Von der umjubelten Pole Position zurück auf den harten Boden der Realität: Als Nick Cassidy im Sonntags-Qualifying der Formel E in New York soeben zu seiner zweiten Pole in Folge gestürmt war, wusste der Envision-Pilot noch nichts von der Strafe, die ihn den ersten Startplatz kosten und ans Ende des Starterfeldes zurückwerfen würde.
Nach dem Sieg am Samstag im vorzeitig abgebrochenen Rennen schickte sich Cassidy an, am Sonntag nachzulegen. Der Neuseeländer setzte sich erneut im Qualifying durch - dann der Schock! Vor laufender TV-Kamera musste er hören, dass er eine Strafversetzung um 30 Plätze in der Startaufstellung kassiert. Cassidy wirkte verdutzt und zunächst war nicht klar, ob er über dieses Dilemma schon im Vorfeld Bescheid wusste.
Cassidy: "Da merkte ich, dass etwas im Argen war"
Jetzt klärte der 27-Jährige auf: Er wusste nichts von der Bestrafung, als er nach seinem Pole-Erfolg aus dem Auto stieg! "Ich habe es während eines TV-Interviews erfahren", sagte Cassidy in einer von der Formel E organsierten Online-Presserunde am Mittwoch zu Motorsport-Magazin.com. "Ich hörte zwar etwas davon, dass die Möglichkeit bestand. An mich wurde aber nichts kommuniziert, weil das Team darauf bedacht war, dass sich mein Ingenieur und ich auf das Qualifying konzentrieren."
Einen Hinweis auf das wenig später folgende Strafen-Drama, das ihm praktisch jegliche Chancen auf einen weiteren Sieg in New York nahm, erhielt Cassidy bei einem flüchtigen Blick in Richtung Envision-Teammanager Leon Price: "Ich sah ihn von Weitem, als ich gerade TV-Interviews gab. Er sah nicht zu 100 Prozent happy aus und da merkte ich, dass etwas im Argen war."
Cassidy: "Das Team hat's richtig gemacht"
Ob es die richtige Entscheidung des Teams gewesen sei, Cassidy im Vorfeld des Qualifyings nicht auf die Strafe im Zuge einer ausgetauschten Batterie (+20 Strafplätze) und eines Kühlers (+10 Strafplätze wegen Überschreitung des erlaubten Kontingents) hinzuweisen? Auch die Medien wurden während des laufenden Qualifyings nicht informiert, laut FIA, weil "die Strafe erst ausgesprochen werden kann, wenn die Startaufstellung festgelegt ist".
Der Motorsport-Tausendsassa auf unsere Nachfrage hin: "Das Team hat's richtig gemacht. Wir haben das Qualifying wie üblich in Angriff genommen und wurden mit drei Punkten (Extra-Punkte für die Pole; d. Red.) belohnt. Wir hatten keine Ablenkung und haben einfach weiter Gas gegeben. Außerdem war es richtig, mir nichts zu sagen, weil wir glaubten, dass wir diese Strafe nicht verdient hatten. Die Umstände waren unfair und sie haben auch dagegen angekämpft."
Envision-Antrag ohne Erfolg - "Rennen wurde ihm gestohlen"
Was Cassidy damit meinte: Nachdem das Envision-Team unter der Leitung von Sylvain Filippi die Nachricht über die bevorstehende Strafe von den Stewards um 08:53 Uhr Ortszeit erhalten hatte - 13 Minuten nach dem Beginn des Qualifyings - wurde eifrig nach einer Lösung gesucht, um der Misere zu entgehen. Um 10:31 Uhr ging ein Antrag auf Überprüfung des Falles unter Vorlage neuer Sachverhalte bei der Rennleitung ein in einem letzten Versuch, die Strafe abwenden zu können.
Ein von einem Zuschauer aufgenommenes Video sollte beweisen, dass nicht Cassidys Mauereinschlag im Samstagsrennen den Wechsel der Batterie und des Kühlers nötig machte, sondern die nachfolgenden Kollisionen mit Lucas di Grassi und Stoffel Vandoorne, die auf der regennassen Piste unkontrolliert in den havarierten Envision-Boliden gerutscht waren.
Die Stewards gewährten den Antrag und sichteten das zuvor unbekannte Material, sahen aber von einer Änderung der Entscheidung ab, da das Video keine neuen Informationen enthielt, "die zum Kern der Entscheidungsgrundlage führen. Die Entscheidung basierte ausschließlich auf der Tatsache, dass das Batteriepaket und der RESS-Kühler gewechselt wurden".
Teamchef Filippi schrieb später auf Twitter: "Diese Teile wurden von anderen Autos beschädigt, die in seines fuhren, als Nick wegen des sintflutartigen Regens, der die Spitzengruppe überraschte, bereits von der Strecke abgekommen war. Ich finde es nicht richtig, bestraft zu werden, wenn man überhaupt nicht für die Situation verantwortlich ist. Es tut mir sehr leid für Nick, der wieder einmal eine unglaubliche Pace gezeigt hat, aber sein Rennen wurde ihm gestohlen."
Zuschauer haben ein Herz für Hinterherfahrer Cassidy
Ohne Möglichkeit auf einen Protest gegen die Entscheidung der Sportkommissare, musste Cassidy das Sonntagrennen auf dem Kurs im Hafengebiet von Brooklyn vom 22. und damit letzten statt vom 1. Startplatz aufnehmen. Zu allem Übel musste er kurz nach dem Rennstart per Reglement auch noch eine Durchfahrtstrafe absolvieren, weil er die vollen 30 Strafplätze nicht antreten konnte.
So jagte Cassidy dem Rest des Feldes mit großem Rückstand hinterher und musste sich am Ende mit dem 15. Platz begnügen. Immerhin: Die Zuschauer hatten ein Herz für den umjubelten Samstagssieger und feuerten ihn von den Tribünen mit jeder Runde immer frenetischer an. "Das war sehr cool", freute sich Cassidy über den Zuspruch.
Das Sonntagsrennen nutzten Envision und Cassidy als Übung. "Wir haben es sehr ernst genommen", erklärte er. "Wenn du in der Formel E in Clean Air fährst, ist es sehr schwierig, ohne den Windschatten fahren zu müssen. Da Costa (Pole-Setter und Rennsieger; d. Red.) war unsere Referenz. Er war vorne und hatte freie Fahrt. Ähnlich wie ich, aber mit einer halben Runde Rückstand. Wir wollten den Speed und die Balance checken."
Cassidy: "Leider fehlten ein paar Teile"
Dabei war Cassidy nach dem schweren Unfall im Rennen 24 Stunden zuvor mit einem stark überarbeiteten Auto, das von einem Audi-Antriebsstrang angetrieben wird, unterwegs. "Das Heck war anders und auch die Einstellungen", verriet Cassidy. Warum das, nachdem er am Samstag ja pfeilschnell unterwegs war? "Das war nicht meine Wahl. Leider fehlten ein paar Teile. Aber es hat ja trotzdem funktioniert."
Cassidys Fazit nach seinem ersten Sieg in der Formel E und den Pole Positions Nummer zwei und drei seiner Karriere: "Mit der Performance bin ich extrem zufrieden. Das macht einen großen Teil aus, wie ich auf das Wochenende zurückblicke. Der erste Sieg in der Formel E ist ein Bonus. Ein kleiner Teil von mir ist enttäuscht über den Sonntag, aber insgesamt kann ich mich nicht allzu sehr beschweren."
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