Die neuen Gen3-Autos der Formel E erhalten ab dem bevorstehenden Rennwochenende in Saudi-Arabien (27./28. Januar 2023) ein zusätzliches Sicherheits-Bremssystem. Das hat die FIA auf Anfrage von Motorsport-Magazin.com offiziell bestätigt.

Ab den beiden Rennen im Wüstenstaat am kommenden Freitag und Samstag soll das nachträglich verbaute Bremssystem an der Hinterachse im Falle von technisch bedingten Systemausfällen der Hard- oder Software als Notfall-Absicherung dienen.

"Um den Fahrern zu helfen, sich schnell mit der verbesserten regenerativen Bremsfähigkeit des Gen3-Autos vertraut zu machen und alle Vorurteile in Bezug auf das Fehlen hydraulischer Hinterradbremsen zu überwinden, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die Hinzufügung eines sekundären Bremssystems vorteilhaft wäre", heißt es im Statement des Welt-Motorsportverbandes.

Die neuen und bis zu 350 kW (476 PS) starken Gen3-Autos wurden zunächst ohne eine klassische hydraulische Bremse an der Hinterachse entwickelt und beim Saisonauftakt in Mexiko-City vor rund zwei Wochen eingesetzt. Nur auf der Vorderachse verfügt der Rennwagen über ein klassisches Bremssystem.

Zusätzliches Bremssystem für die Gen3-Autos der Formel E, Foto: LAT Images
Zusätzliches Bremssystem für die Gen3-Autos der Formel E, Foto: LAT Images

Unfälle und Probleme vor dem Saisonstart

Die Idee hinter dieser höchst kontrovers diskutierten Herangehensweise: Für die Verzögerung der Autos soll die Rekuperationsleistung eines neuen, 250 kW starken Einheits-Frontmotors der Firma Atieva/Lucid zuständig sein. Zusammen mit den 350 kW vom zweiten Motor an der Hinterachse sollen die Fahrer per Brake-by-Wire-System während eines Rennens bis zu 40 Prozent der verbrauchten Energie zurückgewinnen.

Das klang auf dem Papier revolutionär im Motorsport, sorgte in der Realität aber für Schwierigkeiten. Bei privaten Testfahrten und auch beim offiziellen Vorsaison-Test in Valencia Ende Dezember kam es mehrfach zu Unfällen, bedingt durch technische Soft- oder Hardware-Probleme im Antriebsstrang. Beim Saisonstart in Mexiko verunfallte Jaguar-Pilot Mitch Evans während eines Freien Trainings auf unübliche Art und heizte dadurch die Sicherheitsdebatte zusätzlich an.

FIA überwacht Einsatz der Notfall-Bremse

Beim Ausfall oder durch Fehlfunktionen von Systemkomponenten kann es passieren, dass die Autos nicht mehr wie geplant mittels der beiden Elektro-Motoren abgebremst werden. Und die Kraft der Hydraulik-Bremse an der Vorderachse ist offenbar nicht stark genug, um die Fahrzeuge ausreichend zu verzögern. In Valencia schlug Envision-Pilot Sebastien Buemi unsanft und offensichtlich unkontrolliert frontal in die Streckenbegrenzung ein.

Das zusätzliche Bremssystem darf laut Angaben der FIA "nur im Falle eines Problems des hinteren Antriebsstrangs verwendet werden, der die Fähigkeit zum regenerativen Bremsen verhindert". Spezialisten der FIA überwachen die Systeme in den Autos, um sicherzustellen, dass es nur in erlaubten Situationen benutzt wird. Andernfalls wäre die Nutzung der zusätzlichen Bremskraft an den Hinterrädern ein massiver Wettbewerbsvorteil.

Vorbereitungen aufs Rennwochenende in Saudi-Arabien laufen, Foto: LAT Images
Vorbereitungen aufs Rennwochenende in Saudi-Arabien laufen, Foto: LAT Images

300-kW-Shakedown als Test für Zusatz-Bremse

Vor dem offiziellen Beginn des Double-Headers in Saudi-Arabien haben alle Teams die Möglichkeit, sich mit dem zusätzlichen Bremssystem vertraut zu machen. Gelegenheit dazu gibt der Shakedown am Donnerstagmittag. Die Session wurde dazu um 15 Minuten auf die Dauer einer halben Stunde verlängert. Anstelle der sonst im Shakedown erlaubten Leistung von 110 kW, dürfen die Fahrer in Saudi-Arabien 300 kW Power in ihren Autos nutzen.

Ob die in der Formel E engagierten Hersteller im Vorfeld des Rennwochenendes die Gelegenheit hatten, das zusätzliche Hinterachsen-Bremssystem unter realen Bedingungen zu testen, wollte die FIA auf Anfrage nicht beantworten. Laut dem Portal The Race sollen Jaguar und DS die Bremsen ausprobiert haben. Eine Bestätigung seitens der beiden Hersteller habe es nicht gegeben.

Saudi-Arabien: 280 km/h Topspeed erwartet

Die seit vielen Wochen diskutierte Notfall-Bremse wurde für den Saisonstart in Mexiko-City nicht rechtzeitig fertig, kommt zum zweiten Saison-Event in Saudi-Arabien aber wie gerufen: Auf dem technisch höchst anspruchsvollen Kurs in Diriyah vor den Toren von Riad erwarten die Teams Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 280 km/h. Im Gegensatz zum Autodromo Hermanos Rodriguez in Mexiko gibt es kaum Auslaufzonen.

Die 22 Fahrer der Formel E dürften die Zusatz-Bremse begrüßen, während der eine oder andere Team-Verantwortliche nicht allzu glücklich ist, dass bereits von der FIA homologierte und damit als sicher eingestufte Rennautos nachträglich verändert werden.

"Das ist eine Verbesserung der Sicherheit", sagte Mexiko-Sieger Jake Dennis auf Nachfrage von Motorsport-Magazin.com. "Wenn alles normal läuft, werden sie (die Bremsen; d. Red.) nicht genutzt und wir können sagen, dass wir ohne Bremse an der Hinterachse fahren. Wenn ein Problem mit der Software auftritt, gibt das den Fahrern ein Level an Sicherheit, das Auto ordentlich stoppen zu können und nicht mit Highspeed in eine Mauer einzuschlagen."

Sebastien Buemi verunfallt bei Testfahrten in Valencia, Foto: LAT Images
Sebastien Buemi verunfallt bei Testfahrten in Valencia, Foto: LAT Images

Brems-Probleme auch beim Vorgänger-Rennauto

Die Gen2-Vorgängerautos hatten zwar hydraulische Bremsen an Vorder- und Hinterachse, doch in Verbindung mit dem Brake-by-Wire-System schlichen sich ebenfalls Fehler ein. Man denke nur an den schweren Trainings-Unfall von Daniel Abt 2020 in Mexiko-City, als der damalige Audi-Pilot mit rund 200 km/h mehr oder weniger ungebremst in die Mauern einschlug und per Hubschrauber in ein Krankenhaus geflogen werden musste. Immerhin schaffte es der heutige TV-Experte am selben Tag rechtzeitig zurück zum Rennen.

Anders erging es Edoardo Mortara 2021 in Saudi-Arabien, als der Italo-Schweizer im Kundenauto von Venturi während eines Trainings mit 140 km/h ungebremst in die Streckenbegrenzung donnerte und alle von einem Mercedes-Antriebsstrang angetriebenen Autos im Anschluss ein Startverbot für das Qualifying erhielten. Bei diesem Vorfall hatte unter anderem das Backup-Bremssystem des Gen2-Autos versagt. Der heutige Maserati-Pilot Mortara kam glücklicherweise ohne größere Verletzungen davon.