Ein Fußballspiel dauert 90 Minuten, wenn es einmal länger dauert maximal 120; genauso lange dauert ein Formel 1-Rennen, bevor es wegen Zeitüberschreitung abgebrochen wird. Genau dazwischen liegt die Länge eines durchschnittlichen Kinofilms oder des Großen Preises von Ungarn 2006, wobei dieser laut Norbert Haug ja auch ein "Hollywood-Filmskript" hatte.

Wann also haben die F1-Protagonisten zum letzten Mal einen so nervenaufreibenden, packenden und spannenden Thriller gesehen? "In letzter Zeit nicht", antwortete Mario Theissen stellvertretend für das Fahrerlager. "Das letzte Chaos-Rennen von dieser Qualität war Sao Paolo vor ein paar Jahren, als nach wenigen Runden das halbe Feld im Gras stand."

Daran fühlten sich am Sonntagnachmittag fast alle erinnert. "Da ging es ebenfalls drunter und drüber", erinnerte sich Marc Surer. "Es ist immer so: Wenn Unvorhergesehenes passiert, wird die Formel 1 unberechenbar." Hans Joachim Stuck fasst für Sie zusammen, wie diese unberechenbare Königsklasse aussieht: "Das war seit langer, langer Zeit wieder einmal ein mega spannendes Rennen mit allen Facetten, Fehlern, Kämpfen und taktischen Meisterleistungen. Am Ende standen sogar drei Leute auf dem Podium, die da sonst keine Stammgäste sind - das war natürlich das Salz in der Suppe."

Rot und deutlich: Der Auslöser des Rotvergehens., Foto: Sutton
Rot und deutlich: Der Auslöser des Rotvergehens., Foto: Sutton

Weltmeisterliches Auf und Ab

Seinen Lauf nahm das Chaos am Freitag. "Das war ein sehr ungewöhnliches Wochenende für die beiden Titelanwärter", deutete Jean Todt in seinem Rückblick an, was da kommen sollte. Schon im 2. Freien Training setzte Fernando Alonso ein Negativ-Highlight: Er kassierte eine zwei Sekunden-Zeitstrafe für Überholen unter Gelb und ein unfaires Fahrmanöver gegen Robert Doornbos. Die Achterbahn nahm Fahrt auf: Das Auf und Ab der beiden Titelanwärter hatte begonnen.

Keine 24 Stunden danach wurde auch Michael Schumacher für Überholen unter Rot mit der gleichen Strafe versehen. Das Ergebnis waren Startplätze im Mittelfeld: 11 für Schumacher, gar nur 15 für Alonso. "Das verstehe ich überhaupt nicht", war Niki Lauda nach Schumachers Rotsünde sprachlos. "Dafür fehlen mir die Worte." Für Marc Surer war dies ein deutliches Zeichen dafür, dass die Nerven bei beiden Titelrivalen "blank" liegen. Allerdings hatte es auch etwas Gutes: "Wenn die Stars hinten starten müssen, wird das Rennen gut."

Mit dem Rennbeginn nahm auch die Titel-Achterbahn der Gefühle weiter an Fahrt auf. Zunächst die unglaublich guten Starts von Schumacher und Alonso, die innerhalb weniger Runden unter den Top4 mitmischten, da schien die F1-Welt noch in Ordnung zu sein. "Ich hatte einen guten Start, bin dann aber etwas versunken", sagte Schumacher. Das war wörtlich zu nehmen: Auf nasser Strecke waren die Michelin-Regenreifen ihren Pendants bei Bridgestone weit überlegen.

"Es scheint so, als ob unser Standardregenreifen etwas zu hart für diese Strecke war", gestand Hisao Suganuma. "Deshalb waren die Bridgestone-Teams zu Beginn leicht im Nachteil." Michael Schumacher hatte sogar einen starken Nachteil, der ihn sehr "enttäuschte". "Da hatte ich andere Erwartungen", sagte er. Ganz wollte man bei Bridgestone diese Schuld nicht auf die eigenen Schultern nehmen: Reifenchef Hamashima war alles andere als begeistert, dass die meisten seiner Teams seine Ratschläge mal wieder in den Wind geschlagen hatten. Die Empfehlung von Bridgestone lautete nämlich, erst einmal mit echten Regenreifen ins Rennen zu gehen, in der Erkenntnis dass es für die eigenen Intermediates wohl zu nass wäre - aber so gut wie keiner hielt sich daran. Erst gegen Rennmitte schlug die Stunde der Bridgestones: Dann kämpfte sich Schumacher mit einem überlegenen Speed durch das Feld.

Aber nicht nur die Reifen spielten zu diesem Zeitpunkt dem Deutschen in die Hände. "Antriebswelle! Antriebswelle!", schrie Fernando Alonso in sein Helmmikrofon hinein. Nach seinem zweiten Boxenstopp flog der Spanier in Runde 51 in der zweiten Kurve in die Reifenstapel. "Ich merkte schon nach dem Boxenstopp, dass etwas am Heck nicht stimmte. Irgendetwas ist gebrochen und dann habe ich mich in Kurve 2 gedreht." Später am Nachmittag war sich Alonso aber nicht mehr so sicher, was seinen Ausfall ausgelöst hat. "Irgendwelche Teile flogen vom Auto. Vielleicht war es ein Problem mit den Bremsen, vielleicht auch die Antriebswelle oder einfach ein Rad, das locker war."

De la Rosa war wieder ganz der Kämpfer von Bahrain., Foto: Sutton
De la Rosa war wieder ganz der Kämpfer von Bahrain., Foto: Sutton

Das wiederum schloss Chefingenieur Pat Symonds sofort aus. "Es ist wohl etwas an der Antriebswelle gebrochen", sagte er über das noch nicht näher identifizierte "mechanische" Problem an Alonsos R26. Die wegfliegende Radmutter war jedoch nicht die Ursache des Problems. "Sie war nicht etwa unsauber angezogen, sie ist weggeflogen, weil drinnen etwas gebrochen ist." Egal wie - Teamboss Flavio Briatore nahm die Schuld auf sich oder besser gesagt auf die Kappe des Teams: "Das war ein Fehler des Teams, leider hat er uns den Sieg gekostet."

Michael Schumacher hätte nun entspannt ins Ziel fahren und wichtige Punkte auf Alonso gutmachen können, ja wenn die Strecke nicht immer weiter abgetrocknet wäre. Dies ermöglichte seinen Konkurrenten Wechsel auf Trockenreifen. Der Deutsche blieb jedoch draußen: "Wir hatten die Wahl entweder mit den aktuellen Reifen aufs Podium zu fahren oder das Podium zu vergeben und zu wechseln." Schumacher entschied sich für das Risiko: "Wir haben uns für die aggressive Strategie entschieden. Hinterher kann man immer diskutieren, was besser gewesen wäre, aber man kennt uns nicht anders: Ohne die nötige Aggressivität würden wir jetzt gar nicht um die WM kämpfen." Er vertrat die Sichtweise: "Wo gehobelt werden, da fallen eben Späne..."

Jean Todt war sich hinterher nicht mehr so sicher, ob dies die richtige Entscheidung gewesen ist. "Wir wollten ihn nicht stören", sagte Todt. "Aber im Nachhinein kann man sagen, dass wir ihm wohl etwas hätten sagen sollen." Diese Meinung vertrat übrigens auch Hamashima, der sich auch in diesem Punkt ungehört fühlte.

"Michael ist ein bisschen selbst schuld", kritisierte Marc Surer. "Mit den abgefahrenen Reifen weiter zu fahren, war eine Entscheidung, die ich nicht ganz verstehe. Nachdem Alonso draußen war, hätte man auf Nummer sicher gehen und neue Reifen holen müssen."

Aber auch mit abbauenden Reifen wären Platz 3 oder 4 drin gewesen. "Er hätte vielleicht etwas cleverer sein können und sich aus den Zweikämpfen heraushalten sollen", sagte Hans Joachim Stuck. Auch Surer fragte sich: "Warum wehrte er sich? Wenn die anderen drei Sekunden schneller sind, hat er doch eh keine Chance. Da scheint mir der Gokart-Fahrer mit dem Michael durchgegangen zu sein..."

Nachdem ihn Pedro de la Rosa bereits in einem heißen Duell niedergerungen hatte, machte auch Nick Heidfeld kurzen Prozess mit ihm. "Beim Überholmanöver mit Nick, der logischerweise legitim angegriffen hat und an mir vorbeiging, ist sein Heck leicht ausgebrochen und mir ans Vorderrad geknallt", beschrieb Schumacher den Vorfall. "Es war nicht so heftig, aber heftig genug, um die Spurstange zu beschädigen."

Auf der Geraden kam Nick nicht vorbei., Foto: Sutton
Auf der Geraden kam Nick nicht vorbei., Foto: Sutton

Der Mönchengladbacher schilderte die Szene übrigens genau andersherum: "Ich war schon vorbei, und er ist mir völlig unnötig ins Heck gefahren. Danach war bei mir etwas an der hinteren Aufhängung beschädigt, und die Lenkung stand schräg." Ein anderer BMW Sauber-Pilot frischte die Miene der Roten einige Stunden nach Rennende noch einmal auf: Robert Kubica wurde wegen Untergewichts disqualifiziert und verschaffte Michael Schumacher somit unverhofft doch noch einen WM-Zähler. Dennoch darf man nach dem Verlauf des Rennwochenendes der beiden Titelanwärter noch immer Mario Theissens Fazit zitieren: "Für die beiden Titelkandidaten war es eine Achterbahnfahrt. Am Ende wurde die ganze Mühe mit einem 0:0 belohnt." Dank BMW ein 0:0 für Schumacher.

Das erste Mal

Bei all dem Chaos und Titelkampf darf man die strahlenden Sieger nicht vergessen - schließlich haben sie lange genug darauf gewartet und oft genug davon gesprochen. Für Jenson Button und Honda war der jeweils erste GP-Sieg aber fast schon ein undankbarer. Hätten sie jeden anderen stinknormalen, langweiligen Frankreich GP oder einen völlig ohne Zwischenfälle verlaufenen Ungarn GP gewonnen, wären sie mit ihren Debütsiegen das große Thema überhaupt gewesen - so stahlen ihnen jedoch zwei ausgefallene Piloten die Show.

Jenson Button war trotzdem hin und weg. "Wow! Was für ein Tag! Das ist so ein unglaublicher Moment für mich, und einer, auf den ich meine ganze Motorsportkarriere hin gearbeitet habe", sagte der Brite im Überschwang der positiven Emotionen.

Aber nicht nur Jenson ist froh, jetzt nie mehr die Fragen nach dem "ersten Sieg" gestellt zu bekommen. Auch bei Honda ist der große Druck jetzt erst einmal für ein paar Wochen entlüftet. "Siege nehmen immer Druck weg", gestand Nick Fry. Allerdings weiß auch er, dass man ohne die chaotischen Verhältnisse nicht unbedingt gewonnen hätte. "Dieser Sieg hatte einige außergewöhnliche Begleitumstände. Es war nass, es wurde trocken. Jenson ist im Nassen sehr gut. Das Auto war aber gut, die Mannschaft hat eine gute Arbeit gemacht, nicht eine Sache falsch gemacht und deswegen haben wir gewonnen." Denn die Konkurrenten blieben an diesem Wochenende alles andere als fehlerfrei...

Rennanalyse: Das Chaos regiert

Wie soll man so ein Rennen in wenigen Worten zusammenfassen? Vor dem Wochenende hatten alle eine weitere Prozession in der ungarischen Hitze erwartet. Umso dankbarer dürfen wir Petrus sein, dass er am Sonntagmorgen eine gründliche Streckensäuberung anordnete. Mit dem Regen ging der letzte vorhandene Grip und kam die Spannung.

Der Druck ist weg!, Foto: Sutton
Der Druck ist weg!, Foto: Sutton

Überholmanöver, Ausrutscher, Abflüge, Un- sowie Zwischenfälle, Kollisionen, dramatische Wendungen und vieles mehr machten den Ungarn GP zum wohl besten Rennen des Jahres. Oder wie Strietzel Stuck richtig sagte: Dieses Drehbuch hätte niemand besser schreiben können.

Aber wer war nach den vorzeitigen Abgängen der beiden Superstars der große Held des Rennens? "Da gibt es für mich drei", sagt Stuck. "Ich habe mich für Jenson Button gefreut, der seinen ersten GP-Sieg herausgefahren hat. Es war aber auch toll, dass Pedro de la Rosa auf das Podium gefahren ist. Last but not least: Nick Heidfeld, der ein fehlerfreies Rennen gefahren ist."

Marc Surer und Mario Theissen waren sich hingegen einig: Der Mann des Rennens war der Sieger. "Man muss Jenson Button loben", so Surer. "Er hat nicht per Zufall gewonnen, er war richtig schnell und hat im entscheidenden Moment auf Fernando Alonso aufgeholt." Wie beinahe das gesamte Fahrerlager freute sich auch Theissen mit JB. "Gleiches gilt für Honda, die in dieser Saison schon einige starke Auftritte hatten, aber auch viel Pech. Das ist nicht nur für Jenson und sein Team ein gutes Ergebnis, sondern für die gesamte Formel 1." Da tut es besonders gut, wenn selbst der Erzrivale Toyota in seinem offiziellen Press Release in Person von Teamboss Tsutomu Tomita zum ersten GP-Sieg gratuliert...

Ausblick: Neunzig zu Einhundert

Aber zurück zu den beiden gefallenen Engeln. Wer nimmt den meisten Schwung in die Sommerpause mit? Fernando Alonso und Flavio Briatore betonten vor der Disqualifikation von Kubica: "In der WM hat sich nichts verändert - außer, dass wir jetzt ein Rennen weniger zu fahren haben."

Aber damit noch nicht genug: "Wir haben auch bewiesen, dass wir zurückschlagen können", freute sich Briatore seiner Ankündigung Folge geleistet zu haben. "Wir haben hier 18 Punkte verschenkt", trauerte Pat Symonds einem möglichen Doppelsieg nach, "aber es hätte schlimmer kommen können." Die Reifen haben diesmal funktioniert. "Wir haben bei der Reifenwahl keine Fehler gemacht", sagte Alonso. "Das stimmt mich zuversichtlich, dass wir auch in den restlichen Rennen der Saison vorne sein können."

Auch nach dem Unentschieden von Ungarn führt er die WM an., Foto: Sutton
Auch nach dem Unentschieden von Ungarn führt er die WM an., Foto: Sutton

Gehen die Gelb-Blauen also als Gewinner aus dem Unentschieden von Ungarn hervor? Michael Schumacher sieht das anders. "Es sind noch fünf Rennen zu fahren", so Schumacher. "Noch ist nichts verloren und wir werden unser Bestes geben, um den WM-Titel zu gewinnen." Jean Todt fügt Ferrari-like hinzu: "Um beide WM-Titel zu gewinnen." Denn: "Es macht keinen Sinn über verschüttete Milch zu trauern." Da kann einem schon einmal eine "tolle Chance durch die Lappen" gehen.

"Man kann das auf zwei Ebenen sehen", fügte Schumacher hinzu. "Zu einem gewissen Zeitpunkt des Rennens sah es viel schlechter für uns aus - da hatten wir knappe 20 Punkte Rückstand. Dann waren es plötzlich nur noch 3. Es gab also gute und schlechte Momente, am Ende haben wir uns in der Mitte getroffen." Letztlich wurden es 10 Punkte Rückstand beim Stand von 90:100. Schumacher spornt das an: "Ich brauche jetzt keinen Urlaub, ich würde lieber gleich wieder im Auto sitzen und den nächsten Angriff starten."

Aber wie schaffen wir es, dass der Angriff in der Türkei genauso aufregend wird wie der Ungarn GP? "In Istanbul gibt es eine Bewässerungsanlage", scherzte Strietzel Stuck, "die beim nächsten Grand Prix nach dem Zufallsprinzip eingeschaltet wird." Im letzten Jahr war es auch ohne Hilfe nass.