiedlichste Übungen absolvieren und so beweisen, dass die Beweglichkeit und Kraft in seinem Bein ausreichend ist, um sich und andere Piloten auf der Strecke nicht unnötig zu gefährden. Kurz vor 15:00 Uhr kommt das offizielle Okay: Valentino Rossi darf am Rennwochenende in Aragon teilnehmen.

22. September 2017: Das Comeback ist perfekt! Rossi fährt trotz schwierigster Verhältnisse mit wechselnden Wetterbedingungen in beiden Freitagstrainings und beendet die Session auf den Rängen 18 beziehungsweise 20. Insgesamt spult Rossi 21 Runden auf der fordernden Strecke von Aragon ab.

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