Nicht Porsche, Jaguar, Nissan, DS Automobiles, Mahindra, oder NIO: Mit Envision hat sich ausgerechnet ein Kundenteam die Weltmeisterschaft in der Formel-E-Saison 2023 gesichert. Vize-Champion Nick Cassidy und der viermalige Le-Mans-Sieger Sebastien Buemi führten den britischen Rennstall, der vor dem Jahresbeginn von Komplettaussteiger Audi zu Jaguar gewechselt war, zum größten Triumph seiner Geschichte.

In der Gesamtwertung setzte sich Envision mit 304 Punkten knapp vor dem Jaguar-Werksteam durch, das mit Mitch Evans und dem scheidenden Sam Bird 292 WM-Zähler sammelte. Das Porsche-Kundenteam Andretti um Weltmeister Jake Dennis wies mit 252 Punkten bereits einen deutlichen Rückstand auf. Das Porsche-Werksteam (242 Punkte) - vorbehaltlich des eingelegten Protests - musste sich gar mit dem vierten Rang begnügen.

Formel E: Kundenteams lassen Hersteller alt aussehen

Es ist absolut bemerkenswert, dass in dieser Saison zwei private Rennställe gegen ihre jeweiligen Motorenlieferanten in der Fahrer- und Team-Meisterschaft die Oberhand behielten. Vor allem angesichts der extrem steilen Lernkurve mit dem neuen Gen3-Rennwagen, die üblicherweise die finanziell besser ausgestatteten Werke mit ihrem größeren Testfahrten-Kontingent bevorteilt.

In der Formel E mit ihren einheitlichen Chassis, Batterien, Allwetterreifen und inzwischen auch Frontmotoren gelang es privaten Teams immer wieder, den Herstellern auf der Nase herumzutanzen. Ein Titelgewinn durch eine Kundenmannschaft bleibt jedoch ein seltenes Phänomen: Dieses Kunststück gelang vor dem Envision-Erfolg nur dem Ex-Team Techeetah in der Saison 2018/19 mit Jean-Eric Vergne und Teamkollege Andre Lotterer.

Envision, ehemals als Virgin Racing bekannt, zählt nicht nur zu den Pionieren der Formel-E-Geschichte, sondern ist auch nach Punkten das inzwischen erfolgreichste Team. Die Truppe um den französischen Teamchef Sylvain Filippi errang seit der Debütsaison 2014/15 beeindruckende 1.602 Punkte. In der ewigen Statistik führt Envision vor Renault/Nissan/e.dams (1.488 Punkte) und Abt/Audi (1.401 Punkte).

Envision feiert die Team-WM beim Formel-E-Finale in London
Envision-Jaguar gewinnt die Team-WM in der Formel E 2023, Foto: LAT Images

Dennis über Envision-Fehler: "Sie haben es vermasselt"

Bei aller Freude über den Titelgewinn darf allerdings nicht vergessen werden, dass sich Envision beim Saisonfinale in London am Samstag einen riesengroßen Patzer leistete und dieser den Neuseeländer Cassidy die Weltmeisterschaft gekostet haben könnte. 20 Punkte fehlten dem 'Kiwi', der vor dem Wechsel zum Jaguar-Werksteam steht und das regnerische Sonntagsrennen in London gewann, in der Endabrechnung zu Dennis.

"Diese Jungs versuchten es taktisch zu spielen, um mich ins Feld zurückzudrängen, damit ich Plätze verliere, und sie gleichzeitig den Team-Titel holen können", blickte der frischgebackene Weltmeister Dennis diese Woche in einer Online-Medienrunde zurück. "Sie haben es aber vermasselt und einen Fehler gemacht. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie Nick sich fühlte, als sein Frontflügel flöten ging."

Der dramatische Vorfall ereignete sich in der 15. Runde des Samstagsrennens, als Cassidy bei einem höchst ungelenk wirkenden Überholversuch mit Teamkollege Buemi kollidierte, den Frontflügel seines Autos verlor und sich dadurch einen Reifenschaden zuzog. Der Reparatur-Boxenstopp warf Cassidy bis ans Ende des Feldes zurück und machte faktisch seine WM-Hoffnungen zunichte, während Buemi mit Platz drei den traurigsten Podesterfolg der Saison 'feierte'.

Envision-Kollision: Die Hintergründe zum Drama

Viele Beobachter und TV-Kommentatoren regten sich im ersten Moment über den Schweizer Buemi auf, der angeblich nicht für seinen Teampartner und Titelkandidaten Platz gemacht habe. Beleuchtet man die Hintergründe im Detail, kommt jedoch ein anderes Bild zum Vorschein.

Tatsächlich war der Team-Crash auf eine völlig misslungene und wahnsinnig schlecht kommunizierte Team-Strategie zurückzuführen. Envision versuchte angesichts seiner starken Autos, sowohl die Fahrer- als auch die Team-Meisterschaft mit einem Streich zu gewinnen! Das endete in einem Debakel, das Cassidy am Boden zerstört zurückließ, Buemi fassungslos machte und am Ende leicht beide Titel hätte kosten können. Dass die Truppe letztendlich zumindest die Team-WM feiern konnte, darf als kleines Wunder bezeichnet werden.

Die irre Idee kurz erklärt: Cassidy führte das Rennen von der Pole Position mehr als souverän an und konnte als erster Fahrer seine beiden Attack Modes verbraten, während Buemi von P3 ein großartiger Start vorbei an Jake Dennis gelungen war. Der Schweizer nahm im Heck seines Teamkollegen frühzeitig Gas raus, hielt Dennis auf und drückte den Andretti-Piloten langsam aber sicher ins dichte Verfolgerfeld zurück. Soweit, so gut.

Podium: Sieger Nick Cassidy beim Formel E Finale
Vize-Weltmeister in der Formel E: Nick Cassidy, Foto: LAT Images

Titelanwärter Cassidy geht freiwillig vom Gas

Dann wurde es höchst kurios in Runde 10, als - abseits der TV-Kameras - sich Cassidy plötzlich absichtlich zurückfallen ließ, um Buemi vorbei und in Führung zu lotsen. Der WM-Anwärter nahm auf dem Weg zum sicheren Sieg freiwillig Gas raus! Bei dieser wilden Aktion schlüpfte Jaguar-Pilot Mitch Evans durch, während Cassidy obendrein von Dennis kassiert wurde und kurzzeitig sogar auf P5 zurückfiel. Ein Voll-Debakel für Envision, das in dieser kurzen Phase des Rennens alles zu verlieren drohte.

Der mehr als ambitionierte Plan hinter dieser Wechsel-Aktion: Cassidy sollte auf Teamanweisung hin Buemi vorbeilassen und abschirmen, damit dieser seine beiden Attack Modes aktivieren kann, ohne Plätze zu verlieren. Später im Rennen sollten die beiden Fahrer dann wieder die Plätze tauschen, damit Cassidy mit dem Sieg seine Titelchancen aufrecht hält und ein Doppelsieg gleichzeitig die maximalen Punkte für die Team-WM bringt. Es endete mit einem vorzeitig ausgefallenen Cassidy...

Envision-Chef: Zu gierig - Team trägt Schuld

Am Sonntagmorgen nach diesem Drama bezog Teamchef Filippi Stellung zu den Ereignissen. "Wir haben wahrscheinlich versucht, zu gierig zu sein und das Risiko-Belohnungs-Verhältnis falsch eingeschätzt", erklärte er im World-Feed der Formel E. "Durch den Versuch, die Fahrer noch einmal zu orchestrieren, hat Nick sich im Grunde genommen weiter zurückfallen lassen. Dann wurden wir von den Titelanwärtern überholt. Das hat eine Spannung erzeugt, die eigentlich nicht nötig war."

Cassidy machte dem Team noch während des Rennens deutliche Vorwürfe am Teamfunk und sprach später von einem Alptraum. Filippi räumte ein: "Wenn du so viele Dinge hast und versuchst, etwas über vier, fünf Kurven zu orchestrieren, entsteht Misskommunikation. Ich und wir als Team übernehmen die Schuld. Wir hätten es besser machen sollen. Aber der schlimmste Fehler war, in erster Linie in diese Situation zu geraten, das steht außer Frage."

Envision-Teamchef Sylvain Filippi beim Formel-E-Finale in London auf dem Podest
Envision-Teamchef Sylvain Filippi auf dem London-Podest, Foto: LAT Images

Cassidy: "Bin vielleicht zu guter Teamplayer

Dass sich Cassidy mit seinen guten Titelhoffnungen überhaupt auf diese irre Strategie einließ, muss er sich heute vorwerfen lassen. Andere Rennfahrer wären einfach davongefahren und hätten nur auf das eigene Ergebnis geschaut. "Ich würde annehmen, dass ich ein guter Team-Player bin. Vielleicht bin ich ein zu guter Team-Player", sagte er völlig niedergeschlagen nach dem Samstags-Debakel zu Motorsport-Magazin.com. "Manchmal ist es besser, ein Rennen einfach zu gewinnen."

Buemi hinterließ nach dem Rennen einen ähnlich erschütterten Eindruck und versicherte während der Podest-Pressekonferenz: "Ich wollte ihm helfen. Heute haben die Fahrer wenig Energie genutzt und dadurch gab es diesen Ziehharmonika-Effekt. Jemanden zwischen den Kurven 2 bis 5 durchzulassen, ist schwierig. Wenn man mir gesagt hätte, dass ich ihn vorbeilassen soll, hätte ich das gemacht. Aber an einem sicheren Platz."

Teamfunk zeigt das Drama im Detail auf

Wie dramatisch und wirr sich die Situation während des Rennens abspielte, darüber geben die Team-Radios von Cassidy und Buemi einen guten Eindruck. 'The Race' veröffentlichte größere Ausschnitte der Funk-Konversationen, die man im Rennen über die Formel-E-App live hören kann und die später als Highlight-Video veröffentlicht werden.

Zum besseren Verständnis der folgenden Konversationen: Der Begriff 'Black 20' dürfte ein Code für den Teamorder-Plan von Envision gewesen sein. Das Code-Wort 'Gladiator' stand offenbar für die Idee, die Verfolger-Autos und vor allem Titelgegner Dennis aufzuhalten.

Teamfunk zwischen Cassidy, Buemi und ihren jeweiligen Renningenieuren

Bevor sich Cassidy hinter Buemi zurückfallen ließ:

Cassidy: Sagt Seb, dass er mich außen in Kurve 16 überholen soll.

Ingenieur: Es wird ihm gesagt.

Cassidy: Danach machen wir 'Gladiator' auch bei ihm.

Ingenieur: Guter Plan. Das wurde Seb gesagt.

Der Versuch, die Plätze wieder zu tauschen:

Ingenieur: Seb macht es jetzt, Seb macht es jetzt. 1,4 Sekunden vor dir.

...

Cassidy: Okay, ich muss Seb einholen. Ich muss Seb einholen.

Cassidy: Hey, er verteidigt sich gegen mich! Mitch hat weniger Energie.

Ingenieur: Warte. Ich sage dir Bescheid.

Cassidy: Seb verteidigt sich gegen mich? Ich muss ihn nur überholen, dann kann ich ihm helfen.

Cassidy: Jungs! Wie lautet das Feedback?

Ingenieur: 'Black 20' jetzt.

Nach der Kollision mit Buemi:

Cassidy: Ihr habt 'Black 20' angesagt. Ich habe volle Energie genutzt, fuhr auf die Außenbahn, er verteidigte sich. Er drückte mich in Turn 2 in die Mauer, ich kam vorbei und blieb für Turn 3 außen, dann zog er rüber und hat meine Nase abgefahren. Nachdem ihr 'Black 20' angegeben habt. Das fasst meine Saison zusammen. Wisst ihr, was das Lustige daran ist, man? Ich musste nicht mal die Führung abgeben. Ich hätte vorne bleiben und das Rennen gewinnen können. Und ich habe versucht, das Richtige fürs TEAM zu tun! Ich habe das Richtige fürs Team getan, weil ich das schon das ganze Jahr so gemacht habe.

Buemis parallele Konversation mit seinem Renningenieur beim Versuch, die Plätze wieder zu tauschen:

Buemi: Okay, was passiert mit Nick? Ich meine, wollen wir das 'Gladiator'-Ding machen, oder nicht?

Buemi: Sag mir, was ich machen soll, man! Er versucht mich anzugreifen!

Ingenieur: Verstanden, Seb.

Ingenieur: Seb, wir tauschen die Positionen. Ich schaue gerade, an welcher Stelle.

Buemi: Okay, sag es mir! Ich muss es wissen, Jungs.

Nach der Kollision mit Cassidy:

Buemi: Man, was ist jetzt mit seinem Frontflügel passiert?

Buemi: Jungs, ich bin sprachlos. Ich bin sprachlos.

Ingenieur: Du machst einen tollen Job.

Buemi: Das kann nicht wahr sein! Nein, mache ich nicht! Nein, mache ich nicht! Nein!

Formel-E-Tabelle 2023 nach 16/16 Rennen (Top-5)

Fahrer-Weltmeisterschaft

PositionFahrerPunkteTeam
1Jake Dennis229Andretti-Porsche
2Nick Cassidy199Envision-Jaguar
3Mitch Evans197Jaguar
4Pascal Wehrlein149Porsche
5Jean-Eric Vergne107DS Penske

Team-Weltmeisterschaft

PositionTeamPunkteFahrer
1Envision-Jaguar304Nick Cassidy/Sebastien Buemi
2Jaguar292Mitch Evans/Sam Bird
3Andretti-Porsche252Jake Dennis/Andre Lotterer
4Porsche242Pascal Wehrlein/Antonio Felix da Costa
5DS Penske163Jean-Eric Vergne/Stoffel Vandoorne