London calling! Die Formel E reist zum vorletzten Rennwochenende der Saison 2022 in die britische Hauptstadt. Zwei Rennen am Samstag und Sonntag (30./31. Juli 2022 jeweils ab 16:00 Uhr deutscher Zeit) warten auf dem wohl verrücktesten Kurs im Rennkalender, der mitten durch eine überdachte Messehalle führt und wo die Höhenunterschiede mit Rampen überbrückt werden.

Ähnlich verrückt geht es im Kampf um die Formel-E-Weltmeisterschaft 2022 zu. Der Double-Header in New York vor zwei Wochen hat die Gesamtwertung an der Spitze völlig auf den Kopf gestellt! Aus dem Titelanwärter-Quartett sammelte Stoffel Vandoorne (Mercedes) mit Abstand die meisten Punkte und übernahm die Führung in der Meisterschaft. Ein rabenschwarzes Wochenende erlebte hingegen der zweifache Formel-E-Champion Jean-Eric Vergne (DS Techeetah), der in beiden Rennen auf dem temporären Kurs im Hafengebiet von Brooklyn punktlos blieb.

Nach 12 von 16 Saisonrennen hat der frühere Formel-1-Pilot Vandoorne mit 155 Punkten die Führung in der Tabelle zurückerobert - und Edoardo Mortara (Venturi) mit 144 Zählern auf den zweiten Platz verwiesen. Jaguar-Ass Mitch Evans lauert auf P3 mit 139 Punkten, während Vergne mit 128 Punkten schon einen deutlicheren Rückstand zur Spitze aufweist.

Bei noch zwei ausstehenden Doppel-Rennen in London und Seoul (13./14. August 2022) sowie 116 zu vergebenen Punkten (25 pro Sieg, 1 für schnellste Rennrunde, 3 für Pole) erwarten Experten einen Fight bis zum bitteren Ende. Mit Vandoorne, Mortara, Evans und Vergne stehen die WM-Anwärter praktisch fest - faktisch werden allerdings noch 25 Prozent der Gesamtpunkte vergeben. Ob London, das 2021 bei der Premiere auf dem neuen Kurs mit den Siegern Jake Dennis und Alex Lynn durchaus Überraschungen erlebte, für eine unerwartete Wendung sorgen wird?

In London erfolgt der Rennstart mitten in einer Messehalle, Foto: Porsche AG
In London erfolgt der Rennstart mitten in einer Messehalle, Foto: Porsche AG

Auf dem im Vergleich zum Vorjahr leicht überarbeiteten Kurs, der nur wenige Überholmöglichkeiten bietet und wo das Energie-Management eine höchst untergeordnete Rolle spielt (deshalb erhöhtes Crash-Potenzial!), geht es für die Titelaspiranten nicht nur um die 'Big Points', sondern auch darum, überhaupt die Ziellinie zu sehen.

Davon kann Mercedes-Werksfahrer Vandoorne ein Liedchen singen: 2021 wurde der von der Pole Position gestartete Belgier unsanft von Oliver Rowland von der Strecke befördert. Dass der Mercedes in London schnell ist, bewies Teamkollege Nyck de Vries. Mit zwei zweiten Plätzen meldete er sich im Titelkampf zurück und eroberte wenig später beim Finale in Berlin die Formel-E-Weltmeisterschaft.

In London kann Vandoorne auf seine Qualifying-Qualitäten bauen - zehnmal fuhr er diese Saison in die Top-8 der Startaufstellung! Bei der Frage nach dem WM-Titel hielt sich Vandoorne wie gewohnt vornehm zurück: "Es sind noch vier Rennen zu fahren, und der WM-Kampf spitzt sich immer weiter zu, aber das wird meine Einstellung zum Wochenende nicht wirklich verändern. Wir müssen einfach so weitermachen, wie wir es seit Beginn des Jahres getan haben, nämlich in jeder Session Leistung bringen und versuchen, so viele Punkte wie möglich zu holen."

Diese Doppel-Haarnadel gibt es 2022 nicht mehr in London, Foto: LAT Images
Diese Doppel-Haarnadel gibt es 2022 nicht mehr in London, Foto: LAT Images

Während Vandoorne nach den starken Resultaten in New York mit breiter Brust ins Vereinigte Königreich (Reisepass nicht vergessen!) fliegen kann, gibt es bei Herausforderer Mortara einiges an Nachholbedarf. Der Venturi-Pilot war mit vier Podestplätzen in Folge nach New York gereist, erlebte wegen Strafen und technischen Problemen aber ein mittelschweres Debakel und holte nur fünf Punkte.

"Unsere Pace in der zweiten Hälfte dieser Saison war stark und wir haben gezeigt, dass wir eines der schnellsten und energieeffizientesten Autos im Feld haben", sagte der frühere DTM-Vizemeister. "Da das Ende der Saison in Sicht ist, ist es Zeit für den Endspurt, also lasst uns sehen, was wir erreichen können."

Ob Mortara beim Titelangriff auf Schützenhilfe von Teamkollege Lucas di Grassi bauen kann? Der Brasilianer bestreitet wohl sein vorletztes Rennwochenende in der ersten und letzten Saison für Venturi, Motorsport-Magazin.com berichtete schon vor Monaten von einem voraussichtlichen Wechsel zu Mahindra. Der Ex-Champion ist Mortara deutlich unterlegen, aber immer für eine Überraschung gut.

So wie letztes Jahr in London, als di Grassi - damals noch in Diensten von Audi - mit einem Boxengassen-Coup beinahe für eine Sensation gesorgt hätte. Während einer Safety-Car-Phase verschaffte er sich einen Zeitvorteil mittels einer Boxengassen-Durchfahrt, weil dieser Weg schneller war als der auf der Strecke. Plötzlich lag di Grassi in Führung und beinahe wäre der Genie-Streich aufgegangen. Weil die FIA aber hastig feststellte, dass die Räder seines Audis beim kurzen 'Boxenstopp' nicht vollständig zum Stillstand gekommen waren, kassierte er eine Strafe und wurde wegen Ignorierens schwarzer Flaggen disqualifiziert.

Di Grassis letztjährige London-Action beförderte übrigens ausgerechnet Mitch Evans aufs Podium - der einzige Fahrer aus dem Kreis der diesjährigen Titelanwärter, der unter dem Dach der ExCeL-Messehalle aufs Podest klettern konnte. Der Jaguar-Pilot rechnet sich erneut Titelchancen aus und nimmt das Heimspiel des Sportwagenherstellers wie gewohnt mit Selbstbewusstsein in Angriff. "Ich bin fest entschlossen, die Lücke zur Tabellenspitze der Fahrerwertung zu schließen und hoffentlich bei unserem Heimrennen ganz oben auf dem Podium zu stehen", so Evans, der in New York seinen sechsten Podestplatz 2022 feierte.

Deutliche Höhenunterschiede zwischen In- und Outdoorbereich, Foto: LAT Images
Deutliche Höhenunterschiede zwischen In- und Outdoorbereich, Foto: LAT Images

Mit reichlich Selbstvertrauen ist üblicherweise auch Titelaspirant Jean-Eric Vergne ausgestattet, doch die Nullrunde in New York (Platz 18 in Rennen 1, Ausfall in Rennen 2 nach Kollision mit di Grassi) dürfte Spuren hinterlassen haben - ein schwerer Rückschlag für den Techeetah-Star auf seinem Weg zum dritten Formel-E-Titel. "Ein dunkles Wochenende", schrieb Vergne später auf Instagram. "Alles, was schieflaufen konnte, ging auch schief."

Mit Blick auf die letztjährigen Team-Ergebnisse in London dürfte sich Monsieur Vergnes Laune nicht zwingend verbessern. Er selbst und Teamkollege Antonio Felix da Costa gingen in den Rennen komplett leer aus. Dennoch bleibt DS Techeetah eine Kraft, mit der man immer rechnen muss. Siehe New York, wo Felix da Costa am Sonntag zu seinem ersten Sieg seit gut einem Jahr stürmte - und dem ersten Techeetah-Sieg 2022! Der Portugiese will Vergne weiterhin im Titelkampf unterstützen, obwohl der Abstand der beiden Teamkollegen auf 28 Punkte (Vergne: 128 - Felix da Costa: 100) geschrumpft ist.

Formel E in London: Alle bisherigen Sieger und Podien

JahrSiegerP2P3
2021 IJake DennisNyck de VriesAlex Lynn
2021 IIAlex LynnNyck de VriesMitch Evans

Formel E in London: Die Rennstrecke

Der London ePrix wartet mit der verrücktesten Rennstrecke im gesamten Rennkalender auf: Das Rennen führt mitten durch die ExCeL-Messehalle. 35 Prozent des temporären Kurses im Osten Londons sind überdacht, inklusive der Start/Ziel-Geraden sowie der Boxengasse. Künstliche Flutlichter im Innenbereich sorgen für knifflige Sichtverhältnisse. Der Betonboden in der Halle wurde mit einer speziellen Substanz behandelt, um den Grip zu verbessern. Die Höhenunterschiede zwischen Indoor- und Outdoor-Bereich werden mit Rampen überbrückt.

Der 2,141 km lange Kurs ist in dieser Saison rund 100 Meter kürzer als bei seiner Premiere im Vorjahr. Vom Umbau betroffen sind die Kurven 10 und 11, die bislang zwei aufeinanderfolgende Haarnadel-Kurven waren. An ihre Stelle tritt nun eine Schikane, auf die nach einer kurzen Geraden in den unveränderten Kurven 12 und 13 eine weitere Schikane folgt. Die Gesamtanzahl der Kurven bleibt bei 22, die Strecke fährt sich durch die Veränderung jedoch flüssiger.

In den beiden Rennen wird eine Renndistanz von rund 37 Runden erwartet, der Vollgasanteil liegt bei 18 Sekunden. Den Topspeed erreichen die Autos mit 194 km/h vor Kurve 1, was gleichzeitig als die beste Überholstelle angesehen wird. Die Aktivierungszone für den Attack-Mode befindet sich außen in Kurve 16.

Das Energie-Management spielt in London eine sehr untergeordnete Rolle: Der Kurs bietet aufgrund des Stop-And-Go-Layouts viele Möglichkeiten zur Energierückgewinnung, jedoch einen besonders niedrigen Vollgasanteil. Überholmanöver sind ohnehin ein Kunststück und aufgrund der niedrigen Energie-Sensitivität drohen Prozessionsfahrten mit hohem Crash-Potenzial, weil die Fahrer gezwungen sind, die 'Brechstange' auszupacken.

Auf keiner anderen Rennstrecke sind Qualifying und Track Position deshalb wichtiger. Um das Energie-Management zumindest etwas mehr in den Vordergrund zu rücken, wird die maximal erlaubte Energiemenge von 52 auf 46 kWh reduziert.

Das für 2022 veränderte Streckenlayout beim London ePrix, Foto: Formel E
Das für 2022 veränderte Streckenlayout beim London ePrix, Foto: Formel E

London ePrix: Die Wettervorhersage

Typisch britisches Wetter? Nicht so beim Rennwochenende der Formel E! Von Freitag bis Sonntag bewegen sich die Temperaturen zwischen 20 und 27 Grad. Die Regenwahrscheinlichkeit beträgt tagsüber und zu den Rennstarts jeweils um 15:00 Uhr Ortszeit (16:00 Uhr deutsche Zeit) maximal 15 Prozent. Wirklich nass werden soll es in der Nacht von Samstag auf Sonntag, sodass die Fahrer im Training und Qualifying am Sonntagmorgen mit einer teilweise nassen Rennstrecke konfrontiert werden könnten. 2021 sollte es ebenfalls trocken bleiben, trotzdem zeigte sich Regen kurzzeitig im Rennen.

Formel E 2022 in London: TV-Übertragung und Zeitplan (Deutsche Zeit)

Tag Uhrzeit (MEZ) Session Übertragung
Fr, 29.07.2022 18:15-18:45 Freies Training 1 ran.de, YouTube Formel E
Sa, 30.07.2022 10:00-10:30 Freies Training 2 ran.de, YouTube, Formel E Website, Eurosport Player
Sa, 30.07.2022 11:40-12:55 Qualifying 1 ProSieben MAXX, ran.de, Eurosport Player
Sa, 30.07.2022 16:00-17:00 Rennen 1 (Live) ProSieben, ran.de, Eurosport Player
Sa, 30.07.2022 17:15-18:15 Rennen 1 (Wiederholung) ORF 1
So, 31.07.2022 09:30-10:00 Freies Training 3 ran.de, YouTube, Formel E Website, Eurosport Player
So, 31.07.2022 11:40-12:55 Qualifying 2 ProSieben MAXX, ran.de, Eurosport Player
So, 31.07.2022 16:00-17:00 Rennen 2 ProSieben, ran.de, Eurosport Player, ORF Sport+

London: Das sagen die deutschen Formel-E-Fahrer

Pascal Wehrlein (Porsche, P9 in der Meisterschaft mit 63 Punkten): "London ist in der Tat eine der interessantesten Strecken im Kalender. Spannend wird es bei Regen, wenn es innen trocken und außen nass ist. Generell ist es ein eher langsamerer Kurs mit vielen engen Kurven. Da braucht man ein etwas anderes Setup für das Auto. Doch wir sind auf alles vorbereitet und werden hoffentlich ein erfolgreiches Wochenende haben."

Andre Lotterer (Porsche, P10 in der Meisterschaft mit 63 Punkten): "Wir hatten eine gute Pace in London und ich hoffe, dass wir auch diesmal wieder um eine Topplatzierung kämpfen können. Wir werden jedenfalls hart dafür arbeiten. Wir haben ein gutes Auto und sind voll motiviert. Trotzdem wird es sicherlich ein hartes Wochenende werden."

Maximilian Günther (Nissan, P19 in der Meisterschaft mit 2 Punkten): "London ist eine fantastische Strecke, es ist eine coole Herausforderung mit dem Indoor- und Outdoor-Layout, ich habe die Erfahrung letztes Jahr wirklich genossen. Die an der Strecke vorgenommenen Änderungen sollten das Rennen im mittleren Teil der Runde verbessern. Es gibt einige enge Kurven und einige schnellere Passagen, aber vor allem ist es sehr eng. Die Strecke ist super für die Formel E, vor allem im Qualifying, wo man voll am Limit und so präzise sein muss, um in den Flow der Strecke zu kommen."