Andrea Iannone ging mit seiner Desmosedici durch dick und dünn. Der Vollblut-Ducatisto kehrt seiner Herzensmarke in wenigen Wochen allerdings den Rücken. Szenen einer Rennfahrer-Liebe.

Weltmeister Nicky Hayden hat es nicht geschafft. Auch Superstar Valentino Rossi nicht und Cal Crutchlow oder Andrea Dovizioso sowieso nicht. Es brauchte einen 26-jährigen Draufgänger aus den Abruzzen, ehe Ducati nach exakt 100 sieglosen Rennen endlich wieder das oberste Treppchen erklimmen konnte. Doch wie gewonnen, so zerronnen, denn Andrea Iannone wird dem italienischen Hersteller in rund einem Monat den Rücken kehren und seine Runden künftig auf einer blitzblauen Suzuki drehen. Mit Motorsport-Magazin.com traf er sich vor seiner Abschiedstournee für Ducati.

"Mein Herz wird auf immer und ewig bei Ducati bleiben", gesteht Iannone in einem emotionalen Gespräch. "Ich bin 2013 mit Ducati in die MotoGP gestartet, habe hier alles gelernt und konnte mich stark verbessern." Die Weiterentwicklung Iannones und die Evolution der Desmosedici ging von Beginn an Hand in Hand. Gab es 2013 - Iannone debütierte damals für das Kundenteam Pramac - nur vereinzelt Top-10-Platzierungen, so steigerte er sich 2014 mit offizieller Werksunterstützung bei seinem Team zum soliden Top-10-Fahrer und machte im Vorjahr als Factory Rider bei Ducati endlich den Sprung auf das Podest.

Mittlerweile sind die Desmosedici und Iannone sogar zu einem Sieger-Duo gereift. Gemeinsam - darauf legt der Italiener wert: "Dieses Motorrad ist wie ein Sohn für mich. Ich habe aus meiner Meinung zu dem Bike nie einen Hehl gemacht, seit ich die Ducati fahre. Meinen Verbesserungsvorschlägen habe ich stets offen Ausdruck verliehen. Dovi [Teamkollege Andrea Dovizioso] und ich haben uns in den letzten paar Jahren richtig hineingehängt und das zahlt sich nun endlich aus. Es ist eine große Genugtuung, zu wissen, dass man unter sehr schwierigen Bedingungen gestartet ist und es dennoch an die Spitze geschafft hat."

Andrea Iannone siegte in Österreich, Foto: Milagro
Andrea Iannone siegte in Österreich, Foto: Milagro

Tatsächlich hatte Iannone in einer mehr als schwierigen Phase bei Ducati angeheuert. Valentino Rossi hatte soeben nach zwei Jahren das Handtuch geworfen, mit dem Deutschen Bernhard Gobmeier hatte ein neuer Big-Boss angedockt und in Bologna lag Vieles im Argen. Nur missmutig erinnert sich Iannone an seine Anfangszeiten zurück: "Die ersten beiden Jahre waren ein totales Desaster! Vor allem aber die erste Saison." Dabei störte sich der damalige Rookie gar nicht so sehr an der Desmo GP13, sondern vielmehr an den Abläufen innerhalb des Unternehmens und des Rennteams selbst. "Das Teamgefüge war nicht gut und die Strukturen sehr kompliziert. Darunter hat im Endeffekt alles gelitten. Es herrschte die totale Konfusion", schildert Iannone die Situation mit drastischen Worten.

Hinzu kamen auf persönlicher Ebene auch noch Verletzungsprobleme. Denn sein draufgängerischer Fahrstil wurde schon am achten Rennwochenende seiner noch jungen MotoGP-Karriere mit einer Schulterverletzung bestraft. Zwei Rennen Pause und viele Monate Schmerzen waren die Folge. Die bockige Ducati machte ihm das Leben nicht leichter. Doch Ende des Jahres 2013 tauchte ein Hoffnungsschimmer am Himmel auf: Gigi Dall'Igna. Ducati hatte den unglücklichen Gobmeier nach rund einem Jahr schon wieder seines Amtes enthoben und stattdessen das italienische Superhirn von Aprilia losgeeist.

Bei der ab Sommer 2014 eingesetzten und adaptierten GP14.2 legte Dall'Igna erstmals Hand an. 2015 schaffte es Ducati mit der völlig neu entwickelten GP15 im ersten Rennen von Iannones Ära als offizieller Werksfahrer sofort auf das Podest. Dabei geholfen hat Dall'Ignas Verhandlungsgeschick - er erstritten Zugeständnisse durch Dorna und FIM, die es Ducati erst ermöglichten, in diese Regionen vorzustoßen. "Als Gigi kam, wurde alles besser. Er organisierte sämtliche Abläufe und Strukturen neu und das hat rasch gefruchtet. Um in der MotoGP erfolgreich zu sein, muss man ja nicht nur ein gutes Motorrad konstruieren, sondern auch ein schlagkräftiges Team dahinter aufbauen. Gigi hat all das vollbracht und er war in diesem Moment genau der Richtige für Ducati."

Ab 2017 fährt Andrea Iannone für Suzuki, Foto: Milagro
Ab 2017 fährt Andrea Iannone für Suzuki, Foto: Milagro

Ein wenig störrisch ist die Ducati geblieben, doch das ist vielleicht auch jener Charakter, den die sportbegeisterte Marke damit transportieren will - quasi die rote DNA vom unzähmbaren Biest. "Von der GP13 zur GP16 hat sich viel verändert, aber nicht alles. Die Ducati ist ein gutes Motorrad, allerdings nicht gerade leicht zu beherrschen. Wenn du dieses Bike verstehst, kannst du seine unbändige Kraft hundertprozentig nutzen und dann kannst du ganz vorne kämpfen. Aber sobald du irgendetwas nicht so ganz durchschaust, kann es ganz rasch schwierig werden." So erklären sich auch die enormen Formschwankungen des Ducati-Duos von Strecke zu Strecke. Geschlossen stark in Katar, geschlossen stark in Argentinien, unschlagbar in Österreich. In Jerez, Barcelona oder Silverstone aber fernab von Gut und Böse und aus eigener Kraft dem Podium nicht einmal annähernd nahe.

Erschwerend hinzu kam für Iannone in der laufenden Saison sein Comeback als "The Maniac" oder "Crazy Joe". Kannte man den heißblütigen Italiener schon zu Moto2-Zeiten als knallharten Zweikämpfer, der auch immer wieder über das Ziel hinausschoss und gute Ergebnisse wegwarf, so hatte Iannone im Vorjahr in seiner ersten Saison als offizieller Werksfahrer eine Wandlung durchgemacht. In den ersten 14 Rennen hatte er jeweils die Zielflagge gesehen, bis zum Finale in Valencia keinen einzigen Crash im Rennen fabriziert (in Motegi und Sepang war er jeweils mit Defekt ausgefallen). Der Maniac war zum Punktehamster und verlässlichen Top-5-Fahrer geworden, der an guten Tagen auch den Sprung auf das Podium schaffte. Doch diese Charaktereigenschaft ging über den Winter wieder verloren.

Schon beim Auftakt in Katar stürzte er auf Rang zwei liegend. Beim zweiten Saisonrennen in Argentinien kegelte er in der vorletzten Kurve des Rennens im Kampf um den zweiten Platz nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Teamkollegen Dovizioso von der Strecke. In Le Mans stürzte er auf Rang zwei liegend auf der Jagd nach Jorge Lorenzo, den er vier Wochen später in Barcelona in einer haarsträubenden Aktion von hinten torpedierte. In Silverstone crashte er einmal mehr auf Rang zwei liegend. Sein Punktekonto hätte Iannone ohne seine vielen Stürze locker verdoppeln können. "Ja, ich hatte viele Stürze, aber die gesamte Saison verlief bisher völlig verrückt", rechtfertigt sich der Italiener.

Crashes sind nichts Ungewöhnliches für den Draufgänger, denn seine Ausfallquote in der MotoGP liegt nach rund vier Jahren bei fast 30 Prozent. Der Kies ist ein ständiger Begleiter von Iannones Grenzfahrten zwischen Genie und Wahnsinn. Er hat damit umzugehen gelernt: "Manchmal darfst du nicht zu viel darüber nachdenken. Steh auf, denk dir 'Scheiß drauf!', schüttel dich ab und steig wieder auf ein Motorrad. Ab und zu muss man aber die Gründe für einen Sturz genau analysieren, um zu verhindern, noch einmal in eine solche Situation zu kommen. 2016 war das anfangs einige Mal der Fall, als wir mit den Michelin-Reifen noch nicht die nötigen Erfahrungswerte hatten."

Dabei besteht Iannone darauf, sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert zu haben. Der Rückfall in alte Maniac-Gewohnheiten? Nur eine Verkettung unglücklicher Umstände. "Ich habe mich in meinen vier Jahren bei Ducati Schritt für Schritt verbessert - so wie auch das Motorrad. Und jetzt liegen wir gemeinsam schon sehr nahe an der Spitze. 2015 ist der letzte und entscheidende Schritt gelungen." Das Rennen in Phillip Island sieht Iannone bis heute als seinen Ritterschlag zur Aufnahme in die MotoGP-Elite an. Damals duellierte er sich in einer 27 Runden dauernden, epischen Schlacht in einem Vierkampf mit Marc Marquez, Valentino Rossi und Jorge Lorenzo um den Sieg. Dieser 40 Minuten und 34 Sekunden lange Schlagabtausch ging als eines der spektakulärsten Rennen in die Geschichte ein - und Iannone war mittendrin, auch wenn es am Ende nur zu Rang drei reichte.

Andrea Iannone ist ein vielgefragter Mann, Foto: Ducati
Andrea Iannone ist ein vielgefragter Mann, Foto: Ducati

Diesen Erfolg schätzt er daher auch höher ein als den Sieg in Spielberg. "Australien 2015 war definitiv mein bisher stärkstes Rennen", stellt Iannone klar. "Ich habe dort zum ersten Mal Auge um Auge mit den besten Fahrern der MotoGP gekämpft. Dort bin ich so gut gefahren wie nie zuvor. Wir haben es uns dort richtig hart gegeben und es gab jede Menge Überholmanöver. Natürlich war das Endergebnis in Österreich besser, denn ein Sieg bedeutet mehr als ein dritter Platz. Aber nach Phillip Island wusste ich, dass ich es endlich in die Weltspitze geschafft hatte. Das war ein unbeschreibliches Gefühl."

In dieser Weltspitze will sich der 27-Jährige in den kommenden Jahren festbeißen. Allerdings nicht mehr bei seiner großen Liebe Ducati, sondern bei den Stahlblauen von Suzuki. Schuld daran war aber weder Jorge Lorenzos Wechsel, noch die Torpedierung Doviziosos in Argentinien, wie von einigen Medien kolportiert. Denn Iannone sei nach eigenen Angaben sehr wohl die erste Wahl Ducatis gewesen. Ein kleines taktisches Foul aus Bologna hat schließlich zum Bruch geführt, wie Iannone im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com erklärt: "Wir haben seit Dezember mit Ducati über einen neuen Vertrag gesprochen. Ich hatte großes Interesse an einem Verbleib und die andere Seite wollte auch mit mir weitermachen. Just als wir unterschreiben und alles unter Dach und Fach bringen wollten, legte man uns plötzlich einen anderen Vertrag vor als ausgemacht. Es gab Änderungen in einigen Punkten, das konnten wir in der Form nicht akzeptieren. Ducati musste sich also nach anderen Fahrern umsehen und ich konnte mich mit Suzuki einigen."

Es ist Iannones erster großer Wechsel in der MotoGP. Kein schlechter Deal, wenn man sich vor Augen führt, dass Maverick Vinales und Aleix Espargaro die Suzuki GSX-RR binnen zwei Jahren zum Sieger-Motorrad gemacht haben. "Das Motorrad ist gut und ich habe bei einem starken Hersteller angedockt. Ich mag die Philosophie und die Herangehensweise japanischer Ingenieure. Präzise analytische Vorgehensweise ist dort oberstes Gebot. Man nähert sich jedem Problem Schritt für Schritt und will zu jeder Zeit alle Umstände genau kontrollieren können - das sollte mir liegen", führt Iannone aus.

Und noch eine Aufgabe wird ihm dort zuteil: Jene des Ausbilders für Rookie Alex Rins, der 2017 gemeinsam mit Iannone das Suzuki-Duo bilden wird. "Zum ersten Mal wird ein Teamkollege dann jünger sein als ich", verrät Iannone. "Wenn der Junge kommt, werde ich der alte Fahrer im Team sein. Ich kann mich mit der Rolle als Lehrer anfreunden und fühle mich gewappnet, denn ich bringe die nötige Erfahrung mit. Alex kann von mir lernen. Er ist ein guter Fahrer und sehr schnell. Er hat sich in der Moto2 bewiesen und kämpft dort seit zwei Jahren um den WM-Titel mit."

Andrea Iannone vor dem Rennstart in Valencia, Foto: Ducati
Andrea Iannone vor dem Rennstart in Valencia, Foto: Ducati

Noch hat Iannone aber die Fernost-Tour und das Saisonfinale in Valencia vor sich. Die Abschiedstournee einer Vater-Sohn-Beziehung zwischen ihm und seiner oft bockigen, dennoch heiß geliebten Ducati Desmosedici. Er zähmte das Motorrad, das ihn so oft abgeworfen hatte und gemeinsam rasten sie in den Ausläufern der österreichischen Alpen an einem heißen Sonntag im August zum Erfolg. "Endlich haben wir es wieder an die Spitze geschafft", ist Iannone zufrieden. "Siege in der 125cc-Klasse oder der Moto2 bedeuten weniger. Man gewinnt zwar, aber es fühlt sich einfach anders an. Wenn man in der MotoGP triumphiert, dann hat man die besten Fahrer der Welt allesamt geschlagen. Ein unbeschreibliches Gefühl." Und so hat Iannone geschafft, woran vor ihm Nicky Hayden, Valentino Rossi, Cal Crutchlow und Andrea Dovizioso gescheitert sind. In den Geschichtsbüchern von Ducati hat er so seinen Fixplatz errungen - er und seine Desmosedici GP16.

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