Als das "Worst-Case-Szenario" bezeichnete Auftaktsieger Jake Dennis (Andretti) den Austragungsort des zweiten Rennwochenendes der jungen Formel-E-Saison 2023. Wo manche eine politische Aussage vermuten könnten, beschreibt Dennis tatsächlich die Streckenverhältnisse in Saudi-Arabien, wo die Elektro-Rennserie in dieser Woche (27./28. Januar) ihre Saisonrennen Nummer 2 und 3 austrägt.

Vorsicht vor der Rennstrecke, Vorsicht vor dem Zeitplan! Aufgrund des saudischen Wochenendtaktes gehen die beiden Rennen schon an diesem Freitag und Samstag über die Bühne. Zum fünften Mal seit dem kritisch diskutierten Debüt im Jahr 2018 gastiert die Formel E auf dem permanenten Kurs im historischen Stadtteil Diriyah vor den Toren der saudi-arabischen Hauptstadt Riad.

Der 2,495 Kilometer lange Kurs mit seinen 21 Kurven gilt als anspruchsvollste Rennstrecke im Rennkalender. Abschnitte ähnlich den berühmten Esses in Suzuka wechseln sich mit engen Bergab-Passagen ab, dazu harte Bremszonen und vor allem der ständig auf den Asphalt wehende Wüstensand - kein Wunder, dass die Safety-Car-Wahrscheinlichkeit in Saudi-Arabien bei 100 Prozent liegt...

Der Double-Header in Diriyah wird zur 'Zerreißprobe' nach dem Saisonstart vor zwei Wochen im vergleichsweise zahmen Mexiko-City, wo Porsche-Antriebsstränge des Werksteams und vom neuen Kundenteam Andretti klar tonangebend waren. Die in der Formel E wichtige Energie-Rückgewinnung spielt in Saudi-Arabien eine untergeordnete Rolle, trotzdem erwartet die 22 Fahrer eine absolute fahrerische Herausforderung am Steuer.

Foto: LAT Images
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Wie kommen die Piloten mit dem weiterhin eher unbekannten Gen3-Auto und ebenfalls noch zu verstehenden Reifen des neuen Ausstatters Hankook zurecht? "Das wird hart", vermutete der Brite Dennis, der in Mexiko-City nach Belieben dominierte und mit einem gigantischen Vorsprung von 7,8 Sekunden die Ziellinie vor dem Zweitplatzierten Wehrlein im Werks-Porsche überquerte. "Saudi-Arabien wird ein echter Test, wer wirklich schnell und konkurrenzfähig ist."

Der Wüstensand entlang der Strecke lässt eigentlich nur eine optimale Fahrlinie zu - die Fahrer müssen also mit absoluter Präzision zu Werke gehen, um nicht auf den staubigen Bereichen die Kontrolle über ihre Autos zu verlieren. Mangels eines üppigen Vorrats an Ersatzteilen und auf der Jagd nach weiteren Fahrzeug-Daten gingen die Piloten schon in Mexiko äußerst behutsam zu Werke und versuchten noch mehr als sonst, Mauerkontakte zu vermeiden.

"Eine große Herausforderung wird sein, die Reifen zum Funktionieren zu bringen, vor allem wenn anfangs der Grip noch nicht so gut ist, weil Sand auf der Piste liegt", sagte der neue Porsche-Werksfahrer Antonio Felix da Costa, der 2018 in Saudi-Arabien für BMW das erste Rennen der Gen2-Ära gewann.

Fahrer und Team-Strategen erwartet mit dem Kurs entlang alter Festungsanlagen und einer historischen Stadtmauer ein absoluter Stress-Test. Neben den Strecken- spielen auch die Witterungs-Bedingungen eine essenzielle Rolle: Bei den 'Nachtrennen' um 20:00 Uhr Ortszeit unter künstlichem Flutlicht herrschen gänzlich andere Temperaturen als in den morgendlichen Trainings oder tagsüber zum Qualifying. Und als ob das nicht ausreichen würde, wurden die Fahrer bei der Ankunft am Mittwoch von einem Regenschauer in der Wüste begrüßt...

Die vier Rennwagen mit bis zu 350 kW (476 PS) Porsche-Power an der Hinterachse gelten nach den Plätzen eins (Dennis/Andretti), zwei (Wehrlein/Porsche), vier (Lotterer/Andretti) und sieben (Felix da Costa/Porsche) in Mexiko wenig überraschend als Favoriten für die nachfolgenden Saisonrennen. Wenngleich Porsche-Gesamtprojektleiter Florian Modlinger wohlwissentlich mahnte: "Die Nachtrennen in Diriyah mit einer ganz anderen Streckencharakteristik sind eine völlig neue Herausforderung. Die Performance der einzelnen Teams kann dort ganz anders aussehen."

Deutlichen Nachholbedarf haben die vier Autos mit einem Motor von DS Performance: DS Penske mit den Champions Stoffel Vandoorne und Jean-Eric Vergne sowie das Kundenteam Maserati mit dem Fahrerduo Maximilian Günther/Edoardo Mortara. Ende Januar 2022 siegte Mortara in Diriyah, nachdem er 2021 in Folge eines technischen Versagens an seinem Venturi-Mercedes im Training schwer verunfallt war.

"Vertrauen in das Team und das Auto ist sehr wichtig, wenn man ein gutes Ergebnis erzielen will, und ich habe volles Vertrauen in das Team", meinte der frühere DTM-Vizemeister. "Ich hatte das Glück, das letzte Rennen hier zu gewinnen, aber mit einem neuen Auto und neuen Reifen beginne ich dieses Wochenende fast bei Null." Teamkollege Günther wartet nach einem schwierigen Renntag in Mexiko-City noch auf seine erste Punkteausbeute mit Formel-E-Neueinsteiger Maserati.

Formel-E-Rückkehrer Abt-Cupra steht unterdessen die große Herausforderung ins Haus, einen neuen Fahrer am Steuer einlernen zu müssen. Nach der Verletzung von Robin Frijns, der sich in Mexiko-City das linke Handgelenk und vier Knochen in der Hand brach und dem ein wochenlanger Ausfall droht, nimmt Kelvin van der Linde vorerst dessen Platz ein. Der Südafrikaner kennt die Äbte aus zwei gemeinsamen DTM-Jahren, ist aber noch keinen Meter im Gen3-Auto gefahren.

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Vor seiner Rennpremiere in der Formel E sagte van der Linde, der ältere Bruder des amtierenden DTM-Champions Sheldon van der Linde: "Ich bin das neue Auto noch nie gefahren und habe nur gehört, dass es sehr speziell sein soll. Ich habe versucht, mich bestmöglich vorzubereiten: körperlich, mit der Analyse aller Daten und natürlich im Simulator. Die Ingenieure und Nico (Müller, Abt-Teamkollege) unterstützen mich großartig dabei."

Formel E in Saudi-Arabien: Alle Sieger seit 2018

JahrSiegerPlatz 2Platz 3
2018/19Antonio Felix da CostaJean-Eric VergneJerome D'Ambrosio
2019/20 ISam BirdAndre LottererStoffel Vandoorne
2019/20 IIAlexander SimsLucas di GrassiStoffel Vandoorne
2020/21 INyck de VriesEdoardo MortaraMitch Evans
2020/21 IISam BirdRobin FrijnsAntonio Felix da Costa
2021/22 INyck de VriesStoffel VandoorneJake Dennis
2021/22 IIEdoardo MortaraRobin FrijnsLucas di Grassi

Formel E 2023 in Diriyah: Die Rennstrecke

Keine andere Formel-E-Strecke beinhaltet so viele Kurven und Windungen. Insgesamt müssen die Piloten auf einer Rundenlänge von 2,495 Kilometern 21 Mal (zwölf Mal rechts, neun Mal links) einlenken. Die Fahrtrichtung ist im Uhrzeigersinn. Während die erste Hälfte des Stadtkurses aufgrund der vielen Kurven sehr technisch angelegt ist, besteht die andere Hälfte vor allem aus zwei längeren Geraden. Zum Überholen dürften sich die Geraden vor den Kurven 1, 18 und 21 anbieten.

Abt-Pilot Nico Müller erklärt: "Die Reifen stehen zwischen Kurve 1 und 17 permanent unter Belastung. Es folgt ein Richtungswechsel nach dem anderen. Da kommt der Hankook iON Race ganz schön ins 'Schwitzen', denke ich. Der Reifen wird lateral extrem belastet. Es geht darum, die Minimumspeeds hochzuhalten und das laterale Grip-Potenzial des Reifens auszunutzen. Man muss auf der Strecke mehrmals sehr hart anbremsen. Einmal in Kurve 18, etwas weniger bei der letzten Kurve und noch einmal in Kurve eins."

Foto: Formula E
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Saudi-Arabien: Die Wetter-Vorhersage

Die Teams und Fahrer erwarten vom 1. Freien Training am Donnerstagnachmittag bis zum zweiten Rennen am Samstagabend vorrangig bewölkte Wetterbedingungen mit einer geringen Regenwahrscheinlichkeit. Die Werte liegen während der Sessions zwischen 13 und 17 Grad je nach Sonneneinwirkung. Während Trainings und Qualifyings tagsüber auf dem Plan stehen, beginnen die beiden Rennen um 20:00 Uhr Ortszeit im Dunkeln. Dadurch entsteht ein massiver Unterschied vor allem bei den Streckentemperaturen.

Saudi-Arabien: TV-Übertragung und Zeitplan (Deutsche Uhrzeit)

Donnerstag, 26. Januar 2023
13:00-13:30 Uhr - Shakedown
16:00-16:30 Uhr - 1. Freies Training (Livestream ran.de, Formel E YouTube)

Freitag, 27. Januar 2023
11:30-12:00 Uhr - 2. Freies Training (Livestream ran.de, Formel E YouTube)
13:40-14:55 Uhr - Qualifying 1 (Livestream ran.de)
18:00-19:00 Uhr - Rennen 1 (Livestream ran.de, TV bei ProSieben)

Samstag, 28. Januar 2023
11:25-12:15 Uhr - 3. Freies Training (Livestream ran.de, Formel E YouTube)
13:40-14:55 Uhr - Qualifying 2 (Livestream ran.de)
18:00-19:00 Uhr - Rennen 2 (Livestream ran.de, TV bei ProSieben)

Formel E in Saudi-Arabien: Das sagen die deutschen Fahrer

Pascal Wehrlein (Porsche), Platz 2 in der Gesamtwertung mit 18 Punkten: "Wir sind super in die Saison gestartet. Ich bin sehr glücklich, wie es in Mexiko gelaufen ist. Vor dem Wochenende war sich keiner im Team so richtig sicher, wo wir mit unserer Performance im Vergleich zur Konkurrenz stehen. In Mexiko wurde das Team für die viele Arbeit belohnt, die es in unser neues Auto und in die Vorbereitung der Saison investiert hat. Jeder kann zufrieden sein. Jetzt müssen wir einfach hart weiterarbeiten. Im Laufe der Saison wird an den Autos sicherlich noch viel Potential gefunden werden und wir müssen sicherstellen, dass wir in diesem ganz normalen Prozess unsere Spitzenposition halten."

Andre Lotterer (Andretti), Platz 4 in der Meisterschaft mit 12 Punkten: "Wir haben einen guten Schwung aus Mexiko mitgenommen, und ich fahre sehr gerne in Saudi-Arabien. Das Layout ist eines der anspruchsvollsten, aber auch der besten, die wir im Formel-E-Kalender haben. Ich hatte in der Vergangenheit einige gute Ergebnisse in Saudi-Arabien, ganz zu schweigen von einem netten Kampf mit Jake (Dennis) dort, aber jetzt, wo wir im selben Team sind, können wir hoffentlich zusammenarbeiten, um wieder an der Spitze zu sein."

Maximilian Günther (Maserati), Platz 11 in der Meisterschaft mit 0 Punkten: "Ich kann es kaum erwarten, dieses Wochenende wieder hinter dem Lenkrad zu sitzen. Vom Cockpit aus ist das Gen3-Auto eine große Herausforderung. Es macht Spaß zu fahren, und ich freue mich darauf zu sehen, wie es sich in Diriyah, einer der technischsten Strecken im Kalender, schlägt. Die Mehrleistung wird auf den Geraden einen großen Unterschied machen und vor allem den zweiten Sektor spannend zu fahren machen. Seit Mexiko haben wir hart daran gearbeitet, unsere Leistung weiter zu verbessern, und wir wollen den nächsten Schritt machen, um für Spitzenpositionen zu kämpfen."

Rene Rast (McLaren), Platz 18 in der Meisterschaft mit 0 Punkten: "Ich freue mich sehr auf den Diriyah ePrix. Es ist eine meiner Lieblingsstrecken. Sie ist sehr schnell, besonders in den ersten beiden Sektoren, und es gibt viele mittelschnelle und schnelle Kurven. Ich hoffe, dass sich das positiv auswirkt und ich mehr Erfolg habe als beim Mexico City E-Prix, wo ich nicht das Wochenende hatte, das ich mir gewünscht hatte. Ich freue mich darauf, die Dinge in Diriyah umzukehren."