Der turbulente Transfermarkt in der Formel E für die Saison 2023 ist in vollem Gange, zahlreiche Bekanntgaben - größtenteils offene Geheimnisse - stehen noch aus. Darunter eine weitere interessante Option aus deutscher Sicht: Nach Informationen von Motorsport-Magazin.com aus unterschiedlichen Kreisen könnte es zu einer deutschen Doppel-Lösung beim US-Rennstall Andretti kommen!

Der Plan, der wegen einiger zu klärender Details offenbar noch nicht vertraglich fixiert worden ist: An der Seite des weiterhin gesetzten Stammfahrers Jake Dennis könnten sich die beiden Landsmänner Andre Lotterer und David Beckmann am Steuer des zweiten Boliden bei den angekündigten 18 Rennen abwechseln.

Damit würde der dreifache Le-Mans-Sieger nach seinem bestätigten Abschied vom Porsche-Werksteam der Formel E erhalten bleiben und der bisherige Andretti-Test- und Entwicklungsfahrer Beckmann 2023 seine Rennpremiere in der Elektro-Rennserie geben. Dazu muss man wissen: Andretti nutzte in der abgelaufenen Saison letztmalig die von BMW entwickelten Antriebsstränge und wechselt mit dem Beginn der Gen3-Ära ab 2023 für mindestens zwei Saisons zu Porsche.

Lotterer: "Bedeutet nicht, dass ich Formel E nicht mehr toll finde"

Dass Lotterer ein möglicher Kandidat für das zweite Cockpit neben dem starken Briten Dennis ist, hatte Motorsport-Magazin.com schon im Mai am Rande des Berlin ePrix exklusiv spekuliert, als der Kundendeal zwischen Porsche und Andretti bekanntgegeben wurde. Damals war allerdings zumindest offiziell noch nicht bestätigt, dass Lotterer Porsches Formel-E-Werksteam in Richtung des brandneuen LMDh-Projekts der Zuffenhausener verlassen würde.

Der für alle Seiten sinnvolle Wechsel mit Lotterers Rückkehr auf die Langstrecke ist inzwischen klar. Dabei wollte der 40-Jährige einen gleichzeitigen Verbleib in der Formel E nicht ausschließen. Beim Saisonfinale Mitte August in Seoul sagte Lotterer zu Motorsport-Magazin.com: "Das kann ich aktuell nicht sagen. Ich wollte wieder nach Le Mans zurück und die Herausforderung mit den neuen LMDh-Prototypen mitmachen. Das bedeutet nicht, dass ich die Formel E nicht mehr toll finde oder dass ich keine Lust mehr habe."

Lotterer: Perfekte Schnittstelle zwischen Werks- und Kundenteam?

Sollte Lotterer tatsächlich für Andretti-Porsche an den Start gehen und damit praktisch die perfekte Schnittstelle zwischen dem Werks- und dem neuen Kundenteam zum Beginn der neuen Gen3-Ära bilden, stellt sich die Frage, wie viele Formel-E-Rennen er bei möglichen Terminüberschneidungen mit seinen LMDh-Einsätzen verpassen würde.

Porsche engagiert sich mit seinem Prototypen schon ab 2023 sowohl in der WEC als auch in der IMSA-Serie. Lotterer zählt neben Kevin Estre, Michael Christensen, Laurens Vanthoor, Matt Campbell, Mathieu Jaminet, Dane Cameron und Felipe Nasr zum bisher vorgestellten Porsche-Werksaufgebot mit je zwei Autos in der WEC und IMSA. Hinzukommen weitere Kundenteams, deren Fahrer noch nicht bekannt sind.

Andre Lotterer mit Porsche-Teamkollege Pascal Wehrlein, Foto: Porsche AG
Andre Lotterer mit Porsche-Teamkollege Pascal Wehrlein, Foto: Porsche AG

Laudenbach: "Werksfahrer haben ein klares Fokus-Projekt"

Porsche-Motorsportchef Thomas Laudenbach wollte einem möglichen Doppelprogramm von Lotterer aus LMDh und Formel E keine grundsätzliche Absage erteilen, machte gegenüber Motorsport-Magazin.com in Seoul aber deutlich: "Wir haben eine klare Philosophie: Es ist wichtig, dass unsere Werksfahrer immer ein klares Fokus-Projekt haben. Das hat Priorität. Ob er (Lotterer) dann darüber hinaus noch etwas tut, weil es sich ergibt, das lassen wir offen. Natürlich nutzen wir gerne unsere Top-Piloten für möglichst viele Aktivitäten, aber dabei wollen wir keine Kompromisse machen. Wir wollen Rennen gewinnen."

Fragezeichen gibt es vor allem beim nächstjährigen WEC-Rennkalender, der wohl frühestens im September verkündet werden soll. Wie wir hören, soll es beim letzten internen Stand zu zwei Terminkollisionen mit der Formel E gekommen sein. Ein Szenario, das die FIA nach einigen schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit und dem Unmut mehrerer Fahrer eigentlich vermeiden wollte.

Klar ist nur, dass es zwischen der IMSA und der Formel E zu zwei Überschneidungen kommt: die 24 Stunden von Daytona mit dem Double-Header in Saudi-Arabien Ende Januar 2023 sowie das 6-Stunden-Rennen in Watkins Glen (Teil der 'Big Four') mit einem noch unbekannten Formel-E-Rennen Ende Juni. Lotterers genaues LMDh-Programm wurde bislang nicht kommuniziert.

Lotterer bei Andretti - davon könnte auch das in den vergangenen drei Jahren wenig erfolgreiche Porsche-Werksteam noch mehr profitieren. Doppel-Weltmeister Mercedes hat mit seinem Kundenteam Venturi gezeigt, wie wertvoll ein Austausch sein kann in der Formel E, in der strikte Testbeschränkungen herrschen und in der aufgrund eng gestrickter Zeitpläne an den Rennwochenenden jedes noch so kleine Daten-Schnipsel helfen kann. Die Porscheaner waren hingegen seit dem Werkseinstieg vor drei Jahren als Einzelkämpfer unterwegs.

Beckmann: Rennpremiere nach Entwicklungsprogramm?

Da für Lotterer das LMDh-Projekt glasklare Priorität hat, wäre Nachwuchspilot Beckmann bei Überschneidungen quasi der perfekte Vertreter. Der 22-Jährige begleitete Andretti seit dem Saisonbeginn als Test- und Entwicklungsfahrer zu den Rennen an die Strecke und ist mit den internen Abläufen vertraut. So hatte es einst auch Maximilian Günther, dessen Zukunft nach dem Nissan-Abschied offenbleibt, zum Stammfahrer in der Formel E geschafft.

Einziger Nachteil für Andretti: Bei einem Wechsel zwischen Lotterer und Beckmann hätte praktisch nur Teamkollege Dennis realistische Chancen auf die Weltmeisterschaft. Der 27-Jährige hat sich seit seinem Formel-E-Debüt 2021 mit BMW zu einem der stärksten Fahrer im Starterfeld gemausert und wiederholte seine Leistungen dieses Jahr beim umgekrempelten Andretti-Team: ein Sieg, vier Podestplätze und Platz sechs in der Meisterschaft, während Rookie-Teamkollege Oliver Askew nur Gesamt-16. wurde.

Nachwuchstalent David Beckmann, Foto: Dutch Photo Agency
Nachwuchstalent David Beckmann, Foto: Dutch Photo Agency

Beckmann genießt in der Motorsport-Szene große Wertschätzung, wie auch aktuell zu erkennen ist: Der gebürtige Iserlohner kann den Rest der laufenden Saison in der FIA Formel 2 - nach unseren Informationen ohne Budget - für Neueinsteiger Van Amersfoort Racing bestreiten. Der Rennstall aus den Niederlanden hatte bereits in Frankreich und Ungarn auf Beckmann zurückgegriffen, weil Stammfahrer Jake Hughes wegen einer Covid-Infektion passen musste. Und davor in Silverstone ersetzte er den gesperrten VAR-Stammpiloten Amaury Cordeel bei seinem aus Formel-3-Zeiten bekannten Team.

Am vergangenen Formel-2-Wochenende in Spa-Francorchamps glänzte Beckmann mit den Startplätzen 6 und 5 sowie den Plätzen 8 und 6 in den beiden Rennen, wobei er sogar Chancen auf einen Podestplatz hatte. Unterdessen will sich Beckmann-Vorgänger Hughes laut eigener Aussage verstärkt auf die Formel E fokussieren, der Brite schielt offenbar auf eines der wenigen noch vorhandenen Cockpits, etwa bei NIO. Zuletzt begleitete Hughes den Formel-E-Weltmeister sowie Aussteiger Mercedes als Test- und Entwicklungsfahrer und war beim Saisonfinale in Seoul dabei.