Nach der Würfel-Weltmeisterschaft in der vergangenen Saison, als 18 Fahrer mit Titelchancen zum Formel-E-Finale nach Berlin reisten, haben die Regeländerungen über den Winter deutlich Wirkung gezeigt. Dank des neuen Qualifying-Formats können sich in der Saison 2022 endlich wieder die konstantesten Fahrer Hoffnungen auf den Titel machen. Und der WM-Fight in diesem Jahr riecht nach einem echten Krimi!

Stoffel Vandoorne (Mercedes), Edoardo Mortara (Venturi), Mitch Evans (Jaguar) und Jean-Eric Vergne (DS Techeetah) gelten seit geraumer Zeit als heißeste Titelanwärter. Das vergangene Rennwochenende in New York hat die Gesamtwertung an der Spitze allerdings völlig auf den Kopf gestellt! Aus dem Top-Quartett sammelte Vandoorne mit Abstand die meisten Punkte und übernahm die Führung in der Meisterschaft. Ein rabenschwarzes Wochenende erlebte hingegen der zweifache Formel-E-Champion Jean-Eric Vergne, der in beiden Rennen auf dem temporären Kurs im Hafengebiet von Brooklyn punktlos blieb.

Nach 12 von 16 Saisonrennen hat der frühere Formel-1-Pilot Vandoorne mit 155 Punkten die Führung in der Tabelle zurückerobert - und Mortara mit 144 Zählern auf den zweiten Platz verwiesen. Jaguar-Veteran Evans lauert auf P3 mit 139 Punkten, während Vergne mit 128 Punkten schon einen deutlicheren Rückstand zur Spitze aufweist. Bei noch zwei ausstehenden Doppel-Rennen in London und Seoul sowie 116 zu vergebenen Punkten (25 pro Sieg, 1 für schnellste Rennrunde, 3 für Pole) erwarten Experten abermals einen Fight bis zum bitteren Ende.

Unter den vier Titelkandidaten spielten sich in New York kleinere und größere Dramen im Verlauf der beiden Renntage ab. Motorsport-Magazin.com analysiert die wichtigsten Ereignisse rund um den Meisterschaftskampf in der Formel-E-Saison 2022.

Stoffel Vandoorne - Platz 1, 155 Punkte (30 in New York)

  • Rennen 1: Von P2 auf P4
  • Rennen 2: Von P5 auf P2

Stoffel Vandoorne war in New York der große Gewinner aus dem Quartett der Titelanwärter und ergatterte mit Abstand die meisten Punkte. Am Samstag lag der Mercedes-Werksfahrer nach einem starken Qualifying auf Podestkurs, bis das Rennen wegen eines plötzlichen Regenschauers und den schweren Unfällen an der Spitze vorzeitig abgebrochen wurde. Zu den Crash-Piloten gehörte auch Vandoorne, der auf Platz vier liegend auf der regennassen Piste die Kontrolle verlor und in die bereits verunfallten Mortara und di Grassi rutschte.

Aufgrund der Rennabbruch-Regelung wurde der Belgier als Vierter gewertet, doch sein Mercedes erlitt durch den Crash einen beträchtlichen Schaden. Das Team musste ein neues Chassis einbauen, die Batterie austauschen und über Nacht praktisch ein komplett neues Auto hinstellen. Und damit nicht genug: Zwischen dem 3. Training am Sonntagmorgen und dem wenige Stunden später beginnenden Qualifying war auch noch ein Austausch des Kabelbaums nötig.

Mit dem runderneuerten Silberpfeil qualifizierte sich Vandoorne als Fünfter und startete im Gegensatz zum Samstag diesmal von der besseren Seite. Davon profitierte er ebenso wie von Andre Lotterers Start-Patzer, kassierte später im Rennen Alex Sims und kam knapp hinter Sieger Antonio Felix da Costa ins Ziel. Vandoorne fuhr in den vergangenen neun Rennen stets in die Punkte und eroberte mit den 'Big Points' die Gesamtführung zurück.

„Ich war schon immer konstant, aber in der vergangenen Saison war es mit dem anderen Qualifying-Format schwieriger, dies zu zeigen. In diesem Jahr ist es möglich, daraus ein bisschen mehr Kapital zu schlagen“, sagte Vandoorne. „Es geht so eng zur Sache, du kannst dir jetzt keine Ausrutscher mehr leisten, sondern musst immer abliefern. Daran will ich anknüpfen und dann sehen wir, ob es reicht oder nicht.“

In dieser Mauer endete Vandoornes Rennen am Samstag, Foto: LAT Images
In dieser Mauer endete Vandoornes Rennen am Samstag, Foto: LAT Images

Edoardo Mortara - Platz 2, 144 Punkte (5 in New York)

  • Rennen 1: Von P9 auf P9
  • Rennen 2: Von P21 auf P10

Als Spitzenreiter nach New York gereist, erlebte Edo Mortara ein völlig gebrauchtes Wochenende garniert mit mehreren Rückschlägen. Wie im Samstagsrennen, als der Venturi-Pilot nach dem Abbruch zunächst als Fünfter gewertet wurde – bis er nachträglich eine 5-Sekunden-Strafe wegen zu hoher Geschwindigkeit unter Full Course Yellow kassierte und auf Platz neun zurückfiel. Das kostete Mortara immerhin acht WM-Punkte.

Noch schlimmer begann der Sonntag, als Mortara das Qualifying wegen eines Problems mit dem Brake-by-Wire-Bremssystem seines Autos komplett verpasste und das Rennen aus der letzten Reihe aufnehmen musste. Ein Debakel für den früheren DTM-Vizemeister! Dass der einst launische Mortara deutlich gereift ist, stellte er mit einer starken Aufholjagd vom 21. bis auf den zehnten Platz unter Beweis. Auf dem Weg zum letzten Platz in den Punkterängen profitierte der Italo-Schweizer von einem späten Crash der Alt-Rivalen Lucas di Grassi und Jean-Eric Vergne.

Zwei Extra-Punkte kassierte Mortara in New York zusätzlich für die schnellsten Rennrunden in beiden Läufen – das war zuvor noch keinem Fahrer in der Geschichte der Formel E gelungen. Dennoch war das Wochenende ein Schlag ins Kontor für den zuletzt so stark aufgelegten Titelanwärter, der zwei der vier vorangegangenen Rennen gewann (Berlin, Marrakesch) und viermal in Folge aufs Podium fuhr. „Am Sonntag ging es um Schadensbegrenzung“, sagte Venturi-Teamchef und Ex-Rennfahrer Jerome D'Ambrosio. „Wir wissen, dass wir die Performance und das Potenzial haben, vorne zu fahren.“

Von wegen Attacke: Gebrauchtes Wochenende für Edo Mortara, Foto: LAT Images
Von wegen Attacke: Gebrauchtes Wochenende für Edo Mortara, Foto: LAT Images

Mitch Evans - Platz 3, 139 Punkte (15 in New York)

  • Rennen 1: Von P14 auf P11
  • Rennen 2: Von P6 auf P3

Schadensbegrenzung auf hohem Niveau betrieb Mitch Evans nach der Nullrunde im ersten New Yorker Rennen. Am Sonntag rappelte sich der Neuseeländer auf und stürmte vom sechsten Startplatz bis aufs Podium. Der Weg zu Platz drei war mit Stolpersteinen gepflastert, namentlich Nyck de Vries. Der amtierende Mercedes-Weltmeister ging gegen Evans mehrfach hart zur Sache, ein Crash hätte wohl niemanden überrascht.

Als „dumme und lahme Manöver“ beschrieb Evans später die Angriffslustigkeit seines Kontrahenten, der Mercedes-Teamkollege Vandoorne mit einem Sieg im Zweikampf indirekte Schützenhilfe geleistet hätte. Ohne de Vries im Weg wäre für Evans vielleicht sogar noch mehr herausgesprungen. „Ich hatte ein Auto für den Sieg“, war der Neuseeländer, der sich im Duell laut eigener Aussage einen schleichenden Plattfuß einhandelte, überzeugt.

Die Aufholjagd von Teamkollege Sam Bird vom 16. bis auf den fünften Platz war ein weiterer Beleg für die Pace des Jaguar-Boliden, der sich auf den klassischen Stadtstrecken am wohlsten fühlt. Nicht umsonst regten sich Evans und Bird über das abgebrochene Rennen am Samstag auf, wodurch ihnen bei eigentlich noch 7:30 zu fahrenden Minuten die Chance auf Punkte verwehrt blieb. Immerhin rückte Evans in der Fahrer-WM vom vierten auf den dritten Rang nach vorne.

Nächster Podestplatz für Mitch Evans in New York, Foto: LAT Images
Nächster Podestplatz für Mitch Evans in New York, Foto: LAT Images

Jean-Eric Vergne - Platz 4, 128 Punkte (0 in New York)

  • Rennen 1: Von P16 auf P18
  • Rennen 2: Von P12 zu Ausfall

Er war in New York der große Verlierer im Titelkampf der Formel E: Jean-Eric Vergne, der an gleicher Stelle in der Vergangenheit seine beiden Titelgewinne erobert hatte. Beim Franzosen lief auf dem Hafenkurs in Brooklyn so ziemlich alles schief! Es begann schon mit dem 1. Qualifying am Samstag, in dem Vergne auch durch Pech mit regnerischen Verhältnissen nicht über den 16. Startplatz hinauskam. In Folge einer unverschuldeten Kollision nach dem Rennstart, einem ungeplanten Besuch in der Boxengasse und am Ende Platz 18 war seine Laune entsprechend.

Und es sollte nicht besser werden für JEV, der als Meisterschaftszweiter nach New York gereist war. Im Sonntags-Qualifying konnte er seine Rundenzeit wegen eines Mauereinschlags nicht verbessern: nur Startplatz zwölf für den früheren Formel-1-Fahrer. Im nachfolgenden Rennen ging es immerhin etwas nach vorne, Vergne belegte den zehnten Platz, bis ihm in der vorletzten Runde sein alter Rivale Lucas di Grassi in die Quere kam.

Eine Kollision der beiden Formel-E-Größen in der T6/7-Kurvenkombination sorgte für den vorzeitigen Ausfall. Laut einem Medienbericht soll Vergne nach dem Rennen verärgert die Anhörung der Stewards verlassen haben, noch bevor die Entscheidung kommuniziert wurde. Die Rennleitung sah keinen Hauptschuldigen beim Crash, was Vergne mit Blick auf Streckengegner di Grassi offenbar anders beurteilte... „Ein dunkles Wochenende“, schrieb Vergne später auf Instagram. „Alles, was schieflaufen konnte, ging auch schief.“

Bittere Nullrunde für Jean-Eric Vergne in New York, Foto: LAT Images
Bittere Nullrunde für Jean-Eric Vergne in New York, Foto: LAT Images