Beim Titelanwärter-Team Envision-Jaguar ist während des Formel-E-Finales in London das große Chaos ausgebrochen. Ein teaminterner Crash zwischen Titelkandidat Nick Cassidy und Sebastien Buemi im Samstagsrennen ließ alle Beobachter kollektiv die Köpfe schütteln. WM-Chancen für den Neuseeländer, der mit 24 Punkten Rückstand zum neuen Weltmeister Jake Dennis nach London gereist war, futsch - und die Stimmung komplett am Gefrierprunkt.

Dabei hatte Cassidy das Rennen von der Pole Position (geerbt von Mitch Evans, der Cassidy in Rom abgeschossen hatte) sogar souverän angeführt und mit Buemi im Heck obendrein das perfekte Schutzschild. Alles deutete in der Anfangsphase auf einen klaren Sieg für Cassidy hin, der als erster Fahrer in der Spitzengruppe bis zur achten Runde seine beiden Attack Modes verfeuert hatte und die Pace klar bestimmte.

Cassidys Titel-Hoffnung adé: "Wollte nett zum Team sein"

Dann wurde es wild in Runde 10, als Cassidy plötzlich auf den dritten Platz zurückfiel bzw. sich offenbar zurückfallen ließ, während Teamkollege Buemi seinen Attack Mode aktivierte und parallel dazu Evans an beiden Envision vorbeischlüpfte. Cassidy fiel sogar bis auf den fünften Platz zurück, bevor das Drama in Runde 15 seinen traurigen Höhepunkt erreichte und es bei einem ungelenken Vorbeiwink-Manöver zur Team-Kollision kam! Cassidy musste sein Auto in der Box abstellen und war erst mal restlos bedient.

Cassidy mit einer Art Erklärungsversuch gegenüber Motorsport-Magazin.com: "Ich hatte schon meine beiden Attack Modes genutzt. Ich ließ Seb vorbei, wollte nett zum Team sein und dem Team und seinem Rennen helfen. Ich habe angeboten, die Führung abzugeben. Ich bin vom Gas runter und ließ ihn (Buemi) vorbei, um ihn zu unterstützen."

Wie bitte?! Dabei war es doch Cassidy, der sich noch gute Chancen auf den Fahrer-Titel ausrechnen konnte. Nick, was sollte das? "Weil wir auch um die Team-Weltmeisterschaft kämpfen. Und ich würde annehmen, dass ich ein guter Team-Player bin. Vielleicht bin ich ein zu guter Team-Player."

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Nick Cassidy führte in London vor Teamkollege Sebastien Buemi, Foto: LAT Images

Bei Envision geht alles schief

Aha. Offensichtlich ging in der teaminternen Kommunikation so ziemlich alles schief, was nur schiefgehen konnte. Das Debakel endete in einem Podestplatz von Buemi, der nach der Zeitstrafe für Antonio Felix da Costa auch noch auf den zweiten Platz vorrückte. Dem früheren Formel-1-Fahrer schien die ganze Angelegenheit eher unangenehm zu sein. Das wohl traurigste Podium in der Geschichte der Formel E...

Ex-Meister Buemi: "Ich bin enttäuscht. Wir hatten einen guten Plan und wollten mit beiden Autos durch die ersten Kurven führen. Wir haben alles getan, damit Nick nach seinen Attack Modes in Führung bleibt. Ich habe dann meinen Attack Mode verpasst, das hat uns wohl den Sieg gekostet. Der Kontakt mit Nick war dann sehr unglücklich, das müssen wir uns noch mal anschauen."

Buemi betonte, dass er Noch-Teamkollege Cassidy, der vor dem Wechsel ins Jaguar-Werksteam anstelle von Sam Bird steht, habe unterstützen wollen. Der Schweizer und vierfache Le-Mans-Sieger: "Ich wollte ihm helfen. Heute haben die Fahrer wenig Energie genutzt und dadurch gab es diesen Ziehharmonika-Effekt. Jemanden zwischen den Kurven 2 bis 5 durchzulassen, ist schwer. Wenn man mir gesagt hätte, dass ich ihn vorbeilassen soll, hätte ich das gemacht. Aber an einem sicheren Platz."

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Sebastien Buemi und Envision-Teamchef Sylvain Filippi, Foto: LAT Images

Cassidy: Absichtlicher Tritt in die Eier?

Cassidy versicherte, dass die völlig kuriose Situation nichts mit einem möglichen Abschied von Envision zu tun habe: "Nein. Es ist eine große Sache, die Team-WM zu gewinnen. Und wie gesagt, ich dachte, dass ich das Rennen trotzdem gewinnen und gleichzeitig sein (Buemis) Rennen unterstützen kann."

Cassidy, dessen Titelchancen schon vor zwei Wochen in Rom nach der unverschuldeten Kollision mit Jaguar-Ass Evans einen herben Dämpfer bekommen hatten, etwas kryptisch: "Mein Team war toll darin, uns beide zu unterstützen. Ich bin nicht hier, um negative Kommentare über das Team oder die Situation abzugeben. In Rom bekamen wir einen Tritt in die Eier. Und heute wieder. Rom war von niemandem die Absicht. Heute vielleicht schon."

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Nick Cassidy vor Teamkollege Sebastien Buemi in London, Foto: LAT Images

Nach dem Chaos: Holt Envision die Team-WM?

Im heutigen letzten Saisonrennen (18:00 Uhr live bei ProSieben) hat Jaguar-Kundenteam Envision die Chance, erstmals die Team-Weltmeisterschaft in der Formel E zu gewinnen. Die Mannschaft um Teamchef Sylvain Filippi belegt den zweiten Platz, punktgleich (268) mit dem Jaguar-Werksteam.

Porsche mit 241 Zählern kann sich trotz des Debakels am Samstag ebenfalls noch Hoffnungen ausrechnen. Porsche hat wegen der 3-Minuten-Zeitstrafe für Felix da Costa einen Einspruch angekündigt. Ziehen die Zuffenhausener diesen innerhalb der Frist von 96 Stunden durch, fällt die WM-Entscheidung vor dem FIA-Berufungsgericht.