Beste Stimmung bei Mercedes nach dem vorletzten Rennwochenende der Formel-E-Saison 2022 in London: Nyck de Vries fuhr im Sonntagsrennen als Dritter auf das Podium und nahm Rache für den nachträglich verlorenen Podestplatz am Samstag. Und vor allem gelang Stoffel Vandoorne eine Aufholjagd vom 13. Startplatz bis auf die vierte Position, während all seine Titelgegner punktelos blieben!

Bei jetzt 36 Punkten Vorsprung auf den Gesamt-Zeiten Mitch Evans (technischer Ausfall in den Schlussminuten) und noch 58 zu vergebenen Zählern beim Saisonfinale in Seoul (13./14. August 2022) dürfte eigentlich nichts mehr anbrennen: Vandoorne steuert zielsicher auf den Gewinn der Weltmeisterschaft zu und würde damit auf seinen Teamkollegen de Vries folgen.

De Vries verweigert Mercedes-Teamorder

Doch ein Vorfall beim Mercedes-Werksteam dürfte noch für Diskussionen im Nachgang sorgen. Wie Teamchef Ian James bestätigte, verweigerte de Vries spät im Rennen eine Teamorder, die Plätze mit Vandoorne zu tauschen.

Als Jaguar-Fahrer Evans drei Runden vor Schluss auf Platz vier liegend direkt vor Vandoorne ausgefallen war, hatte Vandoorne als neuer Vierter ziemlich genau sieben Sekunden Rückstand zum Niederländer. Und nicht wenige Beobachter hatten erwartet, dass de Vries den Fuß vom Gaspedal nehmen würde, um seinen Teamkollegen vorbeizulassen und ihm damit drei weitere Punkte beizusteuern. Schließlich hat sich Noch-Weltmeister de Vries auch rechnerisch aus dem WM-Fight verabschiedet.

Dazu sollte es trotz einer Ansage vom Kommandostand aber nicht kommen, de Vries hatte beim Zieleinlauf 5,8 Sekunden Vorsprung auf den zweiten Mercedes-Silberpfeil.

Mercedes-Teamchef: "Werden wir noch mal diskutieren"

Zu Motorsport-Magazin.com sagte der deutschsprachige Brite James später: "Wir haben es gemacht (die Teamansage; d. Red.). Er hat es nicht durchgeführt. Es ist nicht immer so geradlinig wie man hofft. Er hat vielleicht gedacht, er könnte Platz zwei schaffen. Das wäre fürs Team auch ganz wichtig. Obwohl er auch ein Problem mit seinem Dämpfer hatte. Das war nicht ohne Risiko. Klar, die Lücke zwischen Nyck und Stoffel war sehr groß, aber wir werden das intern noch einmal diskutieren. Am Ende des Tages hat er leider keine Chance mehr auf den Fahrer-Titel."

Der Mercedes-Teamchef weiter: "Ich habe bislang kurz mit Nyck und auch Stoffel gesprochen. Stoffel hat als Rennfahrer auch eine gewisse Empathie. Das ist nicht immer so einfach. Wir werden das intern diskutieren und falls wir in Seoul in eine ähnliche Situation kommen, dann würden wir auch ein anderes Endergebnis erwarten."

Vandoorne zum Vorfall: "Ich bin nicht sauer"

Angesichts der großen Punktevorsprungs ist die unterlassene Teamorder womöglich zu verschmerzen. Vandoorne sagte zu Motorsport-Magazin.com: "Ob wir die Positionen hätten tauschen sollen? Wahrscheinlich gibt es viele Menschen, die kritisieren, dass wir es nicht gemacht haben. Ich bin nicht sauer darüber. Ich denke nicht, dass das ein Thema ist, über das man sprechen muss. Darüber würde ich wahrscheinlich nur nachdenken, wenn ich die Meisterschaft mit drei Punkten verliere."

De Vries: "Stoffel wird die Meisterschaft gewinnen"

Das wird sich in zwei Wochen nach den beiden Rennen in Seoul zeigen, einem neuen und unbekannten Kurs im Rennkalender. De Vries selbst sagte zum Vorfall bei ProSieben: "Stoffel ist in einer großartigen Position, die Meisterschaft zu holen. Er hat einen großen Vorsprung und beendete das Rennen vor all seinen Titelrivalen. Er hat einen komfortablen Vorsprung und wird die Meisterschaft in Seoul gewinnen. Ich denke also, dass wir sicherstellen müssen, als Team so viele Punkte wie möglich zu holen."

Auf die Frage, ob er in dieser Situation vor einer Teamorder gezittert habe, entgegnete der Niederländer kryptisch und im Wissen um nur noch zwei ausstehende Saisonrennen: "Ich denke, zu diesem Zeitpunkt ist es noch zu früh."

Mercedes steigt zum Saisonende werksseitig aus der Formel E aus. Neueinsteiger McLaren hat die Startlizenz übernommen und wird große Teile des Teams weiterbeschäftigen, inklusive Teamchef Ian James. De Vries hatte schon vor einer Weile deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er nicht für das McLaren-Team in der Formel E an den Start gehen wird. Vandoorne hält sich bedeckt, wird aber mit einem Wechsel zu Dragon im Zuge einer neuen Kooperation mit Hersteller DS (aktuell noch mit Techeetah) in Verbindung gebracht.