Es war der bislang hochkarätigste Titelkampf in der Geschichte der MotoGP. Unglaubliche 18 Weltmeistertitel haben Valentino Rossi, Marc Marquez und Jorge Lorenzo zusammen bereits errungen. Vier gehen auf das Konto von Marc Marquez, Jorge Lorenzo holte sich in diesem Jahr Nummer fünf und der italienische Altmeister bringt es auf herausragende neun. Mit unglaublichem Talent sind sie allesamt gesegnet, doch befinden sich ihre Stärken in unterschiedlichen Bereichen. Um diese optimal zu nutzen, verfolgen Rossi, Marquez und Lorenzo völlig verschiedene Strategien. Motorsport-Magazin.com analysiert die Herangehensweisen der Superstars und ihre Vorteile in der Schlacht um weitere MotoGP-Weltmeistertitel.

Der Vollgaspilot

Siegen oder Fliegen - kaum ein anderer Pilot hat dieses Motto derart verinnerlicht wie Marc Marquez. Ein Blick auf die Saison 2014 sagt alles über seine Mentalität als Racer aus. In 18 Rennen stand der Repsol-Honda-Pilot satte 13 Mal auf dem obersten Treppchen. Drei Mal stürzte er im Kampf um den Sieg - in Misano, Aragon und auf Phillip Island. Nur zwei Mal beendete Marquez ein Rennen ohne Sturz nicht als Sieger. In Brünn wurde er Vierter und in Motegi wohl nur deshalb Zweiter, weil er nach zwei Crashes zuvor in Misano und Aragon endlich seinen zweiten MotoGP-Titel unter Dach und Fach bringen wollte.

2015 ist die Dominanz Marquez' verflogen. Von Siegesserien wie im Vorjahr, als er die ersten zehn Grands Prix gewann, ist er weit entfernt. An der Einstellung, mit der er in die Rennen geht, hat das aber absolut nichts geändert. Beim ArgentinienGP etwa war er auf dem weicheren Hinterreifen in der Schlussphase gegen den heranpreschenden Valentino Rossi mit der härteren Mischung de facto chancenlos und hätte auch als Zweiter 20 wertvolle Punkte für die Gesamtwertung sammeln können. Doch Marquez entschied sich schon in dieser frühen Phase der Saison dafür, alles zu riskieren.

Marquez fährt immer am Limit, Foto: Repsol
Marquez fährt immer am Limit, Foto: Repsol

Für ihn spielt es keine Rolle, ob es sich um Runde eins beim Auftakt oder den letzten Umlauf beim Saisonfinale handelt - Marquez versucht alles, um seine Gegner im direkten Duell zu biegen. In Termas de Rio Hondo zahlte er den Preis dafür. Nachdem ihn Rossi überholt hatte, versuchte er einen verzweifelten Konter, der mit einem Sturz endete. Null Punkte für den Weltmeister, die vollen 25 Zähler für den Routinier mit der Nummer 46.

Andere Fahrer würden mit einem solchen Ausgang hadern, doch nicht Marquez. "Ich glaube nicht, dass ich in Argentinien einen Fehler gemacht habe", verteidigte der jüngste MotoGP-Weltmeister der Geschichte seine gewagte Entscheidung. "Wir fahren hier Rennen, da passieren solche Dinge. Sowas kann man vorher nicht ahnen. Wichtig ist nur, dass man die Lehren daraus zieht und versucht, es beim nächsten Mal besser zu machen. Dieses Mal hatte ich Pech, beim nächsten Mal eben der Andere", nutzte er seine Niederlage direkt als Möglichkeit für eine Kampfansage.

Klar ist, dass Marquez, vor allem nach seinem Patzer in der ersten Kurve von Katar und dem daraus resultierenden fünften Rang, 20 Punkte aus Argentinien in der Weltmeisterschaft deutlich mehr geholfen hätten als null. Doch er hält an seiner Herangehensweise fest: "Ich muss meine Strategie nicht ändern. Es war schon immer meine Art, stets 100 Prozent zu geben." Uneinsichtigkeit nach einem Fehler also. Ein Zeichen von Sturheit? Auf jeden Fall. Ein Nachteil im Titelkampf? Keineswegs. Sich Schwächen einzugestehen ist eine überaus positive menschliche Eigenschaft und für das soziale Miteinander unverzichtbar.

Doch im Spitzensport können Selbstzweifel einen Athleten schwächen, ihn mental lähmen. Muhammad Ali, Michael Schumacher, Pele - nie hätten sie Skepsis an der eigenen Leistung geäußert. Sie alle trugen dieses Gefühl der Unfehlbarkeit in sich und werden mit Recht regelmäßig zu den größten Sportlern der Geschichte gezählt. Dieser unbändige Glaube an sich selbst ist insbesondere in der MotoGP, wo die Fahrer an jedem Rennwochenende ihre Gesundheit und in Ausnahmesituationen sogar ihr Leben aufs Spiel setzen, Gold wert.

Marquez musste in seiner Karriere bereits harte Rückschläge erleben. 2011 legte er, damals noch in der Moto2-Klasse, im Training zum Grand Prix von Malaysia in Sepang einen brutalen Highsider hin. Seine Knochen blieben heil, doch das Sehzentrum des damals erst 18-Jährigen war schwer geschädigt. Monate lang sah er doppelt, an einen Einsatz in den letzten beiden Saisonrennen war so nicht zu denken. Stefan Bradl sicherte sich den Titel, während Marquez mit seinen Eltern und Mentor Emilio Alzamora von Arzt zu Arzt tingelte, doch lange fand niemand die Ursache. Das Karriereende drohte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe der Grund gefunden war und die volle Sehleistung zurückkehrte.

Bange Monate lagen hinter dem Wunderkind, als es 2012 in seine zweite Moto2-Saison ging. Die Zweifel waren groß, ob Marquez je wieder an seine Leistungen vor dem schlimmen Sturz würde anschließen können, ob er noch derart befreit und mutig agieren würde. Doch Skepsis herrschte nur bei Außenstehenden, nie bei ihm selbst. Mit einem Knall meldete er sich zurück und gewann den Auftakt in Katar. Acht weitere Siege und der Weltmeistertitel folgten in diesem Jahr, Marquez fuhr in einer eigenen Liga und war stärker als je zuvor. Er hatte den Weg aus einem tiefen Tal zurück an die Spitze geschafft. Das kann und wird ihm wieder gelingen. Wie? Natürlich mit Vollgas.

Der Instinktfahrer

Fünf Jahre bevor Marc Marquez die MotoGP mit dem Weltmeistertitel als Rookie im Sturm eroberte, stieg Jorge Lorenzo in die Königsklasse auf. Als 250ccm-Champion der beiden vorangegangenen Saisons kam er ins Werksteam von Yamaha und sollte für die stolze Motorradnation Spanien endlich die erste Meisterschaft in der MotoGP einfahren. Wie ein halbes Jahrzehnt später sorgte auch Lorenzo sofort für Aufsehen auf der großen Bühne. Als Teamkollege von Superstar Valentino Rossi fuhr der Mallorquiner in seinem ersten Qualifying am Losail International Circuit von Katar direkt auf die Pole Position.

Im Rennen wurde Lorenzo Zweiter, drei Ränge vor seinem großen Stallgefährten. Beim folgenden Heimspiel in Jerez fuhr er als Dritter erneut aufs Podium, seinen dritten Grand Prix in der MotoGP gewann er schließlich in Estoril. Nach den Rängen vier in China und zwei in Frankreich war Lorenzo voll im Titelkampf involviert, nur drei Zähler fehlten ihm auf seinen Teamkollegen Rossi in der Gesamtwertung. Doch dann folgte der Einbruch des Rookies. Bereits in Shanghai und Le Mans war er in den Trainings drei Mal gestürzt und hatte sich Knochenabsplitterungen und Bänderverletzungen zugezogen, konnte in den Rennen aber jeweils anschreiben. Im folgenden Rennen von Mugello unterlief ihm dann der erste Crash in einem Grand Prix. Zwei Wochen später flog er beim Training in Barcelona erneut ab, sein fünfter Sturz an vier Rennwochenenden. Lorenzos Körper war am Ende, eine Pause musste her und er im Rennen aussetzen.

In Donington griff er wieder ins Renngeschehen ein, doch war er nicht mehr der furchtlose Underdog des ersten Saisondrittels. Er strauchelte, holte aus sieben Grands Prix gerade einmal 26 Punkte. Die Konkurrenz zog auf und davon, der Titel war verloren. Der bis dahin so coole Lorenzo begann plötzlich zu zaudern, gestand öffentlich Angst ein - sinnbildlich für seine Karriere. Das unbedingte Selbstvertrauen anderer großer Champions kannte das Scheidungskind nie. Oft genügten Kleinigkeiten, um ihn völlig aus der Bahn zu werfen.

In diesem Jahr sicherte sich Lorenzo Titel Nummer drei in der MotoGP, Foto: Monster
In diesem Jahr sicherte sich Lorenzo Titel Nummer drei in der MotoGP, Foto: Monster

Das Talent des Yamaha-Piloten war stets unbestritten, doch konnte er es nur abrufen, wenn alles zu seiner Zufriedenheit war - Motorrad, Team, Bedingungen. Während andere Piloten sich einfach den Gegebenheiten anpassten, reagierte Lorenzo oft genervt und mit beinahe kindlichem Trotz. Eine Negativspirale, die ihn nach unten zog und die ursprünglich oftmals gar nicht unlösbaren Probleme zu unüberwindbaren Hürden werden ließ. Paradebeispiel hierfür ist der Saisonbeginn 2014. Der im Vorjahr nur ganz knapp von Marc Marquez geschlagene Vizeweltmeister verstrickte sich schon im Winter in Gejammer über die neuen Bridgestone-Reifen, die auf der Yamaha seiner Ansicht nach nicht funktionieren würden. Psychisch von seiner eigenen Einstellung geschwächt, lieferte Lorenzo dementsprechende Leistungen ab. In Katar unterlief ihm einer seiner selten gewordenen Stürze, in Texas ein haarsträubender Frühstart. Das ergab sechs Punkte aus zwei Rennen, Marquez hatte zu diesem Zeitpunkt schon 50. Saison gelaufen - da half auch eine fulminante zweite Hälfte nichts mehr.

"Ich war selbst mein größter Feind", meinte Lorenzo nach Saisonende im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. So etwas sollte dem zweifachen MotoGP-Champion in Zukunft nicht mehr passieren. "Du musst deine Probleme selbst überwinden, sonst wirst du nie gewinnen", philosophierte Lorenzo, als würde er bereits wissen, dass ihn das Schicksal 2015 erneut auf eine harte Probe stellen sollte. Dieses Mal präsentierte er sich in Katar bärenstark, kämpfte um den Sieg, musste sich aber mit Rang vier begnügen. Die Schaumstoffeinlage im Helm hatte sich gelöst und sein Sichtfeld massiv eingeschränkt. Ein unglaublich ärgerliches Missgeschick, das den Mann mit der Nummer 99 früher wohl zur Weißglut gebracht hätte. Doch Lorenzo blieb cool, flüchtete sich nicht in Schuldzuweisungen.

Zwei Wochen später in Austin litt er unter einer heftigen Erkältung, kam über Rang vier erneut nicht hinaus. Wieder hörte man kein Wort des Klagens. Sieben Tage später in Termas de Rio Hondo verzockte sich der bereits angezählte Lorenzo im Reifenpoker, nur Platz fünf. Ärger? Fehlanzeige. Erkennbar höchstens die Einsicht, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Kritiker schrieben Lorenzo zu diesem Zeitpunkt bereits ab. Er sei nicht der Typ, der sich schnell genug aus solchen Situationen befreien könne. Doch das war der alte Lorenzo, der zu viel über Vergangenes und noch mehr über das, was noch passieren könnte, nachdachte.

"Man kann im Rennsport nichts vorausplanen. Alles kann passieren", weiß er mittlerweile. Nun hat er den für sich richtigen Weg gefunden: "Für mich ist es besser, wenn ich nur von Runde zu Runde denke. Wenn eine Session vorbei ist, konzentriere ich mich auf die nächste. Ich folge einfach meinem Instinkt." Wie gut das für ihn funktioniert, zeigte er direkt nach den enttäuschenden ersten drei Rennen mit vier souveränen Siegen in Jerez, Le Mans, Mugello und Barcelona.

Der Taktikfuchs

Alter ist für gewöhnlich der natürliche Feind eines jeden Rennfahrers. Die körperliche Fitness lässt nach, die Reaktionsfähigkeit ist nicht mehr dieselbe und auch die Risikobereitschaft wird geringer. Ein Blick auf die bisherigen Weltmeister in der MotoGP sagt alles. Casey Stoner, Jorge Lorenzo, Marc Marquez und Nicky Hayden - sie alle waren bei ihren Titelgewinnen 26 Jahre oder jünger, teilweise sogar deutlich. Einzige große Ausnahme: Valentino Rossi.

Als der Doktor 2009 seine bislang letzte Weltmeisterschaft gewinnen konnte, war er bereits 30 Jahre alt. Doch wie schafft es Rossi, der deutlich jüngeren Konkurrenz die Stirn zu bieten? Ist es sein unglaubliches Talent? Eine Spur Glück? Beide Faktoren spielen mit Sicherheit eine gewisse Rolle, ausschlaggebend ist aber etwas ganz anderes: harte Arbeit.

Erfahrung zahlt sich aus: Seit 2000 fährt Rossi in der Königsklasse, Foto: Yamaha
Erfahrung zahlt sich aus: Seit 2000 fährt Rossi in der Königsklasse, Foto: Yamaha

Der Altmeister hat in den vergangenen Jahren, vor allem seit seiner Rückkehr zu Yamaha, geackert, wie noch nie zuvor in seiner Karriere. In seiner Heimatgemeinde Tavullia kaufte er eine alte Ranch und baute sich dort seine eigene Dirt-Track-Strecke, um das ganze Jahr über praktisch direkt vor seiner Haustür trainieren zu können. Darüber hinaus achtet Rossi penibel genau auf seine Ernährung und schuftet auf dem Fahrrad oder in der Kraftkammer, um mit den jungen Wilden auch körperlich mithalten zu können.

Diese Akribie integriert der Yamaha-Pilot auch in seine Arbeit direkt an der Rennstrecke. Rossi dreht nicht wie viele Youngsters vom ersten Freien Training an wild am Gashahn. Der Routinier hört in seine Maschine hinein, feilt an ihr, nimmt sich Zeit für die Weiterentwicklung. Mit Crewchief Silvano Galbusera hat Rossi seit dem Vorjahr dafür einen kongenialen Partner an seiner Seite. Das Duo hat es, vor allem in der laufenden Saison, bereits mehrmals geschafft, hoffnungslose Unterlegenheit in Trainings und Qualifyings mit Ruhe und konsequenter Arbeit am Sonntag doch noch in einen Sieg umzumünzen. Hier spielt der neunfache Champion die Erfahrung aus weit über 300 Grands Prix in der Motorrad-Weltmeisterschaft eiskalt aus.

Doch nicht nur an einzelnen Wochenenden ist Rossis Routine das große Ass im Ärmel seiner Lederkombi. Er weiß wie kein anderer, was es bedeutet, um die Weltmeisterschaft zu kämpfen. Der sonst so lässige Italiener agiert auf seinem Motorrad nie unüberlegt, hat auch in den haarigsten Situationen stets das große Ziel MotoGP-Titel vor Augen. "Die WM ist viel schwieriger zu erreichen als alles andere, weil man in einer so langen Saison einfach überall schnell sein muss. Dazu braucht man in der Regel viel Erfahrung. Die habe ich auf jeden Fall, aber auch noch ein paar andere Dinge", ließ er die Konkurrenz in Le Mans mit seinem typischen Spitzbubengrinsen wissen.

Rossi war 2015 ein Paradebeispiel für Konstanz, stand in den ersten zwölf Saisonrennen jedes Mal auf dem Podium, während seine Gegner bereits einige grobe Ausreißer nach hinten oder sogar Ausfälle zu verzeichnen hatten. Rossi schenkte den Punktevorsprung, den er seit seinem Sieg beim Auftakt in Katar mit sich herumträgt, nicht leichtfertig her, sondern verwaltete ihn mit größtmöglicher Sorgfalt. "Valentino kann mit seinem Polster in der Gesamtwertung sehr gut haushalten", weiß auch der in den ersten Rennen bereits mächtig ins Hintertreffen geratene Marc Marquez. "Er weiß genau, wann er angreifen kann und wann es besser ist, einfach möglichst viele Zähler mitzunehmen."

Seinen Gegnern ist klar, dass sie Rossi nur durch überragenden Speed im Rennen schlagen können, wie es Marc Marquez in Austin oder Jorge Lorenzo in Jerez beeindruckend vorexerziert haben. Runde für Runde prügelten sie ihre Maschine am absoluten Limit um die Strecken - ein Tanz auf Messers Schneide. Ein Fehler, ein Sturz und jemand anderes erbt den Sieg. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass es sich dabei um Valentino Rossi handelt.

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