Ärger hinter den Kulissen, teaminterne Kollisionen und Zoff, Transfermarkt-Gerüchte, das erste Regenrennen der Gen3-Ära und mit Jake Dennis ein neuer Weltmeister: Das Saisonfinale der Formel E in London steckte auf und abseits der Rennstrecke voller Aufreger und Kontroversen. Motorsport-Magazin.com begleitete das Rennwochenende auf dem ExCel-Messegelände vor Ort und fasst die wichtigsten Ereignisse zusammen.

Aufreger #1: Envision-Gier sorgt für Team-Crash

"Wir waren zu gierig und nehmen den Fehler auf unsere Kappe". So bewertete Envision-Teamchef Sylvain Filippi die höchst kontroverse Team-Kollision zwischen Titelanwärter Nick Cassidy und Sebastien Buemi im Samstagsrennen. Der vierfache Le-Mans-Sieger aus der Schweiz erwischte Teamkollege und Sieganwärter Cassidy zur Rennmitte beim ungelenk wirkenden Versuch eines Platztauschs. Resultat: Frontflügel weg, Titelchancen auch! Cassidy war mit 'nur' 24 Punkten Rückstand auf den neuen Formel-E-Weltmeister Jake Dennis zum Finale gereist, nach der Envision-Kollision aber chancenlos.

Der Crash zwischen Cassidy und Buemi war zurückzuführen auf eine katastrophale Teamkommunikation, nachdem der Jaguar-Kundenrennstall Blut geleckt hatte und mit wilden Vorbeiwink-Taktiken versuchte, sowohl die Team- als auch die Fahrermeisterschaft zu gewinnen. Buemi konnte einem schon fast leid tun, als er während des Rennens immer wieder fragte, wie, wo und wann er Cassidy vorbeilassen solle, nachdem sich der Neuseeländer irrerweise freiwillig hatte zurückfallen lassen.

"Wir arbeiten dran", lautete der letzte Teamfunk an Buemi, bevor es krachte... Dass sich Cassidy auf diese Aktion überhaupt einließ, ist ebenso zweifelhaft. "Vielleicht bin ich ein zu guter Team-Player", sagte der Kiwi, der vor einem Wechsel zum Jaguar-Kundenteam steht. Immerhin: Cassidy gewann das regnerische Sonntagsrennen und bereitete zumindest dem Privatteam Envision mit dem Team-Titel ein versöhnliches Abschiedsgeschenk.

Aufreger #2: Wehrlein und Dennis bleiben keine Freunde

Absprache-Chaos herrschte nicht nur bei Envision, sondern auch bei der Porsche-Phalanx bestehend aus dem Werksteam und Kundenrennstall Andretti. Im Samstagsrennen hatte Werkspilot Pascal Wehrlein die Anweisung, Titelfavorit Jake Dennis nicht angreifen zu dürfen, solange Nick Cassidy vorne mitmischte. Als der Neuseeländer ausgefallen war, ging es zwischen Wehrlein und Dennis - die sich sowieso nicht leiden können - deutlich heißer zur Sache als von allen Seiten gewünscht.

"Als Cassidy das Problem hatte, hätte es eigentlich andersherum laufen müssen", sagte Wehrlein, der alles andere als amused war, dass Dennis ordentlich reinhielt statt wie besprochen Platz zu machen, damit Wehrlein die dicken Punkte für Porsches Team-Titelhoffnung einsacken konnte. Der frühere DTM-Champion und Formel-1-Fahrer süffisant: "Niemand ist größer als unser Team, deshalb werden Anweisungen befolgt. Von manchen mehr, von anderen eben nicht..."

Auf der Gegenseite ärgerte sich auch Dennis über die robusten Manöver von Wehrlein, die aus einer offenbar zu komplizierten Teamabsprache heraus entstanden. Der neue Formel-E-Champion: "Ich war schockiert darüber, wie gefahren wurde. Ich hatte das Gefühl, dass ich gegen 20 Jaguar fahre. Es war extrem schwer zu verstehen, was da abging. Unser Plan war mehr und mehr für die Tonne. Aber wir haben sie besiegt und sind Weltmeister. Also ist es mir jetzt egal."

Podium Top-3 2023: Nick Cassidy, Champion Jake Dennis und Mitch Evans beim Formel E Finale in London
Formel-E-Weltmeister 2023: Jake Dennis, Foto: LAT Images

Aufreger #3: Wehrlein und Rast - Ab in den Urlaub...

Zwischen Wehrlein und Dennis ging es im Samstagsrennen glimpflich aus, mit Rene Rast weniger. Der McLaren-Pilot schickte Wehrleins Porsche in der Schlussphase in die Bande und beschädigte dabei auch sein eigenes Auto. Was möglicherweise mit einem deutschen Doppel-Podest hätte enden können, führte zu Reparaturarbeiten während der anschließenden Rot-Phase und damit einer Rückversetzung ans Ende des Feldes beim Re-Start. Wehrlein wurde nur Neunter, Rast (5-Sekunden-Strafe) ging mit P14 zum neunten Mal in Folge leer aus.

Wehrlein im Anschluss zu Motorsport-Magatzin.com: "Vieles kommt durch die Strecke und wir befinden uns am Ende der Meisterschaft. Viele fahren gerne noch mal Harakiri. Und ich glaube, einige brauchen einfach nur Urlaub. Zum Beispiel der Rene, dem würde so ein Urlaub mal gut tun." Rast konterte einen Tag später auf unsere Nachfrage hin: "Uns allen würde Urlaub gut tun, nicht nur mir. Jeder macht Fehler, auch Pascal. Wir operieren alle am absoluten Limit, da passieren Fehler. Und wenn er mich außen in Turn 1 überholt, birgt das eben eine gewisse Gefahr."

Aufreger #4: Porsche droht mit Titelentscheidung am Grünen Tisch

Trubel gab es auch auf der anderen Seite der Porsche-Garage, als im Samstagsrennen Antonio Felix da Costa den zweiten Platz wegen einer 3-Minuten-Zeitstrafe verlor. Der Portugiese habe von der 33. Runde bis zum Rennende den vorgegebenen Mindestreifendruck (Hankook schreibt 1,2 bar vor) unterschritten. Felix da Costa fiel aus den Punkten und die Strafe versetzte Porsche einen ganz herben Dämpfer im Kampf um die Team-Weltmeisterschaft.

Laut Porsche habe es sich um einen schleichenden Plattfuß am rechten Vorderreifen gehandelt, der "aber so langsam war, dass er niemals sicherheitskritisch war, keinen Performance-Vorteil gebracht hat und klar von außen herbeigeführt wurde", wie Porsche-Leiter Modlinger gegenüber Motorsport-Magazin.com versicherte.

Felix da Costa betonte, dass er während der Rot-Unterbrechung, in der das Reifen-Problem auffiel, Grünes Licht vom Technischen Delegierten der FIA erhalten habe, weiterfahren zu können. Die FIA sah das später anders. Porsche kündigte einen Einspruch an, der zu einer Titelentscheidung vor dem FIA-Berufungsgericht führen könnte. Da die Team-WM nach dem Sonntagsrennen aber auch mit Felix da Costas möglichen 18 Punkten für P2 außer Reichweite war, dürften die Zuffenhausener nun zurückrudern.

Für Felix da Costa selbst könnte der Verbalangriff auf den Automobilweltverband noch ein Nachspiel haben. Der Ex-Meister schäumte am Samstag: "Das ist total enttäuschend. Ich glaube nicht, dass sie ausreichend technische Expertise haben, um eine Meisterschaft wie diese mit all diesen Herstellern und Fahrern zu regulieren. Die sind nicht gut genug. So simpel ist das."

Aufreger #5: NIO folgt Porsche in Richtung FIA-Berufungsgericht

Porsche war nicht der einzige Hersteller, der einen Gang vors FIA-Berufungsgericht androhte. Auch NIO 333 haderte mit der Entscheidung der Sportkommissare, Sergio Sette Camara vom Samstagsrennen zu disqualifizieren, und kündigte einen Einspruch an. Der Brasilianer hatte das Rennen auf dem fünften Platz beendet und NIO in der Team-Wertung vom zehnten auf den neunten Platz befördert.

Laut den Stewards sei NIO während der zweiten Rot-Phase mehrfach darauf hingewiesen worden, aus Sicherheitsgründen den Frontflügel an Sette Camaras Auto zu wechseln. NIO sei dieser Aufforderung durch den stellvertretenden Technischen Delegierten der FIA jedoch nicht nachgekommen. Unschön: Die Frage nach der Sicherheit zum Teil beschädigter Autos überschattete den WM-Titelgewinn von Jake Dennis hinter den Kulissen.

Glück im Unglück: Im Sonntagsrennen holte NIO-Fahrer Dan Ticktum mit P9 zwei Punkte und führte sein Team wieder an Mahindra vorbei auf den neunten Rang. Damit dürfte auch diese Einspruchsankündigung hoffentlich vom Tisch sein.

Aufreger #6: Ist der London-Kurs eines Final-würdig?

Zwei Safety-Cars und zwei Rennunterbrechungen mit roten Flaggen sorgten für ein ziemlich chaotisches Samstagsrennen auf dem Londoner Stadtkurs. Zum ersten Mal ließ die Rennleitung rote Flaggen schwenken, nachdem Nissan-Pilot Sacha Fenestraz heftig in die Streckenbegrenzung gedonnert war. Es dauerte geschlagene 22 Minuten, um die Banden zu reparieren. Für die zweite Rot-Phase kurz vor dem Rennende sorgte ein höchst unglücklich aussehender Massen-Stau, nachdem drei Autos die enge Fahrbahn komplett blockierten.

So beliebt der London ePrix mit dem einzigartigen Indoor/Outdoor-Kurs und den tollen Fan-Aktivitäten auch ist, bleibt hinter dem Streckenverlauf ein großes Fragezeichen. Die Fahrbahn ist an fast allen Stellen so eng, dass Überholmanöver kaum möglich sind. Zudem bietet London aufgrund seines Stop-And-Go-Layouts viele Möglichkeiten zur Energierückgewinnung, jedoch einen besonders niedrigen Vollgasanteil - das erhöht das Crash-Potenzial, weil die Fahrer eher die 'Brechstange' auspacken.

Eine deftige Energie-Reduktion (27 kWh) der FIA half nur bedingt. "Die Anlage ist toll, die Strecke wegen dieser Charakteristik eines Saisonfinales aber eigentlich nicht würdig", sagte uns ein Teamverantwortlicher, der namentlich nicht genannt werden wollte.

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Großes Chaos beim Formel-E-Finale in London, Foto: LAT Images

Aufreger #7: Langeweile-Rennen mit großer Verspätung

Viel Geduld benötigten die Zuschauer - angeblich 20.000 am Wochenende - auch am regnerischen Sonntag, als das letzte Rennen des Jahres mit 90 Minuten Verspätung begann. Strömender Regen sorgte für eine derart schlechte Sicht aus dem Cockpit heraus, dass an halbwegs sicheres Rennfahren zunächst nicht zu denken war. Die geduldigen Besucher harrten tapfer bis zum Rennende um 20:30 Uhr (!) am Abend aus.

'Belohnt' wurden die Fans mit dem wohl langweiligsten Rennen in der Geschichte der Formel E, in dem sich kein Fahrer einen Angriffsversuch traute. Es war eine absolute Prozession mit nur einem einzigen Positionswechsel in der Spitzengruppe, der Jake Dennis vorbei an Norman Nato gelang und ihm den elften Podestplatz (Formel-E-Rekord) im 16. Saisonrennen bescherte.

Die pitschnasse Piste bot faktisch nur eine einzige Fahrlinie. Diese zu verlassen, hätte höchstwahrscheinlich in der Mauer geendet. Immerhin: Den 22 Profi-Rennfahrern gelang es überraschend, die Autos durchweg auf der Strecke zu halten und keinen einzigen Unfall zu fabrizieren. Zahlreiche Experten hatten beim ersten Regen-Rennen mit dem neuen Gen3-Auto und den neuen Hankook-Allwetterreifen ein Crash-Festival vorausgesagt - und wurden eines Besseren belehrt.

Jean-Eric Vergne im DS Penske beim Formel-E-Rennen in London
Pünktlich zum Finale: Das erste Regen-Rennen mit den Gen3-Autos und neuen Hankook-Reifen, Foto: LAT Images

Aufreger #8: Große Spekulationen um 'Rückkehrer' Nyck de Vries

Der Auftritt der Hollywood-Stars Christoph Waltz und Orlando Bloom sorgte für großes Spektakel abseits der Rennstrecke. Ebenso der Besuch des ehemaligen Formel-E-Champions Nyck de Vries, der nach seinem kontrovers diskutierten Formel-1-Rauswurf durch das altbekannte Fahrerlager schlenderte. Zu seiner Zukunft wollte sich der Niederländer in keiner Weise äußern, stand auch nicht für Interviews parat.

Das hielt die Gerüchteküche nicht davon ab, überzukochen. De Vries zu Nissan? De Vries zu Maserati? Und was machte er wohl in der McLaren-Garage (faktisch seinem früheren Mercedes-Team)? Ein gefundenes Fressen für die wenigen britischen Boulevard-Medien vor Ort, die fröhlich vor sich hin spekulierten. Dabei ist es alles andere als sicher, dass de Vries 2024 in die Formel E zurückkehren wird. Die Gerüchte dürften jedenfalls noch eine ganze Weile anhalten, bevor etwas spruchreif ist.

Bestätigt ist dagegen die Trennung zwischen Jaguar und Sam Bird zum Saisonende. Der Brite sprach von einem "bittersüßen Abschied" und freute sich gleichzeitig auf die Zukunft, die bei einem anderen Formel-E-Team liegen könnte. Ebenso gehen Abt Sportsline und Robin Frijns nach langjähriger Freundschaft und nur einer gemeinsamen Saison in der Elektro-WM getrennte Wege - im Guten, wie beide Seiten versichern. Abt-CEO Thomas Biermaier brachte in bester PR-Manier sofort Sebastian Vettel als potenziellen Nachfolger ins Gespräch. Ob die Yellow Press das mitbekommen hat?

Nyck de Vries beim Formel-E-Rennen in London
Er ist wieder da: Nyck de Vries beim Formel-E-Finale in London, Foto: LAT Images