Nick Cassidy ist der Mann der Stunde in der Formel E. Der Envision-Pilot feierte am Sonntag in Berlin seinen ersten Saisonsieg und fuhr zum vierten Mal im Verlauf der letzten fünf Rennen aufs Podium. Ähnlich spektakulär: Im Samstagsrennen auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof musste Cassidy zwischenzeitlich einen Boxenstopp (Runde 20) wegen eines defekten Frontflügels einlegen und fiel ans Ende des Feldes zurück, nur, um eine famose Aufholjagd bis auf den fünften Platz beim Zieleinlauf in Runde 43 hinzulegen.

Cassidys Serie schlägt sich auch in der Gesamtwertung nieder: Der Neuseeländer belegt den zweiten Platz mit 96 Punkten und ist der ärgste Verfolger von Spitzenreiter Pascal Wehrlein (100 Punkte), der mit Porsche die inoffizielle Halbzeit-Meisterschaft feiern kann. Cassidy hat mit dem Envision-Kundenauto von Jaguar nach den ersten acht Saisonrennen mehr Zähler gesammelt als in seinen beiden Formel-E-Jahren zuvor.

"Der Typ ist seit gestern auf Drogen!"

Der in der Öffentlichkeit als eher ruhiger Vertreter bekannte 28-Jährige sammelte in Berlin nicht nur Punkte, sondern auch 'Likes': Die Formel E veröffentlichte am Sonntagmorgen auf Twitter einen abgefangenen Funkspruch von Cassidy, in dem er sich auf kuriose Art und Weise ausgerechnet über Teamkollege Sebastien Buemi beschwerte und ihn ironisch als "guten Teamkollegen" bezeichnete. Und das klang so:

"Was tut er da, man? Also wirklich! Der Typ ist seit gestern auf Drogen! Im Debrief wird er vor mir sitzen und sagen: 'Ah, ja, Stoffel (Vandoorne), ich wäre auf P1, aber ich hatte Verkehr', und 'Wenn meine Mutter ein Mann wäre, bla bla bla', verdammt!" Auf den Hinweis seines Ingenieurs, die Angelegenheit später hinter verschlossenen Türen zu besprechen, antwortete Cassidy: "Ich will im Debrief überhaupt nichts sagen. Das wird einseitig, und der Bericht ist dann auch wieder einseitig."

Cassidy startet seit 2021 für Envision in der Formel E, Foto: LAT Images
Cassidy startet seit 2021 für Envision in der Formel E, Foto: LAT Images

Das sagt Cassidy zum Berlin-Funkspruch

Stunk am Funk bei Envision! Wann genau Cassidy den Radio-Call abgesetzt hat, ist nicht ganz klar. Vermutlich bezog er sich auf Vorkommnisse aus dem Samstagsrennen. Im Renngeschehen ist es vollkommen üblich, dass die Emotionen etwas höherschlagen und die Sprache auch mal ein wenig rauer werden kann. Mit etwas Abstand wollte Cassidy seinem durchaus unterhaltsamen Funkspruch aber keine allzu große Bedeutung beimessen.

"Das war eher sarkastisch und lustig gemeint, kam aber nicht so rüber", sagte er am Mittwoch bei einer Online-Medienrunde zu Motorsport-Magazin.com. "Leute, die mich kennen, wissen das. Aber wenn es niedergeschrieben wird und die Leute deine Persönlichkeit nicht kennen, dann sehen die Worte hart und ich schlecht aus. Ich muss mich entschuldigen. Es ist alles okay, auch, wenn meine Worte nicht darauf schließen ließen."

Nick Cassidys Bilanz in der Formel E

StatistikBilanz
Rennen39 seit 2021
Siege2
Podestplätze8
Pole Positions4
Schnellste Rennrunden4
Punkte240

Funksprüche: Wenn Emotionen hochkochen

Veröffentlichte und in den sozialen Medien verbreitete Funksprüche von Fahrern sind auch in anderen Rennserien immer wieder ein Thema. Oftmals rücken sie die Piloten in ein falsches Licht, obwohl es sich meist um Momentaufnahmen in absoluten Stresssituationen handelt. Cassidy meinte dazu: "Es ist blöd, wenn so etwas hochkocht. Ob man das veröffentlichen soll oder nicht... Für Social Media war es großartig, die haben da alles rausgeholt. Das Video machte die Runde und erhielt Aufmerksamkeit. Es half wohl dabei, den Sport größer zu machen..."

Es ist eine durchaus spannende Fahrerkombination bei Envision (153 Punkte), das noch vor dem Motorenlieferanten Jaguar (138 Punkte) und hinter Porsche (168 Punkte) den zweiten Platz in der WM-Tabelle belegt. Cassidy gilt in der Öffentlichkeit als zurückhaltend, während Buemi - mehrfach eindrucksvoll unter Beweis gestellt - ein eher aufbrausender Charakter zugeschrieben wird, um es vorsichtig zu formulieren...

Mann der Stunde in der Formel E: Nick Cassidy, Foto: LAT Images
Mann der Stunde in der Formel E: Nick Cassidy, Foto: LAT Images

Cassidy: "Bei Seb braucht man manchmal Ohtstöpsel"

Eine neue Situation für Cassidy in seiner dritten Saison bei Envision, nachdem Buemi von Nissan gewechselt war und auf Robin Frijns folgte, der als einer der umgänglichsten Piloten im Fahrerlager gilt. Cassidy, mit einem Grinsen im Gesicht: "Beide sind sehr schnell und talentiert, ich habe großen Respekt vor beiden. Seb ist ein bisschen lauter, da braucht man manchmal Ohrstöpsel..."

Cassidy war ebenso glücklich, einen ehemaligen Formel-E-Champion an seiner Seite zu haben, "Seb ist eine gute Referenz". Der vierfache Le-Mans-Sieger aus der Schweiz hat nach schwierigen Jahren bei Nissan neuen Auftrieb erhalten und belegt aktuell den achten Gesamtplatz. Als erstem Fahrer gelang es ihm in Berlin, eine zweite Pole Position in der laufenden Saison zu erzielen - und das mit gebrochener Hand nach einer unglücklichen Kollision vor wenigen Wochen in Sao Paulo!

Buemi sammelt konstant Punkte mit dem starken Jaguar-Antriebsstrang in seinem Envision, wartet aber noch auf den ersten Podestplatz. Am Sonntag im regnerischen Berlin-Qualifying traf er im Viertelfinale ausgerechnet auf Teamkollege Cassidy und verlor das Duell auf der Strecke. Aber: Cassidy wurde nachträglich die Rundenzeit aberkannt, weil er zu einem unerlaubten Zeitpunkt vom 300- in den vollen 350 kW-Modus gewechselt war.

Formel E Berlin 2023, Rennen 2: Highlights und Zusammenfassung (04:35 Min.)

Envision-Chef: Manchmal herrscht Frustration

Envision-Teamchef Sylvain Filippi, der mit seiner Kundenmannschaft schon in der Vergangenheit die großen Hersteller inklusive des eigenen Lieferanten Audi ärgern konnte, wollte den Vorkommnissen in Berlin nicht allzu viel beimessen. "Das haben wir schon mal erlebt", erklärte der Franzose. "Wenn du das Auto hast, um Rennen und Meisterschaften zu gewinnen, steht natürlich mehr auf dem Spiel. Manchmal gibt es ein bisschen Frustration."

Filippi weiter: "Es ist unsere Aufgabe, die Dinge zu beruhigen und dann dafür zu sorgen, dass sie sich auf den Job konzentrieren. Das ist mir zusammen mit einem schnellen Auto viel lieber als umgekehrt. Die Jungs verstehen sich hervorragend. Es ist alles gut. Wenn der Preis aber zum Greifen nah ist, dann schlagen die Emotionen etwas höher. Das ist normal im Motorsport. Es ist aber unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass es letztendlich nicht unsere Performance beeinträchtigt."

In der Vergangenheit durfte sich Envision mehrfach Hoffnungen auf einen Titelgewinn machen, konnte meist aber im späteren Saisonverlauf nicht mit der Power der Hersteller mithalten. Kommt es diesmal wieder so, nachdem Motorenlieferant Jaguar immer stärker wird? Cassidy: "Wir waren das einzige Team, das zwischen Sao Paulo und Berlin nicht getestet hat. Wir haben das gleiche Paket, aber es sind die kleinen Dinge. Es ist einfach so: Wir kommen nicht so vorbereitet zu den Rennen wie die Werksfahrer."

Formel-E-Tabelle 2023: Top-10

Pos.FahrerTeamPunkte
1Pascal WehrleinPorsche100
2Nick CassidyEnvision-Jaguar96
3Jean-Eric VergneDS Penske81
4Jake DennisAndretti-Porsche80
5Mitch EvansJaguar76
6Antonio Felix da CostaPorsche68
7Sam BirdJaguar62
8Sebastien BuemiEnvision-Jaguar57
9Rene RastMcLaren40
10Jake HughesMcLaren32