Es gibt sie noch, die Formel-1-Rekorde, die nicht Red Bull oder Max Verstappen halten. Die meisten Pole Positions in Folge? Nein, nicht in McLarens Dominanz-Ära mit Ayrton Senna und Alain Prost aufgestellt, auch Ferrari und Michael Schumacher spielen hier keine große Rolle. Nicht einmal Mercedes' Party Mode in Verbindung mit Lewis Hamilton und Nico Rosberg konnte den inzwischen mehr als 30 Jahre alten Rekord brechen.
Tatsächlich schaffte es Williams, vom Frankreich GP 1992 bis zum Japan GP 1993 24 Rennen in Folge die erste Startposition zu besetzen. Williams, ja das war mal ein erfolgreiches Team. Erst beim Australien GP 2024 zog Red Bull in der ewigen Bestenliste bei den meisten GP-Siegen an Williams auf Rang vier vorbei. Bei den WM-Titeln liegt Williams sogar noch immer vor dem Verstappen-Team.
Mit neun Konstrukteurstiteln liegt der Rennstall aus Grove in der ewigen Wertung auf Rang zwei hinter Ferrari. Kurzum: Williams war mal wer. Jüngeren Lesern muss man das erklären. Der letzte der 114 Rennsiege liegt nämlich schon eine Weile zurück. 2012 gewann Pastor Maldonado wie durch ein Wunder den Spanien GP. Konstant konkurrenzfähig war der Rennstall zuletzt Anfang der 2000er als BMW-Werksteam. Mit dem Ausstieg der Bayern 2006 ging es aber konstant bergab.
Vowles soll Williams auf Erfolgsspur zurückführen

Nach einem kleinen Zwischenhoch zu Beginn der Turbo-Hybridära dank des Mercedes-Antriebs, ging es schließlich wieder rapide bergab. In den letzten sieben Saisons wurde Williams viermal WM-Letzter. James Vowles ist seit Anfang 2023 Williams-Teamchef. Er folgte auf Jost Capito. Der Deutsche war erst der zweite Teamchef in Grove, der nicht Williams hieß. Sir Frank Williams leitete seinen Rennstall von der Gründung im Jahr 1977 bis es ihm die Gesundheit nicht mehr erlaubte.
2013 übernahm Tochter Claire Williams das Tagesgeschäft bis der Rennstall 2020 an die New Yorker Investmentgesellschaft Dorilton Capital verkauft wurde. Mit Vowles soll nun endlich wieder der Erfolg nach Grove zurückkehren. "Als ich an meinem zweiten Arbeitstag hier durch die Tür gegangen bin, da wusste ich schon, wie schwierig es werden würde", erinnert sich Vowles.
"Wenn man bei Williams herumspaziert, dann dauert es nicht lange, bis man feststellt, wie wenig hier mit dem vergleichbar ist, was ich zuvor [als Chefstratege bei [a id="76" type="topic" linktext="Mercedes" inline="true"], d. Red.] gewohnt war. Und ich meine nicht nur Gebäude", stellt er klar. "Es geht um Prozesse und Daten." Der Brite kämpfte in seiner ersten Saison als Williams-Teamchef an vielen Fronten. Einen Kampf hat er dabei offensichtlich gewonnen: Das Finanzielle Reglement wurde angepasst.
Ab 2026 kommt eine neue Auto-Generation auf die Formel 1 zu. Warum die neuen Boliden noch schneller als die bisherigen Rennwagen sein sollen, erklärt euch Christian in folgendem Video:
Investitionen auch auf organisatorischer Seite notwendig
Seit 2021 gilt die Budgetobergrenze in der Formel 1. Das Reglement ist komplex, neben zahlreichen Ausnahmen beim operativen Budget gibt es auch noch ein Extra-Budget für die Infrastruktur. Und hier kämpfte Vowles dafür, dass Williams den Investitionsstau der letzten 20 Jahre irgendwie aufholen darf.
Die Grenze wurde nach ewigen Diskussionen angehoben, vor allem in der WM schlechter platzierte Teams dürfen nun mehr Geld ausgeben. Geld, das - wie vom Teamchef angesprochen - nicht nur für Gebäude oder Maschinen benötigt wird. Der Investitionsbedarf beginnt bei Software und Prozessoptimierung. "Es gab noch nicht einmal Daten darüber, wie viel eine Komponente kostet. Es gab auch keine Daten darüber, wie lange es dauert, eine Komponente herzustellen oder wie viele davon hergestellt werden sollen", erinnert sich Vowles.
Doch braucht es für solch fundamentale Dinge überhaupt viel Geld? Reichen dafür nicht einfach Mittel wie Excel-Tabellen, wollte das Motorsport-Magazin von Vowles wissen - und stach mit dieser Frage in ein Wespennest. "Du wirst dich freuen zu hören, dass du genau zu uns passt", antwortete er mit einer Mischung aus ein wenig Witz, Enttäuschung und viel Ernsthaftigkeit. "Das Auto war vor 12 Monaten eine Excel-Tabelle. Mit jeder Mutter und jeder Schraube, die wir für das Auto benötigen sprechen wir insgesamt von 20.000 Komponenten. Die Excel-Liste war ein Witz. Es war unmöglich, darin zu navigieren und das zu finden, was man braucht. Und dann war es unmöglich, sie zu aktualisieren. Aber genau so wurde das Auto gebaut, bevor ich zum Team kam."
Excel-Tabelle reicht nicht für die Produktion eines F1-Boliden

Vowles weiter: "Aber warum muss man Dinge anders machen? Nehmen wir zum Beispiel einen Frontflügel. Der besteht vielleicht aus 400 Einzelteilen. Wenn man einen Frontflügel baut, dann braucht man Metall- und Karbonteile. Diese Teile müssen ins System und bestellt werden. Ist ein Frontflügel wichtiger als ein vorderer Querlenker? Wo liegen die Prioritäten? Wo werden sie inspiziert? Wenn man dann hunderttausende Komponenten durch die Firma verfolgt, dann ist eine Excel-Tabelle nutzlos."
20.000 Teile pro Auto, zwei Autos, dazu alle Teile in vielfacher Ausfertigung. So kommen sechsstellige Zahlen zustande. "Du musst genau wissen, wo jede einzelne dieser Komponenten ist, wie lang es dauert, bis sie fertiggestellt ist, wann sie zur nächsten Inspektion muss, ob es bei einer Inspektion irgendwelche Probleme gab und so weiter. Wenn man dieses Level an Komplexität reinbringt - und da ist die Formel 1 heute -, dann ist eine Excel-Liste überfordert, dann sind die Menschen überfordert und genau da sind wir."
"Es gibt jetzt mehr Struktur und System in unseren Prozessen, aber wir sind noch lange nicht gut genug. Wir waren an einem Punkt, an dem man oftmals nicht wusste, wo sich eine Komponente befand. Die Leute haben oft Zeit damit vergeudet, durch die Fabrik zu gehen und ein physisches Bauteil zu suchen. Ich wünschte, das wäre ein Witz, aber das ist es nicht", sagt Vowles.
Williams verkam beim Formel-1-Wintertest 2019 zu einer Lachnummer

Ein Witz war auch der Saisonstart nicht. Dabei war es schon ein kleiner Erfolg, dass überhaupt zwei Autos in Bahrain in der Startaufstellung standen. Der Winter 2023/2024 erinnerte ein wenig an jenen von 2018/2019. Der 2019er Williams war das erste - und schließlich auch einzige - Auto, das komplett unter der technischen Führung von Paddy Lowe entstanden war. Lowe kam, wie auch Vowles, von Mercedes zu Williams. Beim Wintertest 2019 kam es zum Eklat, weil Williams die ersten Tage zuschauen musste. Man hatte schlicht noch kein Auto.
"Was uns erwischt hat, ist die pure Anzahl und Komplexität an Teilen, die man benötigt, um heutzutage ein Formel-1-Auto zu bauen", erklärte Lowe damals. "Wir hatten einfach nicht alle Teile, die wir benötigt hätten, um am ersten Tag zu fahren." Der gebürtige Kenianer sprach schon damals viel von Prozessen, die umgestellt werden müssten. Kurz nach dem Testdebakel war Lowe weg, die Probleme aber blieben. Ein halbes Jahrzehnt lang scheint sich in Grove wenig getan zu haben.
"Als das Auto in der Fabrik zusammengebaut wurde, war eine meiner größten Sorgen, dass wir etwas vergessen hatten", so Vowles. "Ich konnte kein Konstrukt sehen, dass mir das Vertrauen gegeben hätte, dass wir alles für Bahrain haben. Und tatsächlich, noch heute kommen letzte Teile an, die wir brauchen", sagte der Teamchef noch am Morgen des GP-Auftakts in Bahrain.
Vowles spürt das Vertrauen der Williams-Eigentümer

Die F1-Tauglichkeit des einst besten Rennteams der Welt wurde in Frage gestellt. 2024 wurde Vowles' Team auch nur Neunter von zehn Teams in der Konstrukteurswertung. Das Gegenteil aber ist der Fall. Vowles will aus dem Dinosaurier Williams wieder ein modernes F1-Team machen. Mit Dorilton im Rücken kann ihm das gelingen, der Brite hat die Rückendeckung der amerikanischen Eigentümer.
Claire Williams hatte die Geduld einst mit Paddy Lowe nicht. Sie kannte nur Williams, wie es bis dahin existierte. Moderne und erfolgreiche Teams kannte sie nicht, das technische Know-how fehlte ihr, das Vertrauen und die Geduld in Lowe ebenfalls. Vowles hat sich mit Pat Fry einen Technik-Chef an seine Seite geholt, der bereits reichlich Erfahrung mit großen F1-Teams hat. Nach McLaren und Ferrari arbeitete der Top-Ingenieur zuletzt bei Alpine.
Seine erste Bestandsaufnahme bei Williams sah ähnlich dramatisch aus wie die des Teamchefs: "Die Art und Weise, wie wir ein Auto machen, unterscheidet sich sehr von dem, was ich als normal bezeichnen würde. Es ist nicht besonders effizient, alles ist extrem spät dran." Dass ein F1-Team keine Zeit verschenkt, ist normal. Allerdings wird priorisiert: Die Performance-relevantesten Teile werden zum letztmöglichen Zeitpunkt in die Fertigung gegeben, um die letzten Entwicklungsschritte aus CFD und Windkanal noch berücksichtigen zu können.
"Aber bei uns war alles spät. So etwas habe ich noch nie gesehen - und so etwas will ich nicht mehr erleben." Obwohl aerodynamische Oberflächen bei Williams früher als andernorts abgesegnet werden mussten, kamen die Teile später. Das kostet Performance. "Und am Ende ist es auch nicht besonders effizient, was das Budget angeht", ärgert sich Fry.
Mehr Organisationsstruktur kann sportlichen Fortschritt bringen
Williams war die letzten beiden Jahrzehnte finanziell nicht übermäßig gut aufgestellt, aber mehr Ressourcen als Force India und Co hatte man allemal - nur hat man sie nicht so effizient genutzt. "Die Sache ist nicht, dass wir ein Problem hatten. Bei Alpine haben wir vielleicht mal einen Crashtest nicht geschafft und hatten ein Problem mit dem Chassis. Aber hier ist es einfach alles. Es ist mehr eine kulturelle Sache. Aber das Problem ist lösbar - und wir werden es lösen", stellt Fry klar.
Die katastrophalen Zustände in Grove machen Teamchef Vowles aber Mut: "Es zeigt dir, welche Möglichkeit wir hier haben. Alles, was ich beschrieben habe, macht mir überhaupt keine Sorgen. A, weil es alles lösbar ist und B, weil diese Möglichkeiten bei niemandem bestehen, der konkurrenzfähig ist. Die Chance ist nicht klein. Wir können Millionen von Pfund bei der Budgetobergrenze einsparen und Zehntel an Performance holen, nur indem wir strukturierte Prozesse haben."
Als Vowles das Team zum ersten Mal sah, wunderte er sich, dass es überhaupt auf diesem Niveau fahren konnte. Doch wann gelingt nach den Rück- oder Seitschritten endlich der Schritt nach vorne? "Kulturelle Veränderungen geschehen nicht in einer Stunde, an einem Tag oder auch über einen Winter. Bei tausend Leuten dauert das normalerweise etwa drei Jahre."
Ex-Williams-Teamchef Jost Capito förderte andere Mentalität

Vowles kann schon auf Vorarbeit von Jost Capito zurückgreifen. "Ich hatte niemanden, der zu mir gesagt hat, dass er etwas nicht macht, dass etwas falsch sei. So hat Williams vielleicht früher funktioniert, aber das war, bevor ich gekommen bin. Damals hat man Dinge so gemacht, weil man sie immer so gemacht hat. Dank meines Vorgängers gibt es diese Mentalität nicht mehr so ausgeprägt."
Die Excel-Liste aber hatte Capito überlebt. Mentalität brachte der Deutsche nach Grove, Prozesse und Strukturen nicht. Vowles ist nun Williams' eierlegende Wollmilchsau: Er muss mehr reformieren als Mentalität. Die Mentalität wird aber mehr denn je benötigt, denn die Seitenschritte gehen nicht nur bei den Ersatzteilen an die Substanz.
Anlässlich der 100. Ausgabe unseres Print-Magazins erinnern wir uns an die Highlights der letzten 15 Jahre Motorsport-Magazin. Was alles in anderthalb Jahrzehnten Formel 1, MotoGP und Co. passierte, könnt ihr euch im folgenden Video anschauen:
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